Weder Mann noch Frau

                                      von Heike Jung, Gast
Das biologische Geschlecht eines Menschen ist auf verschiedenen Ebenen ablesbar, über Chromosomen, Hormone und Geschlechtsorgane. Bei einer normalen Entwicklung stimmen diese Faktoren überein, bei Intersexualität stehen sie im Widerspruch.

 

Ja, was ist es denn?
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Neugeborenes, Foto genehmigt

Artikel 3 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland enthält unter anderem. den Passus: „Niemand darf wegen seines Geschlechts, seiner Abstammung, seiner Rasse... benachteiligt oder bevorzugt werden“.
Was aber bedeutet eigentlich Geschlecht?

In unserer Gesellschaft wird bereits bei der Geburt „normiert“, d.h. binnen einer Woche muss standesamtlich eingetragen werden, ob der neue Erdenbürger männlich oder weiblich ist. Wenn jedoch aufgrund der anatomischen Ausprägung unklar ist, ob es sich um einen Jungen oder ein Mädchen handelt, wie sind dann die Modalitäten?
Seit Jahrzehnten werden so genannte intersexuelle Kinder auf den Rat der Ärzte hin chirurgisch und hormonell „korrigiert“, um ihnen ein eindeutiges Geschlecht zuzuweisen. Dabei tragen die meisten Opfer dieser Praxis massive psychische und physische Schäden davon, unter denen sie ein Leben lang leiden. (Hamburger Intersex-Studie 2007)

Intersexualität in der Öffentlichkeit
Die Medien greifen das Thema auf, wenn im Sport Rekorde erzielt werden und das Geschlecht des Athleten in Frage gestellt wird, zuletzt im Falle der männlich wirkenden südafrikanischen 800m-Läuferin und Goldmedaillengewinnerin Caster Semenya.

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Caster Semenya / Erik v. Leeuwen, genehmigt

Diese durfte nach ihrem WM-Sieg 2009 in Berlin nicht mehr starten, weil ihr Geschlecht nicht eindeutig geklärt war. Inzwischen hat man nach diversen demütigenden medizinischen Tests festgestellt, dass die Sportlerin zu den Zwittern oder Hermaphroditen gehört. Geschlecht ist nämlich nach Oliver Tolmein, Rechtsanwalt, Journalist und Regisseur des Dokumentarfilms „Das verordnete Geschlecht“, keine einheitliche Kategorie.
„Biologen und Mediziner unterscheiden psychische, phänotypische, soziale, chromosomale, hormonelle und genitale Geschlechtsmerkmale. Im Idealfall passen alle Merkmale zusammen, weitaus häufiger, als es sich die Öffentlichkeit und die Medien vorstellen, fallen die Merkmale auseinander.“


Intersexuelle Varianten
Es gibt Menschen, die einen XY-Chromosomensatz (männlich) aufweisen, aber deren Körperzellen keine Testosteronrezeptoren haben. Sie werden meist als „weiblich aussehend“ wahrgenommen und leben oft als Frauen. Die IAAF (International Association of Athletics Federations) will diesen so genannten XY-Frauen, deren Besonderheit als Androgen-Intensivitäts-Syndrom (AIS) beschrieben wird, erlauben, bei Wettkämpfen zu starten, weil sie gegenüber anderen Frauen keinen physischen Leistungsvorteil haben. Auch andere Formen von Intersexualität werden neuerdings von einem Mediziner-Team aus Endokrinologen, Gynäkologen, Humangenetikern, Psychologen, Internisten und einem Spezialisten für Gender- und Transgender-Themen begutachtet, um im Einzelfall über eine Starterlaubnis entscheiden zu können. So geschehen im Fall Caster Semenyas, die nach elf Monaten Sperre wieder laufen durfte – erneut im Berliner Olympia-Stadion!


Geschlechtsbestimmungen - sinnvoll?
Die Medizinethikerin Prof. Alice Dreger hat die gängigen Maßstäbe im Sport in einem Essay in der New York Times kritisch hinterfragt, indem sie darauf hinweist, dass Männer untereinander genauso unterschiedlich hohe Level an Androgenen haben können wie etwa intersexuelle Frauen gegenüber ihren Konkurrentinnen. Sie würden deshalb auch nicht von Wettkämpfen ausgeschlossen. Aber auch das Beispiel der indischen 800m-Läuferin Santhi Soundarajan wird zitiert, der man nach den Asienspielen 2006 die Medaille aberkannt hatte, weil sie ein Y-Chromosom hat, ein Befund, der nachgewiesenermaßen völlig unerheblich für den Sport ist. Daraufhin versuchte Santhi, sich das Leben zu nehmen.
Fazit: „Es gibt keinen wirklichen Geschlechtstest! Aber es gibt Menschen, deren Leben durch gedankenlose Funktionäre und eine sensationsgierige Öffentlichkeit zerstört werden kann“.*1)

