Zirfas: Vom Zauber der Rituale |
von Lore Wagener Prof. Dr. Jörg Zirfas schreibt im Vorwort zu seinem Buch: „Rituale bestimmen unseren Alltag, strukturieren unsere festlichen und feierlichen Anlässe und begleiten uns in Krisen und Katastrophen. …Rituale sind elementare Bausteine des individuellen, sozialen und kulturellen Lebens. Sie begleiten uns buchstäblich von der Wiege bis zur Bahre“. Das Buch versammelt 23 Essays, in denen der Autor - oft überraschend und vielfach kritisch - alle erdenklichen Situationen unseres Alltags unter dem Blickwinkel des Rituals analysiert. Es geht unter anderem um persönliche Feste und jahreszeitlich oder national bedingte Feiertage, um einfache Gesten, wie Begrüßungen und Tischsitten, aber auch um Streitkultur oder Zwangsrituale und sogar um den Frühjahrsputz. Das Buch ist kein Ratgeber in Lebensfragen. Stern Spezial beschreibt es „als unterhaltsames Fachbuch über die Entstehung und Symbolik kleiner und großer, vergessener und wieder entdeckter Rituale“. Übergangsrituale Aus der Fülle der Themen, die Prof. Zirfas anbietet, möchte ich drei Beispiele aus seinen Essays zu den Übergangsritualen auszugsweise vorstellen. Übergangsrituale leiten den Übertritt in neue Sphären des Lebens ein und werden daher aus dem alltäglichen Ablauf herausgehoben. Unser Autor äußert sich hier in vielen Facetten zu Geburt, Schulbeginn, Eintritt in die Pubertät, Hochzeit oder Tod und stellt dazu fest, dass „Anfänge ihren eigenen Zauber bergen“. Ob er dabei an Hermann Hesses „Stufen“ gedacht hat, die dazu passend wären? Hesse schrieb: “Wie jede Blüte welkt und jede Jugend Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe, Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern. Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe Bereit zum Abschied sein und Neubeginne, Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern In andre, neue Bindungen zu geben. Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben“. Der Tag der Geburt Am Anfang eines Menschen sieht Zirfas nicht die Bindung sondern die Ent-Bindung. Er schreibt: „Die erste soziale Situation … ist die Geburt, die die Mutter vom Kind „befreit“ und dieses dem Ungewissen ausliefert“. Und an anderer Stelle: „Traditionell sind Geburten mythische, soziale und vor allem rituelle Geschehnisse“. Um die Zeit der Entbindung greift von alters her ein dreiphasiges Ritualschema. Die Geburt verläuft in der Regel an einem Ort außerhalb der gewohnten Umgebung, wo auch die Umwandlung der Wöchnerin zur Mutter und die des Ungeborenen zum Kind passieren. Angliederungspraktika dienen anschließend dazu, die neuen Rollen von Vater, Mutter und Kind zu festigen. Diese Rituale sieht Zirfas mit der modernen Medizin verschwinden: „Nunmehr halten Statistiken, Risikoberechnungen und Dienstleistungsmentalitäten im Geburtsgeschehen Einzug, und die Geburt verkommt zu einem medizinischen Verwaltungsakt, der auf Risikomanagement, Kostenkalkulation und Optimierung setzt“. Die Einschulung Das nächste Übergangsritual ist die Einschulung. Für die fröhlichen Kinder mit den bunten Schultüten beginnt mit diesem Ritual der Ernst des Lebens. Die Kindheit sieht Zirfas „als die Zeit des Anfangens und der Offenheit, die Zeit für Erfahrungen, Neugier und Staunen, die Zeit der Unmittelbarkeit und der Fantasien“ …„Wenn der Ernst des Lebens nun beginnt, dann deshalb, weil es keinen Weg zurück in die Kindheit gibt. Ab jetzt ist man Schüler“. „Die Schule ist seit etwa 100 Jahren eine Pflichtveranstaltung, der man sich im Alter von sechs bis achtzehn Jahren