D. Kehlmann: Die Vermessung der Welt

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Erna
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D. Kehlmann: Die Vermessung der Welt

Beitrag von Erna »

Erste Eindrücke
Gerade haben wir den Chat über die ersten Eindrücke beendet, da stelle ich fest, dass der Strang schon im Forum ist und wir unsere Eindrücke hineinschreiben können.
Ich finde das Buch sehr spannend geschrieben. Beim Chatten habe ich gelernt, dass es zu der Kategorie Wissenschaftserzählung gehört. Der Aufbau ist spannend, denn es fängt mit dem Zusammentreffen der beiden Wissenschaftler bei einem Kongress in Berlin an und hört auch mit diesem auf, wobei noch ein Kapitel über die Überfahrt des so sehr von Gauss missachteten Sohnes nach Amerika angefügt ist.
Beide, Humboldt und Gauss, haben sicher sehr viele Verdienste um die Wissenschaft, menschlich kann man sie jedoch nicht als Vorbild nehmen. Beide sind egozentristisch. Es stellt sich mir die Frage, ob es reicht auf einem Gebiet Genie zu sein.
Erna
Heide

Die Vermessung der Welt

Beitrag von Heide »

Liebe Erna,
soeben komme ich aus dem Englischen Theater; ich kann das gerade angelaufene Stück "The Syringa Tree" sehr empfehlen. Es wird nur von einer Person, Shannon Koob, gespielt, aber sehr eindrucksvoll - mein Mann und ich sind überwältigt.
Zu Deiner Frage möchte ich sagen: Man kann es sich nicht aussuchen, ob man auf einem Feld genial begabt ist oder nicht. Und ein Genie hat - meiner Meinung nach fast zwangsläufig - arge Defizite in anderen Bereichen. Bei Humboldt z.B. wird alles seiner Wissenschaft und seinem Vermessungswahn untergeordnet. Manches davon fand ich auch ganz schrecklich. Die miese Behandlung, die Gauß seinem Sohn Eugen angedeihen läßt oder Humboldts - "unmenschliche" möchte ich fast sagen - Erforschung des Jagdverhaltens von Krokodilen habe ich nicht gerne gelesen. Aber es ist ein Roman und deshalb nicht authentisch. Kehlmanns Idee, das spinnerte Verhalten von zwei außergewöhnlichen Menschen romanhaft darzustellen, finde ich schon spannend. Auch im richtigen Leben, das ja meistens nur Mittelmaß ist, ist nicht alles schön und erfreulich darstellbar. Insgesamt habe ich das Buch mit großem Vergnügen gelesen, und im Kapitel "Der Berg" habe ich Tränen gelacht.
Ich bin gespannt, welche Meinungen noch kundgetan werden.
Bis demnächst, herzliche Grüße von Heide
Marlis

Beitrag von Marlis »

Liebe Heide,

nachdem ich Deinen Beitrag gelesen hatte, wollte ich wissen, was am Kapitel "Der Berg " so lustig ist. Ich habe dann das Kapitel beklommen gelesen, denn die beiden Forscher sind ja wahnsinnig und haben Glück, das Abenteuer überhaupt zu überleben.

Aber dieses Kapitel ist sehr interessant, da hast Du recht: Man kann gut erkennen, wie der Autor arbeitet. Er hat einen ausgeprägten Sinn für das Komische, das Skurrile, machmal auch für das Makabre. Das macht seinen Roman ja so spannend. Der Leser kann nichts erraten, es läuft alles außerplanmäßig ab, er walzt auch nichts aus. Man kann das Buch ruhig ein zweites Mal in die Hand nehmen und es mit Vergnügen lesen.
Erna
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Gauß und Humboldt

Beitrag von Erna »

Der Roman von Daniel Kehlmann ist für mich deswegen so spannend, weil er nicht nur zwei große Gelehrte vereint, die auch tatsächlich miteinander korrespondierten, sondern weil beide aus unterschiedlichen sozialen Verhältnissen kamen und auch ihr späteres Leben völlig unterschiedlich verlief. Durch die nicht gerade vorteilhafte Schilderung von Gauß, was seinen Umgang mit Frauen und Kindern betrifft, angeregt, habe ich mich über sein und Humboldts Leben informiert.

