Die vielköpfige Hydra |
von Lore Wagener Die Autoren definieren die Sklaverei im atlantischen Raum so: „Sie begann mit Enteignung und Terror, sie traf besonders Kinder und junge Leute, sie zeichnete sich durch gewalttätige Ausbeutung aus und sie endete in den meisten Fällen mit dem Tod." Das sozialkritische Buch "Die vielköpfige Hydra" ist seit 2000 in den USA publik. Der kleine Berliner Verlag Assoziation A hat es 2008 in deutscher Übersetzung herausgegeben. Die amerikanischen Historiker Peter Linebaugh und Marcus Rediker betrachten in diesem Werk die Entstehungsgeschichte des angloamerikanischen Wirtschaftssystems, also die Zeit von Anfang des 17. bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts, etwa von der Gründung der ersten englischen Kolonien in der Neuen Welt bis zum Beginn des Dampfmaschinenzeitalters. Sie wollen die Fußnoten der herkömmlichen Geschichtsschreibung zu ihrer Hauptsache machen und haben fleißig recherchiert. Das zeigen ihre zahlreichen Primärquellen aus unterschiedlichen Bereichen des gesellschaftlichen Spektrums. Gleichwohl erklären sie, dass sie nicht alle Quellen ausgeschöpft hätten. Ihr Text wurde von Sabine Bartel behutsam ins Deutsche übersetzt. Das Buch wird im Internet zum Preis von 23 bis 28 € angeboten. Versklavung von Unterschichten Die Autoren stellen die Herausbildung des „atlantischen Kapitalismus" dar. Sie zeigen auf, dass der betrachtete Zeitraum für die Masse der Unterschichten in Großbritannien, Irland, Westafrika, in der Karibik und auf dem nordamerikanischen Festland große Umwälzungen brachte. Nach dem Sturz des englischen Königs Karl I. im Jahr 1649 waren die Dezimierung der Bevölkerung Irlands und die Kolonisierung der grünen Insel die ersten Aktionen des puritanischen Regenten Oliver Cromwell. Zur Förderung des kolonialen Aufbaus jenseits des Atlantiks ließ er neben den Iren auch arme Engländer, Schotten und Waliser als Sklaven nach Übersee verfrachten.. Später kamen die verschleppten Schwarzen aus Westafrika als „profitablere" Arbeitskräfte hinzu. Die Autoren veranschaulichen diesen Prozess an vielen Beispielen und zeigen dann auf, dass und wie sich die Betroffenen gegen ihre Zwangsinternierung und Versklavung zur Wehr setzten und auch, mit welcher Härte ihr Widerstand gebrochen wurde. Der Widerstand Die Historiker schildern das Schicksal der verarmten Massen, der Seeleute und Sklaven, der Schuldknechte, der einfachen Frauen, der enteigneten Bauern und der multi-ethnischen Arbeiter. Diese wehrten sich, wo und wann sie nur konnten, beispielsweise gegen die Presstrupps der Königlichen Marine mit Krawallen in den britischen Hafenstädten, sie wehrten sich bei diversen Aufständen in Irland, sie wehrten sich in den Kolonien mit Flucht und Sklavenrevolten, aber auch intellektuell gegen die Frauendiskriminierung und gegen Fremdbestimmung, Rassismus und soziale Ungleichheit und führten Debatten gegen die Todesstrafe. Diese in unterschiedlichen Formen immer wiederkehrenden Widerstandsbewegungen waren in den Augen der jeweiligen Obrigkeit in der Tat eine „vielköpfige Hydra", der für jeden abgeschlagenen Kopf zwei Neue wuchsen. Beispiele des Widerstands Linebaugh und Rediker haben viele Beispiele dafür gesammelt, dass sich die Menschen unabhängig von Geschlecht, Hautfarbe, Religion oder Sprache gemeinsam gegen ihre Unterdrücker zur Wehr setzten. Es gab aber kaum Erfolgsbeispiele. Meist wurden die Aufstände niedergeschlagen. Als negative Beispiele seien der Aufstand irischer Matrosen und westafrikanischer Sklaven 1741 in New York oder die Rebellion 1760 auf Jamaika genannt. Die Machthaber auf beiden Seiten des Atlantiks griffen zu grausamsten Methoden - wie Folter, Verstümmelung, öffentlicher Hinrichtung -, um den Widerstand der "schweinischen Menge" zu brechen und diese weiterhin als Sklaven und Diener zu nutzen. Um die Solidarität unter den Unterdrückten zu brechen, setzte man schließlich auf die Strategie des „teile und herrsche" und spielte die ethnischen Gruppen gegeneinander aus. Handhabung des Buches Das Buch enthält ausführliche Analysen der betrachteten Entwicklungen und liest sich streckenweise sogar recht unterhaltsam, zum Beispiel die Betrachtungen über das Piratenwesen: Es wird erklärt, dass die Piraterie für London lange Zeit kein Problem war, solange Günstlinge wie Sir Francis Drake im Auftrag der englischen Admiralität spanische Transportschiffe samt den darin befindlichen Reichtümern kaperten, dass sich diese Sicht jedoch abrupt änderte, als einfache Matrosen, die man häufig zum Dienst auf See gepresst hatte, ihrerseits mit der Piraterie begannen. Für den Leser schwierig ist, dass das Buch kein detailliertes Inhaltsverzeichnis hat. Man kann sich nur an den zehn Kapitelüberschriften orientieren, was bei einem Umfang von 427 Seiten doch ziemlich mühsam ist. Ein Stichwortverzeichnis wäre auch hilfreich, seine Aufstellung dürfte aber bei der Vielfalt an Material wohl selbst eine „Herkulesarbeit" sein. Die Autoren Peter Linebaugh wurde in Washington D.C. geboren und verbrachte einen Teil seiner Jugend und seines Studiums in London, Bonn und Karatschi. Er promovierte 1975 an der University of Warwick in Britischer Geschichte. Seit 1994 lehrt Peter Linebaugh an der University of Toledo. Er schreibt unter anderem für die linke US-Publikation Counterpunch. Marcus Rediker, geboren 1951 in Kentucky, entstammt einer Arbeiterklassenfamilie. Er schloss sein Studium an der Universität von Pennsylvania als Dr. Phil. in Geschichte ab. Heute arbeitet er als Professor und Vorsitzender des Fachbereichs Geschichte an der Universität von Pittsburgh. Er ist seit Jahren in verschiedenen sozialen und Protestbewegungen aktiv. Im angelsächsischen Raum gilt das besprochene Buch als Klassiker der neueren Labor History. Im Jahr 2001 wurde es mit dem „International Labor History Award" ausgezeichnet. Links Die vielköpfige Hydra, eine Rezension des Verlags Assoziation A Buchbesprechung in kulturA extra , der Online Publikation der TV-Sendung Panorama Kurz-Biografie von Peter Linebaugh Kurz-Biografie von Marcus Rediker Kurzfassung der Geschichte und Kultur von Jamaika .
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