von Renate Wiese
Die Megacities der Entwicklungsländer wachsen explosionsartig. In Mexiko City führen die Binnenwanderung und die Wohnsituation in der maroden Altstadt zu teils kreativen Formen des Überlebens. Wie fast in jeder lateinamerikanischen Stadt herrscht auch hier ein starkes soziales Gefälle.
Wachstumsproblematik
Vom torre latinoamericana
Die Verwaltungsgrenzen des Distrito Federal (D.F.), die noch 1950 die bewohnte Fläche von Mexiko City ausmachte, sind nicht mehr mit dem Bild der heutigen Metropole zu vergleichen. Über die Hälfte der 20 Mio. Einwohner leben im Umland, in der Zona Metropolitana del Valle de México (ZMVM).die nahtlos die Verwaltungsgrenzen überschreitet und eines der größten und bekanntesten Viertel der Stadt, den Bezirk Nezahualcoyotl, mit einschließt. Er ist größtenteils durch Spontanbau (Landnahme) entstanden.
Von 1,8 Millionen Einwohner noch 1940 quoll die Stadt auf 18 Millionen Einwohner im Jahr 2000 an. Über die Hälfte der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter ist ohne Anstellung. 4 Prozent der über 15-Jährigen sind im Jahr 2000 als Analphabeten registriert, 17 Prozent hatten keinen Volksschulabschluss (Programas de población del Distrito Federal 2001-2006). Von den Beschäftigten müssen rund 20 Prozent mit weniger als einem Mindestgehalt von USD 4,50 je Tag (Ley Laboral Mexicana) ihre ganze Familie ernähren.
Arm und Reich
Quartier’Coyoacan
Zugezogene aus ländlichen Gebieten sind besonders von der Marginalisierung betroffen, dies manifestiert sich vor allem in den Wohnverhältnissen. Die hohen Mietpreise machen für viele Familien den größten Teil der monatlichen Fixkosten aus, obwohl bereits 1,8 Prozent in Wohnungen ohne Kanalisation, 3,3 Prozent ohne Fließwasser im Haus, 0,7 Prozent ohne Elektrizität und 2,5 Prozent in Unterkünften, die auf bloßem Erdboden errichtet sind, leben. Zudem kommt bei 46 Prozent der Fälle der hohe Überbelag hinzu (Programa delegacional de desarrollo urbano de Iztapalapa, 2000).
Hauptpost
Diese Zahlen basieren auf offiziellen Statistiken, es sind Durchschnittswerte der Stadt Mexiko D.F. Es finden sich Bezirke, deren Wohlstand weit über europäische Verhältnisse hinausgeht. In anderen ist der oben genannte Anteil der Bevölkerung in schlechten Wohnverhältnissen allerdings wesentlich höher.
Grundproblem fehlender Wohnbesitz
Die Stadtregierung hat das Problem erkannt, so vergibt das Institut für Wohnungswesen Kleinkredite auch zur Aufwertung bereits bestehender Wohnungen vor allem im Zentrum der Stadt. Die zur Verfügung gestellten Sozialbauten können allerdings die stetig steigende Nachfrage nicht decken. Die Mieten der alten innerstädtischen Wohnviertel sind, trotz schlechtester Standards, sehr hoch und übersteigen das Einkommen. Viele müssen sich verschulden. Sie gelangen in eine negative Spirale (Sassen 1996). So wird die marginalisierte Bevölkerung schrittweise aus dem formalen System ausgeschlossen und in die Illegalität gedrängt. Es entstehen informelle Siedlungen abseits des legalen Immobilienmarkts, in dem sich gleichzeitig ein reichhaltiger informeller Sektor parallel zum einkommenssteuerpflichtigen Arbeitsmarkt etabliert. Diese Siedlungen entstehen über Nacht und werden, entgegen dem Eindruck, lange vorbereitet.
Umgang von Politik und Wissenschaft
Die UN hat sich in ihrer United Nations Millennium Declaration (Target 11, Goal No. 7) das Ziel gesetzt, bis zum Jahr 2020 die Wohnverhältnisse für mindestens 100 Mio. Slumbewohner (dies entspricht rund 10 Prozent der derzeitigen Bevölkerung in Slums) zu verbessern. Dennoch sind bereits in den vergangenen drei Jahren weltweit weitere 75 Mio. Slumbewohner hinzugekommen.
Bereits Winston Churchill bezeichnete Land als Notwendigkeit jeglicher menschlicher Existenz, als Grundvoraussetzung für Wohlstand und nur beschränkt verfügbares Gut und meinte daher, dass Grundbesitz von allen anderen Formen von Besitztum aufgrund seiner fundamentalen Funktionen zu unterscheiden ist (Churchill, 17. Juli 1909).
Der Ökonom Hernando de Soto (2000) sieht in der Übertragung der Liegenschaften in das Eigentum ihrer Bewohner eine Möglichkeit, diesen negativen Zirkel zu durchbrechen.
Die Landnahme
Eine Wohnform, die für die Ausdehnung der Stadt große Bedeutung hat sind die Colónias Populares, spontan entstandene Siedlungsgebiete.
Eine Gruppe schließt sich zusammen und fällt die Entscheidung zur Landnahme. Langsam werden Rücklagen von Grundkapital für den Kauf von Baumaterialien gebildet. Es werden Nachforschungen bei der Auswahl des zu besetzenden Gebiets angestellt, die Übernahme wird sorgfältig geplant; die Aufteilung künftiger Parzellen, der Bau „öffentlicher Einrichtungen" wird im Voraus festgelegt.