Johann Carl Friedrich Gauß
wurde am 30.4.1777 in Braunschweig geboren und starb am 23.2.1855 in Göttingen.
Aus seiner Biografie geht hervor, dass Gauß mit seiner Frau Minna eine glückliche Ehe führte. (Nicht wie D. Kehlmann schreibt, dass er sie hasste.) Er hatte insgesamt 5 Kinder, das dritte Kind seiner Frau Johanna, die bei dieer Geburt starb, wurde nur 6 Monate alt. Mit seiner zweiten Frau Minna hatte er wieder drei Kinder, deren erstes, der im Buch erwähnte Eugen war.
Er war vor allem Mathematiker, hatte aber vielerlei Interessen. So interessierte ihn auch die Astronomie, Geodäsie und die Physik. Im Alter beschäftigte er sich mit Literatur und Statistiken.
Gauß war der einzige Sohn einer Dienstmagd und eines armen Steinmetzes. Seine außerordentliche mathematische Begabung wurde nur von außen, durch seine Lehrer und später durch den Herzog von Braunschweig gefördert.
Er war ein zutiefst religiöser und konservativer Mann.

Alexander von Humboldt
war das zweite Kind einer preußischen Offiziers Familie, geboren am 14.9.1769 in Berlin. Er starb am 10.5.1859 in Berlin. Nach dem Tod des Vaters richtete die Mutter ihre ganze Kraft auf eine ausgezeichnete Erziehung ihrer Söhne. Nach einigen Jahren im Staatsdienst bereitete er aus eigenen Mitteln die Expedition nach Amerika vor, die bis 1804 dauerte. Mit seinem Reisegefährten Bonpland richtete er sein Augenmerk auf „das Zusammenwirken der Kräfte...die belebte Tier- und Pflanzenwelt..“
Durch diese Reise und die Drucklegung der Ergebnisse wurde sein Vermögen aufgebraucht.
Der preußische König setzte ihm eine Pension von 2500 Talern aus. 1829 bekam er vom Zaren einen Forschungsauftrag für Russland.
Im Gegensatz zu Gauß war Humboldt nicht verheiratet. Er musste sich nicht ständig darum bemühen Geld für das Leben seiner Familie zu beschaffen.
Horst Glameyer
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Die Vermessung der Welt

Beitrag von Horst Glameyer »

Dem Autor ist es gelungen, auf humorvolle Weise seine gewiss sehr ausführlichen Recherchen über Leben und Wirken der völlig unterschiedlich arbeitenden Forscher C.F. Gauß und A. von Humboldt mit seinen Vorstellungen von ihren fiktiven Gesprächen und eigenwilligen Verhaltensweisen nahtlos zu verbinden. Um die Spannung aufrecht zu erhalten, weicht er im fiktiven Bereich deutlich von der biografischen Wirklichkeit des Mathematikers Gauß ab, wie sie uns Erna dankenswerter Weise mitteilt. Natürlich kann auch die Biografie mit Rücksicht auf das Ansehen des berühmten Professors ein wenig geschönt worden sein.

Manches an der romanhaften Darstellung ist erheiternd, anderes weniger erfreulich. Wie viele Wissenschaftler und Forscher sind diese beiden Männer sehr ehrgeizig. Sie verfolgen ihr Ziel mit großer Ausdauer und nicht selten mit rücksichtsloser Beharrlichkeit (A. von Humboldt), die fast schon an Besessenheit grenzt. Seine Zwiespältigkeit zeigt sich in dem Verhältnis zu „seinem“ Hund und den Hunden, die er im Interesse der Forschung den Krokodilen zum Fraß vorwirft. Auch wenn dieses Ereignis fiktiv sein sollte, charakterisiert es das Verhalten mancher bedeutenden Forscher, die sich in der Vergangenheit nicht scheuten, über Leichen zu gehen, um gefährliche Krankheitserreger zum Wohle vieler zu entdecken und zu bekämpfen. Der Zweck rechtfertigte in ihren Augen die Mittel, vor allem wenn die Opfer als minderwertig betrachtet wurden.
Erna
Beiträge: 878
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Beitrag von Erna »

