„Am Anfang waren die Frauen“
Ursprungsmythen von den Amazonen bis zur Jungfrau Maria
von Patrick J. Geary
von Renate Wiese
Patrick Geary untersucht die Diskrepanz zwischen den Frauenfiguren in
biblischen, klassischen und mittelalterlichen Mythen (wie etwa Eva,
Maria, die Amazonen oder auch Prinzessinnen) und der wirklichen Rolle
von Frauen in antiken und mittelalterlichen Gesellschaften.
Er erkundet prototypische Fälle aus dem riesigen Panorama europäischer
Überlieferung aus dieser Zeit. So berichtet er, dass die
frauenfreundliche Version der langobardischen Namensgebung auf eine
Auftragsarbeit der Langobarden-Königin Theodelinda zurückgeht, die wegen
ihrer fränkisch-bayerischen Herkunft eine Legitimationsgrundlage für
ihre Herrschaft in Norditalien schaffen musste. Zwar war die Geschichte
vom weiblichen Ursprung schon 100 Jahre später Teil der langobardischen
Tradition, aber spätere Chronisten wie Paulus Diaconus konnten damit
wenig anfangen und verbannten die Geschichte von Gambara und Frea als
lächerliches Märchen in die bedeutungslose Vorgeschichte des Volkes.
Maria die Ausnahme
Ähnlich ergeht es den Amazonen, die sowohl bei den Goten als auch bei
den Tschechen in frühen Ursprungserzählungen auftauchen, über die
Jahrhunderte aber an Bedeutung verlieren und schließlich von männlichen
Kriegern besiegt werden, damit die Welt ihre geziemende Ordnung erhält.
Besonders in den klassischen antiken Ursprungserzählungen ergeht es den
Frauen schlecht. Die Griechen, die dem Traum von einer rein väterlichen
Abstammung nachhingen, eliminieren die Frauen in ihren Ursprungsmythen
völlig, und wenn römische Frauen in den Anfängen vorkommen, leben sie
nicht lang. So wie aus Lucretias Tod die Republik entstand, bahnte
Virginias Tod dem Recht den Weg.
Einzige Ausnahme in der Reihe der verleugneten Urmütter ist die Jungfrau
Maria. In der christlichen Überlieferung ab dem zweiten Jahrhundert
betrachtete man sie zwar als einzigen menschlichen Elternteil Jesu, doch
taucht sie in keiner der Jesus-Genealogien auf, die sich in zwei
Evangelien finden; beide enden mit Joseph. Geary stellt mit Humor und
Liebe zum Detail zusammen, mit welchen teilweise abenteuerlichen
Argumentationen mittelalterliche Theologen aufwarten, um dieses
Ursprungsparadox des Christentums plausibel zu machen.
Glaubwürdigkeit
In seinem Buch möchte Patrick J. Geary die Bedingungen beleuchten,
unter denen im frühen Mittelalter Geschichten und Identitäten entstanden
sind, wie die Vergangenheit benutzt wurde, um Gegenwart und Zukunft zu
verstehen, wie Ursprünge als Bestimmung betrachtet wurden und welche
Rolle die Frauen dabei spielten.
Er beschreibt die offenkundigen Differenzen zwischen der historischen
Rolle von Frauen in den Gesellschaften der Antike und des Mittelalters
und ihrer Darstellung in Texten von zumeist geistlichen Autoren. Er
zeigt, dass die Männer in die Texte diverser Überlieferungen Frauen
hinein- oder hinaus schrieben, um mit Widersprüchlichkeiten ihrer
eigenen Lebenserfahrung fertig zu werden.
Was wir über Hexen wissen, stammte lange Zeit von den Hexenverfolgern.
Wie weit soll man also solchen Texten trauen? Der amerikanische
Historiker Patrick J. Geary erweitert diese Frage: „ Wie weit sollen wir
eigentlich Texten über Frauen folgen, wenn wir wissen, dass sie alle von
Männern geschrieben worden sind? Und zwar nicht von irgendwelchen
Männern, sondern von Geistlichen“.
Patrick J. Geary, geboren 1948, ist Professor für Mittelalterliche
Geschichte an der University of California in Berkeley
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