In einer einzigen Nacht folgt dann die Landnahme. Die Siedler besetzen das ausgewählte Gebiet, nehmen die Parzellierung vor und bauen mit einfachsten Mitteln die ersten kleinen Baracken. In wenigen Stunden hat sich das leere Feld in eine riesige Siedlung verwandelt. Die mexikanische Flagge wird gehisst und die Siedlung nach einem berühmten Politiker benannt. Dies soll bedeuten „Patriotismus" nicht „Rebellion" und soll der sofortigen Räumung durch die Polizei vorbeugen. - Der erste Schritt ist getan.
Legalisierung
Wird von den Behörden oder den Eigentümern nicht geräumt oder müssen die Siedler nicht durch ökologische widrige Umstände das meist schlechte Land wieder verlassen, wird versucht, mit den lokalen Behörden Kontakt aufzunehmen. Nicht selten tragen diese sogar ihrerseits zur Etablierung der Siedlung bei. Gelingt dies, werden gemeinsam Pläne zur Erschließung entworfen, vielleicht in Sanitäreinrichtungen investiert. Im besten Falle erfolgt als letzter Schritt der Grunderwerb der Siedler. Damit vollzieht sich der Übergang von der Illegalität zum legalen Eigentum und zum Anschluss des Gebiets an die städtische Infrastruktur.
Es ist nicht Ziel der Siedler, Land zu stehlen. Ziel ist, rechtmäßiger Eigentümer der Liegenschaft zu werden. Es wird versucht in kleinen Raten das Land abzukaufen. Der informelle Immobilienmarkt zieht bald nach der Landnahme auch ein informelles Wirtschaftssystem nach sich. „Fliegende Händler" decken die Versorgung der neuen Siedler ab.
Armut und Demokratie
Fehlende wirtschaftliche und soziale Sicherheit führt zu eigenen Verhaltensformen und Interaktionsmustern (Kersting 1996). Die „Kultur der Armut" (Lewis 1966) wurde ausschließlich mit hohen Kriminalitätsraten, Alkohol- und Drogenmissbrauch besetzt. Bewohner informeller Siedlungen würden sich weder sozial noch politisch organisieren. Heute sieht man, dass fehlende soziale Integration nicht zwangsläufig Apathie bedeuten muss, es kann in bestimmten Fällen zur Etablierung interner Organisationen führen. (Wülker 1991).
Am Südrand von Mexiko City entstand eine Reihe informeller Siedlungen, die im Zuge des Aufwertungsprozesses beispielhaft in ihrer Organisation sind. Der soziale Wohnbau konnte in der Krise der 70er Jahre die starke Zunahme der Bevölkerung durch die Land-Stadt-Migration nicht auffangen. Es leben etwa 22 Prozent der Familien in Iztapalapa, in informellen Siedlungen
Selbstschutz
Die Bewohner bewegen sich außerhalb des staatlichen Organisationssystems. Kein anarchisches, unorganisiertes Chaos herrscht, es entsteht eine Art „Staat im Staat", mit einer demokratisch gewählten Führungsebene. Obwohl die staatlichen Sicherheitssysteme nicht greifen, führt dies nicht zwangsläufig zum „Recht des Stärkeren", sondern zur Entstehung extralegaler Normen, deren Einhaltung durch die starke soziale Kontrolle gesichert wird. Der neu errungene Grundbesitz muss geschützt und aufgewertet werden, aber auch die Vision der Verbesserung motiviert zur Selbstorganisation.
Die Arbeit der Führungsebene, als Vertreter der Siedler nach außen sowie Sicherung des internen Ordnungssystems, wird von den Siedlern bezahlt. Die Aufgaben: Kontaktaufnahme mit den Behörden, um über das weitere Prozedere zur Legalisierung zu verhandeln, Aufbau der Infrastruktur, Verwaltung des Budgets für den Kauf der Parzellen und die interne Organisation der Siedlung (Aufgabenverteilung, Bewachung, Weiterbildung).
Hohe Ansprüche als Chance
Auf einer hohen sozialen Moral basiert die Legislative (kein Alkoholismus; Achtung der Ehe; liberale, emanzipierte Kindererziehung et cetera), die Gemeinschaftssinn und Nachbarschaftshilfe selbstverständlich mit einbezieht. Die Führungsebene wird respektvoll akzeptiert. Genauso wichtig ist die aktive Beteiligung jedes einzelnen Siedlers an Gemeinschaftsaktivitäten und Plenarveranstaltungen, um einen gemeinschaftlichen Zusammenhalt zu erreichen.
Bei Konflikten in der Siedlung wird die Siedlervertretung zur Schlichtung einbezogen und kann im äußersten Fall sogar zu Ausschlüssen aus der Gemeinschaft führen.
Die Anstrengung, aus dem informellen Bereich heraus bedarf größter Anstrengung, die Spirale nach unten vollzieht sich sehr schnell.
Literatur und Links
Sassen, S. (1996), Metropolen des Weltmarkts. Die neue Rolle der Global Cities, Frankfurt
De Soto, H. (2000), The Mistery of Capital, New York
Kersting, N. (1996), Urbane Armut. Überlebensstrategien in der „Dritten Welt", Verlag für Entwicklungspolitik, Saarbrücken.
Lewis, O. (1966), The Culture of Poverty, in: Scientific American
Wülker, G. (1991), Verstädterungsprozeß in der Dritten Welt, in Oplitz, P.J., ed., Grundprobleme der Entwicklungsländer, München
UN General Assembly (2000), United Nations Millennium Declaration, New York
englischerText der Declaration (Punkt 19)
Programa delegacional de desarrollo urbano de Iztapalapa, 2000.
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