Kehlmanns Buch ist ein Roman und daher muss der Autor nicht nur Tatsachen berichten, sondern auch Ereignisse beschreiben, die zwar möglich sein könnten, aber es nicht zu sein brauchen. Davon gibt es einige bei Humboldt. Bei Gauss aber hat er m.A. das Verhalten zu seiner Familie anders beschrieben, als es der Biographie nach war. Darf er das, oder besser, warum hat er dies getan? Gauss wird so zu einem egozentrischen Menschen. Das war der Grund, dass ich in den Biographien nachschaute.
Erna
ursel

Gauss und Humboldt

Beitrag von ursel »

Liebe Vorposter,

zur Frage historisch oder nicht, verfremdet, manipuliert, übertrieben, ich glaube, der Autor hat das Buch mit großem Vergnügen geschrieben, er sagt einmal, er habe viel gelacht beim Schreiben, also kann man annehmen, er wollte kein wissenschaftliches Buch über 2 Wissenschaftler schreiben. Aber auch mich interessiert neben der Buchlektüre die historische Wahrheit über die Protagonisten. Und gerade das ist in meinen Augen das Verdienst Kehlmanns. Er regt meinen Wissensdurst an, ich will mich informieren: wie sieht man Leben und Arbeit der beiden heute? Und ich gestehe, weder Gauss noch A.v.H. gehörten bisher zu meinen Forschungsobjekten.
Zu Ernas Frage: in einem sehr lesenswerten Interview (Spiegel 49/2005, S. 174 – 178) äußert sich Kehlmann auf die Frage, ob sich die Gauß-Gesellschaft schon bei ihm beschwert habe, er sei überglücklich über deren Humor und Verständnis. Im Gegensatz dazu seien viele Humboldt-Kenner teilweise richtig beleidigt. Er erklärt sich das mit dem fehlenden Pathos der Mathematiker und dem pathetischen Bild der Humboldt-Anhänger vom großen Weltreisenden und makellosen Deutschen

Ursel
ursel

Vermessung der Welt

Beitrag von ursel »

Meine Erstleseeindrücke
haben sich nach der Lektüre der ersten Kapitel von Witz und Skurrilität manchmal auch in ein bedrückendes Unbehagen verwandelt. Ca. in der Hälfte des Buches angekommen, überkommt mich das Gefühl, an der Mühsal und den widrigen Bedingungen im Leben der beiden Wissenschaftler zu leiden. Heute habe ich allerdings ein Bild gefunden: Humboldt, Bonpland und Hund am Fuße des Chimborazo, das sieht nicht so gefährlich und mühselig aus.
http://commons.wikimedia.org/wiki/Alexa ... n_Humboldt
Auf der Seite sind noch weitere Bilder, A.v.H. sieht keineswegs wie ein kauziges Männchen aus.
Schon vor Lesebeginn habe ich den Humor des Autors genossen in einem Real Video über die Buchvorstellung Okt. 2005 auf dieser Seite
http://www.3sat.de/ard/buehler/89216/index.html
Natürlich schildert er ebenso Probleme. Neben den wissenschaftlichen auch die im menschlichen Bereich der beiden Protagonisten. Das heißt, er lässt uns lächeln, staunen, verblüfft und manchmal sogar unangenehm berührt sein. Schwierig festzustellen, welche der geschilderten Situationen auf historischen Wahrheiten beruhen. Der Autor mischt das sehr gekonnt. Ob Schiller bei dem Treffen der Klassiker in Weimar wirklich bei Wilhelm v. H. auf dessen Sofa saß und verstohlen gähnte? Gauß betreffend hat uns Erna ja bereits informiert. Ob die Schilderung des Todeskampfes der Mutter Humboldts auf Wahrheit beruht? Hat Napoleon wegen Gauß auf den Beschuß von Göttingen verzichtet? Haben die beiden Protagonisten wirklich alle die beschriebenen Begegnungen mit den Philosophen und Wissenschaftlern ihrer Zeit erlebt? Wenn man Gewissheit haben will, empfiehlt sich ein intensives Studium von Sekundärquellen. Aber Kehlmann hat ja auch nur einen R o m a n über Leben, Arbeit und Abenteuer von 2 historischen Figuren geschrieben, der Klappentext nennt das: einen philosophischen Abenteuerroman. Das heißt auch, Kehlmann kann Neugier verursachen: Wann hat er ein wenig die Ereignisse um seine Personen manipuliert und wann nicht. Ich könnte jetzt ein ganzes Potpourri von Fakten und Personen recherchieren:
Gauß â€“ Humboldt - Turnvater Jahn – Bonpland – Forster – Ehepaar Herz – Wildenow – Lichtenberg – Kästner – Kant (den Gauß mit Sicherheit nicht besucht hat) – Aguirre – La mettrie – Galvani ...
Jedenfalls sind Kehlmanns Stilmittel beeindruckend:
Er schildert komplexe Sachverhalte wunderbar kurz. Er arbeitet auch mit inhaltlichen Brüchen. Oft beginnt einfach ein neuer Absatz, in dem er es aber schafft, anzudeuten, was da ausgelassen wurde. Der Autor überrascht immer wieder mit neuen Pointen. Und das in knappster Form. In vielen Rezensionen wird die Verwendung der indirekten Rede als besonderer Kunstgriff erwähnt. Er überspitzt und kehrt um, er stellt Bezüge her zur Zukunft, er lässt die Hauptpersonen gern auch falsche Prognosen formulieren.

