Ein Roman über Rituale
                                    von Ursula Fritzle
Eine erste Wikipedia-Suche zu unserem Schwerpunktthema führte mich direkt zum Buch „Rituale" von Cees Nooteboom.

Dort erregt die Abbildung einer Raku-Teeschale Aufmerksamkeit. Auch, dass das Buch verfilmt wurde. Aber vor allem: Cees Nooteboom hat 17 Jahre pausiert, bis er diesen dritten Roman veröffentlichte. Es muss also viel Lebensweisheit darin stecken.

Das Buch macht neugierig
Meine Freundin hat das Buch für gut befunden, sie hat mir ihre Taschenbuch-Ausgabe ausgeliehen. Der pechschwarze Einband beeindruckt mit dem blutrot glänzenden, leicht erhaben geprägten Titel.

Illustration

Auf dem Vortitelblatt wirbt der Verlag mit einer Äußerung Reich-Ranickis, im Mittelpunkt des Romans stehe die Erotik. An der gleichen Stelle ist von Safranski die Rede, der meinte, dass Nooteboom mit einem narrativen Gottesbeweis liebäugle. Die drei Kapitel des Buches heißen: Intermezzo 1963, Arnold Taads 1953, Philip Taads 1973. Motti aus Werken von Stendhal, Fontane und aus dem Kanon der Heiligen Messe und am Ende des Buches Zitate aus dem „Buch vom Tee" von Kakuzo Okakura und aus E.M.Cioran, „Vom Nachteil geboren zu sein", verstärken mein Interesse.

Inni erzählt
Inni Wintrop ist der Erzähler in diesem Roman. Er handelt mit Aktien und Gemälden und erstellt Horoskope. In drei Teilen beschreibt der Autor drei Schicksale, die miteinander verwoben sind. Die Geschichte spielt zwar in drei bestimmten Jahren, sie wird aber nicht chronologisch erzählt. Im ersten Teil ist Inni 30 Jahre alt. Seine Frau Zita verlässt ihn. Er überlebt einen Selbstmordversuch. Im zweiten Teil lernt Inni Arnold Taads kennen, der 1960 bei einem Unfall in den Alpen ums Leben kommt, vermutlich durch Selbstmord. Der dritte Teil bringt eine Begegnung Inni's in Amsterdam mit Philip, dem Sohn von Arnold Taads. Philip ist vom Zen-Buddhismus fasziniert und spart sein Leben lang für eine Raku-Teeschale. Als er sie endlich besitzt, begeht er Selbstmord.

Zum Inhalt
Ich kann noch mehr von dem verraten, was auf den 230 Seiten des kleinen Taschenbuches vorkommt. Interessante Menschen sind die Akteure des Buches, wunderbare Begegnungen mit Kunsthändlern, schönen jungen Frauen, mit Athos dem Hund - der Name sicher nicht ohne Absicht gewählt und an das Männerkloster auf dem Berg Athos anspielend, ebenso Inni und Zita, deren Namen sich anlehnen an den englischen Architekten Inigo Jones und die letzte Kaiserin von Österreich. Einblicke in den Zen-Buddhismus, in Aktienkurse, viele kleine und große Rituale und Opfergaben, Teezeremonien. Wir lernen viel über die Töpferfamilie Raku, über Taads Lieblingsbuch von Kawabata, über Kakemonos, über die Kunsthändler Roozenboom und Riezenkamp. Roozenboom verachtet Geldleute, seine Nase hat eine „herzogliche Allüre". Durch den Kontakt mit Riezenkamp, der ein Spezialist für fernöstliche Kunst ist, beginnt ein umfangreicher Teil des Buches um die Begegnung mit Philip Taads, berichtet von dessen Streben nach der vollkommenen Teeschale und seinem Selbstmord.

Textbeispiele
Der erste Satz verblüfft: „An dem Tag, als Inni Wintrop Selbstmord beging, standen die Philips-Aktien auf 149,60." Keine Angst, der Suizid ist missglückt. Nooteboom schenkt uns im Verlauf der Geschichte ein Feuerwerk von Gedanken, Assoziationen und Vergleichen, die man sich gern merken möchte. Bei mir hat das nicht so ganz funktioniert, aber ich bin schon mit dem Wenigen zufrieden, an das ich mich erinnern kann. Apropos Erinnerung: der Autor schreibt dazu: Sie „ist wie ein Hund, der sich hinlegt, wo er will." Mein Erinnerungshund hat ähnliche Allüren. Über Inni wird berichtet, dass er sein eigenes Horoskop erfüllt, oder dass seine Freunde - die selbst nur in einer Welt lebten - sagen, Inni lebe in zwei Welten. Er büßt durch Nickel Geld ein, verdient welches mit Aquarellen der Den Haager Schule und mit dem Schreiben von Horoskopen und Kochrezepten. In der Nacht vor seiner Hochzeit weint er auf den Stufen des Justizpalastes. Wer jetzt nicht auf das Buch neugierig geworden ist, dem ist nicht zu helfen.