nicht entziehen kann“. Der Pädagoge Zirfas trennt dann sarkastisch das wirkliche Leben vom schulischen Leben, das er für wirklichkeitsfremd hält, und das er mit der Geißel von Prüfungen belastet sieht. Die Schüler machten nun die Erfahrung, dass ihre Eigenzeit von anderen verplant und ihre Leistung nach vorgegebenen Normen bemessen würde, und dass die Erziehung zu Stillsitzen und Selbstdisziplin zu wichtigen Zielen von Pädagogen zählten. Pubertätsriten Der nächste Übergang ist die Pubertät, in der Jugendliche zu Erwachsenen werden. Es gibt hierfür die Rituale der Kommunion, Konfirmation oder Jugendweihe. Zirfas hinterfragt, ob in der säkularisierten Neuzeit hier nicht entscheidende Merkmale fehlen. Er schreibt: „Sie (die Rituale) weisen zwar Merkmale der traditionellen rites de passage auf, wie den Ausschluss der Nichteingeweihten, Feiern, Einkleidungen. …Andere Momente sind dagegen verloren gegangen, wie die körperlichen Folterungen, die Einführung in die Geheimnisse des Lebens oder auch die vollwertige Anerkennung als Mitglieder einer Gemeinschaft.“ Er meint weiter: „Wenn schon die Erwachsenen nicht in der Lage sind, einen geordneten Übergang zu gestalten, dann inszeniert sich die Jugend selber einen. Bungee-Jumpen, U-Bahn-Surfen, Drogenkonsum, Sprayen oder Ritzen sind von Jugendlichen selbst inszenierte Rituale, die sie in irgendeiner Weise ins Erwachsenenalter katapultieren sollen.“ - Kein erfreuliches Bild! Fazit Zirfas behandelt weniger die Formalien von Ritualen, als vielmehr die philosophischen und psychologischen Hintergründe und das sehr kritisch. Er verschafft dem Leser manch ungewöhnliche Einsicht, was die Lektüre sehr spannend macht. Ich habe mich dabei in keiner Sekunde gelangweilt. Der Text liest sich glatt, ist aber wegen der komprimierten Stofffülle auch nicht einfach. Erfreulich finde ich, dass die aktuelle Generation von jungen Wissenschaftlern wieder die tradierten Werte zu achten scheint, was ja bei manchen Vorgänger-Generationen nicht so war. Andererseits kann man auch nicht wieder in alte Traditionen zurückfallen, und Lösungsansätze sehe ich (noch) nicht. So halte ich nach dem heutigen Stand die Entbindung in einer noch so sterilen Klinik doch für bekömmlicher als archaische Stammesriten. Und die Rückkehr alter Initiationsriten erscheint ebenfalls wirklichkeitsfremd. - Zu den alten Stammesriten gibt es übrigens einen interessanten Beitrag im Web (Linkliste). Der Autor Jörg Zirfas wurde 1961 geboren. Er studierte Philosophie, Germanistik und Erziehungswissenschaften in Bonn und Berlin (FU). Von 1995 bis 2003 war er Wissenschaftlicher Mitarbeiter an einem Institut der FU Berlin. Nach Promotion und Habilitation ist er seit 2003 Akademischer Rat am Institut für Pädagogik der Universität Erlangen-Nürnberg und Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Historische Anthropologie. An der FU Berlin hat er bis 2007 im Sonderforschungsbereich „Kulturen des Performativen“ mitgewirkt. Er war an etlichen wissenschaftlichen Projekten beteiligt und hat allein oder in Zusammenarbeit mit anderen Wissenschaftlern zahlreiche Aufsätze und Bücher publiziert. Das hier betrachtete Buch „Vom Zauber der Rituale. Der Alltag und seine Regeln“ ist 2004 bei Reclam erschienen. Es wird im Internet für 8,90 € angeboten. Als Leseprobe daraus gibt es bei Reclam seinen Essay „Am Tisch“ (siehe Linkliste). Links http://www.reclam.de/detail/978-3-379-20097-4 http://www.sai-fon.de/index.php?option=com_ content&task=view&id=34&Itemid=10 |
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