Und jetzt bin ich gespannt, was in der zweiten Hälfte des Buches passiert und wie die Diskussion hier weiter verläuft.
Erna
Beiträge: 878
Registriert: Freitag 1. April 2005, 10:47

Beitrag von Erna »

Danke für Deine Beiträge Ursel! Ich habe mich noch einmal köstlich amüsiert über die Sandflöhe, im Beitrag von sat3, und den angeblichen Ausspruch von Humboldt, dass man Menschen, die unter Sandflöhen unter den Zehennägeln litten nicht für seriös halten würde. Ich hatte mal diese kleinen Biester im Umschlag meiner Söckchen, aber vielleicht waren das auch keine Sandflöhe!
Erna
Winfried

Beitrag von Winfried »

Während des Lesens im ganzen Buch ging mir immer wieder ein Absatz im ersten Kapitel "Die Reise" nicht aus dem Kopf.
"Seltsam sei es und ungerecht, sagte Gauß, so recht ein Beispiel für die erbärmliche Zufälligkeit der Existenz, dass man in einer bestimmten Zeit geboren und ihr verhaftet sei, ob man wolle oder nicht. Es verschaffe einem einen unziemlichen Vorteil vor der Vergangenheit und mache einen zum Clown der Zukunft."
Diese Aussage ist zeitlos und passt gestern, heute und auch morgen. Auf mein eigenes Leben bezogen, konnte Gauß es nicht besser sagen.
Zum Roman selbst denke ich, er regt an, sich mit beiden Hauptpersonen zu beschäftigen. Ich empfinde es jedoch als ungehörig, bekannten historischen Persönlichkeiten Eigenschaften und Verhaltensweisen anzudichten, die nicht nachgewiesen sind. Wenn ich das will, dann muss ich m. E. in der Person anonym bleiben.
Viele Grüße
Winfried
HildegardN

Beitrag von HildegardN »