Yasunari Kawabata
Eine der Hauptpersonen, Philip Taads, leiht Inni ein Taschenbuch des Nobelpreisträgers Kawabata aus, den er sehr verehrt. Als ich den Titel „Tausend Kraniche" las,  tauchte vor meinem inneren Auge ein japanischer Tempel auf dem Buchumschlag eines meiner alten, vom Zahn der Zeit angenagten Taschenbücher auf. Ich habe es ganz unten im Bücherregal gefunden. Vor 45 Jahren hat es 2,20 DM gekostet. Jetzt verliert es ganz unästhetisch seinen Glanzfolien-Überzug. Das kann ich gut als Ergänzung lesen, allerdings fürchte ich, dass ich eher zum Nooteboomschen Stil neige. Ich erinnere mich an einen äußerst ruhigen Erzählfluss des japanischen Nobelpreisträgers.

Rituale geben Struktur
Inni beschreibt seine Erfahrungen als Messdiener, den Tod eines alten Priesters während der Messfeier, er spricht von geheimnisumwitterten altertümlichen Ritualen. Er hatte das Gefühl, tief in die Zeit zurück zu versinken. Oder: Inni besucht Arnold Taads regelmäßig. Zeiteinteilung als Ritual. Eine andere Passage des Buches beschreibt den Tod einer Taube, das Ritual im Zusammenhang damit führt zur leidenschaftlichen  Begegnung mit einer jungen Frau. Sehr intensiv wird das Thema Rituale dann im 3.Teil behandelt. Es geht um das Ritual der Teezeremonie, um eine Teeschale (chawan), keine Shino, sondern Raku. Am liebsten eine Raku von Sonyu, das ist Raku VI. So habe ich Kenntnisse über die japanische Töpferdynastie erworben. Hier spielt wieder das Lieblingsbuch von Taads eine Rolle mit der im Buch gekonnt verarbeiteten Teezeremonie. Alle erwarten von Ritualen Sinngebung im Leben.

Drei Selbstmorde?
Am Ende steckt man ganz in der Teezeremonie, man ist durcheinander, weil doch der erste Satz des Buches den Selbstmord von Inni beschreibt. Den er offensichtlich überlebte, schon deshalb, weil Nooteboom ihn zum Erzähler aller 3 Teile des Buches macht. Schließlich ist es Philip Taads, der sich nach der Zeremonie das Leben nimmt. Das Buch ist unterhaltsam, poetisch und geistreich. Gefallen haben mir der Sinn des Autors für Ironie und Skurriles, sein Erzählstil und seine Art der Rückblenden. Arnold Taads klammert sich an die immer gleiche Zeiteinteilung. Sein Sohn Philip will vollkommene Zeitlosigkeit erreichen. Ein großes Thema des Buches ist das Fehlen einer Vaterfigur. Nooteboom streut zahlreiche Anspielungen auf die griechische Mythologie und Hinweise auf Proust und sein Werk „ A la recherche du temps perdu" ein. Seine Figuren versuchen „aus dem Leben Inseln der Bedeutsamkeit herauszuheben." Rituale sollen zu einer Struktur verhelfen.

Titelinformation
Nooteboom, Cees: Rituale. Roman. Aus dem Niederländischen von Hans Herrfurth.
Frankfurt am Main: Suhrkamp. 1.Aufl. 1998. 231 Seiten, Suhrkamp Taschenbuch 2862. ISBN 3-518-39362-6

Großdruckausgabe
2007 hat der Suhrkamp-Verlag eine Großdruckausgabe herausgebracht.
ISBN 978-3-518-45931-7

Illustration

Links
Über den Autor
Zum 75. Geburtstag von Cees Nooteboom gibt es reichhaltige Informationen über Leben und Werk zum Lesen und Hören
http://www.ndrkultur.de/feuilleton/kulturnachrichten/nooteboom100.html

Interessantes über die japanische Teezeremonie bietet der Beitrag von Anne Poettgen in dieser LernCafe-Ausgabe.

Informationen zur Teekeramik im Aufsatz „Teeschale" von Jürgen Röthlingshöfer
http://www.bz.nuernberg.de/neue_medien/yuu/yuu16/yu16tee.html

 
< zurück