Intersexueller Alltag
Während man im Bereich Sport aufgrund des öffentlichen Interesses umzudenken beginnt, sieht es im Normalalltag eines intersexuellen Menschen in unserer Gesellschaft ganz anders aus. Fast alle der geschätzten 40.000 bis 100.000 Betroffenen in Deutschland erfahren bereits in früher Kindheit soziale Ausgrenzung, weil sie „irgendwie anders“ sind. Es beginnt damit, dass sie ein Geheimnis um ihre Person spüren. Sie werden laufend zu Untersuchungen in die Klinik beordert und ohne ihre Zustimmung operiert, darüber dürfen sie aber nicht sprechen. Natürlich stehen auch die Eltern unter ungeheurem psychischem Druck, sich mit ihrem Kind eines Tages in ihrem Umfeld outen zu müssen.
Doch sind ihre Sprösslinge im medizinischen Sinne gar nicht krank, sondern sie entsprechen nur nicht der rein gesellschaftlich definierten „Normalität“. Die Natur hingegen bietet eine Vielfalt von geschlechtlichen Varianten an!
 
Rehabilitation von Intersexuellen
Genau diese Diskrepanz thematisieren in jüngster Zeit die Betroffenen-Verbände, deren Mitglieder auf die Straße gehen und für ihre Forderungen nach sozialer Anerkennung demonstrieren. Größter Erfolg für die Bewegung war im August 2009 der „Zwitterprozess“ der Intersexuellen Christiane Völling. Ihr wurde nach einem zweijährigen Verfahren endlich ein Schmerzensgeld in Höhe von 100.000 € zuerkannt – als finanzielle Wiedergutmachung für ihre lebenslange schwere Traumatisierung aufgrund der geschlechtlichen Zwangsoperation.
Ihr Pilotprozess gilt als Signal für alle zwangsbehandelten Zwitter, auch für die Bundesregierung. Sie muss mit gesetzgeberischen Maßnahmen auch die Grundrechte von Zwittern durchsetzen – nämlich das Recht auf körperliche Unversehrtheit, Würde und Selbstbestimmung.

Exemplarisches Einzelschicksal
Die Kirchenmusikerin Elisabeth Müller aus Schenefeld betreut in ihrer Kirchengemeinde vier Chöre, sorgt für Musik in den Gottesdiensten, gibt Konzerte und ist Gesangssolistin. Doch wenn sie als Frau Müller angeredet wird, erhebt sie Einspruch. Der Grund: Trotz ihres weiblichen Erscheinungsbildes ist Müller keine Frau, sondern ein Hermaphrodit – ein Zwitter“ *2)

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Elisabeth Müller, Foto Rainer Burmeister, genehmigt.

Sie teilt dasselbe Schicksal wie die meisten ihrer Leidensgenossen: „Ich wurde belogen, zwangsoperiert und verstümmelt.“
Vor einigen Jahren outete sie sich in ihrer Gemeinde und stieß ausnahmslos auf Mitgefühl und Verständnis. Seitdem protestiert sie, wenn der Pfarrer bei einer Hochzeit die Formel von sich gibt: “Und Gott schuf Mann und Frau“.
Dann ertönt von der Orgel her ein deutliches: “Und uns!“
Aber im großen Ganzen fühlt sich die Mitbegründerin der Selbsthilfegruppe „XY-Frauen“, die sich aktiv für die Rechte Intersexueller einsetzt, in Schenefeld als Mensch wahrgenommen und akzeptiert.

Anmerkung zu Elisabeth Müller
zum Zeitpunkt der Artikel-Abgabe erfahre ich, dass Elisabeth Müller gekündigt wurde und sie ihre Stelle als Kantorin Ende Oktober 2010 aufgeben muss,  gegen den Willen der Gemeindemitglieder.

Zitate und Quellen

1
*) http://www.freitag.de/datenbank/freitag/2009/35/caster-semenya-geschlecht-hermaphrodit
2*)
http://www.abendblatt.de/region/pinneberg/article1107250/Ich-wurde-belogen-und-verstuemmelt.html

Literatur:
Claudia Lang: Intersexualität - Menschen zwischen den Geschlechtern,
Campus Verlag 2006

Ulla Fröhling: Leben zwischen den Geschlechtern. Intersexualität – Erfahrungen in einem Tabu-Bereich, Ch. Links Verlag 2003

Links

Filme zur Intersexualität
Das verordnete Geschlecht, Dokumentarfilm über Zwitter und Körperpolitik,
Filmbeschreibung

Tabu Intersexualität – Menschen zwischen den Geschlechtern, Dokumentation auf ARTE am 18.10. und 16.10.2010, Filmbeschreibung

Das dritte Geschlecht,
Trailer

Das dritte Geschlecht,
Youtube, verfügbar in fünf Teilen


Online – Artikel zur Intersexualität:
Ihre Tochter ist ein Sohn, DER SPIEGEL  45/2002,


Und Gott schuf das dritte Geschlecht, DER SPIEGEL 47/2007

Der Fall Caster Semenya,
taz 22.08.2010:

Intersexuellen-Demonstration
Schweizer Tagesschau vom 06.07.2008, in:

Zwitter Elisabeth Müller
Deutschlandradio Kultur , 20.03.2006, Interview


 
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