Infolge meines Urlaubs bin ich etwas im Verzug und habe noch eine tüchtige Wegstrecke in Daniel Kehlmann's "Die Vermessung der Welt" zurückzulegen.
Als ich zu lesen begann, beeindruckte mich besonders Humboldts Antwort auf die Frage seines Forschungskollegen Bonpland "wozu eine Statistik über Läuse gut sei". "Man wolle wissen", antwortete Humboldt, "weil man wissen wolle". Dies war es, was mich bewog, mich mit diesem Buch zu befassen. Zwar bin ich kein Forscher und auch nicht an einer Statistik über Läuse interessiert, aber es interessiert mich zu erfahren, was Forscher wie Humboldt und Gauß bewegt, wie und unter welchen Voraussetzungen und Bedingungen sie ihre Ziele ansteuern und erreichen.
Zwei unterschiedliche Forscher, deren Herkunft und Entwicklung stark voneinander abweichen, werden hier beschrieben. "Es verbindet sie das Wissen wollen", schreibt David Kehlmann, und dies auf ganz unterschiedlichen Wegen. Ist es nicht das, so meine ich, was uns im Leserkreis und weiterhin u.a. bei ViLE und auch bei SOR miteinander verbindet und darüber hinaus auch zum Tätigwerden motiviert?
Die immer wieder auftauchende Frage: "Was ist in dem Roman Erfindung und was historische Wahrheit?" fordert auch eigene Recherche heraus, wie vorhergehende Lesebeiträge schon bestätigen. Insofern sehe ich Daniel Kehlmann's "Vermessung der Welt" auch als eine Anregung zum eigenen Aktivwerden im Sinne des Lebenslangen Lernens.
Soweit meine ersten Eindrücke - die ich sehr bald erweitern oder auch hinterfragen werde.
Marlis

Der Roman

Beitrag von Marlis »

Es erging mir zwar auch so, dass Kehlmann mein Interesse an den beiden genialen Persönlichkeiten weckte. Und wie sehr haben sie das verdient! Aber auch der Roman hat mich als solcher fasziniert. Der junge Autor mag sich nicht restlos an die Überlieferung gehalten haben, aber er hat zwei hoch interessante Persönlichkeiten geschaffen und lässt sie mit Witz agieren und sprechen in ihrem damaligen Umfeld. Auch über dieses Umfeld und seine Denkmuster erfährt der Leser Einleuchtendes.

Völlig überrascht hat es mich, dass man die indirekte Rede einen ganzen Roman lang durchhalten kann, ohne dass es langweilig wird.

Grüße von der Bergstraße, Marlis
Horst Glameyer
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Dicherische Freiheit

Beitrag von Horst Glameyer »

Im Roman verleiht der Autor dem Mathematiker Gauß abweichend von dessen Biografie egozentrische Züge. Erna fragt: „Darf er das, oder besser, warum hat er dies getan?“
Es gehört zur dichterischen Freiheit, Menschen so darzustellen, wie es dem Autor beliebt, und sei es nur, um nach seiner Ansicht in diesem Fall auf gewisse charakterliche Ähnlichkeiten der beiden Forscher hinzuweisen. Da Gauß aber keine fiktive Gestalt, sondern eine historische Persönlichkeit ist, erscheint mir diese Art der Darstellung, ohne dessen wissenschaftliche Verdienste zu schmälern, dennoch problematisch, weil sie sich bei Lesern, welche die Biografie nicht kennen, einprägen wird.
Die Wirkung solcher Veränderungen aus dichterischer Freiheit sollte nicht unterschätzt werden. So nahm sich bekanntlich Friedrich Schiller in seinem Drama „Maria Stuart“ die Freiheit, eine Begegnung zwischen Königin Elisabeth und Maria Stuart so glaubhaft zu schildern, obwohl sie niemals stattgefunden hat, dass manche Zuschauer und Leser sie für historisch halten.
Horst
Erna
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Beitrag von Erna »

Lieber Horst,
genau das, was Du bei Schiller anführst, glaube ich, wird auch bei Gauß geschehen, denn ich habe bei einer Biographie einen Hinweis auf das Buch von Kehlmann gefunden. Und es ist doch für mich eine bedeutende Veränderung, wenn ich aus einem guten Ehemann einen Egozentriker mache.
Erna
ursel

dichterische Freiheit

Beitrag von ursel »

Liebe Gegner und Befürworter der dichterischen Freiheit,

ich habe kräftig nachgedacht: was wäre zum Beispiel, wenn es nur noch wissenschaftliche Dokumentationen oder Tatsachenberichte gäbe? Darf man sich nur noch erinnern oder auch ein bisschen was erfinden? Sind Adaptionen, Erdichtungen und Erfindungen und bewusst falsche Annahmen als literarisches und wissenschaftliches Hilfsmittel verboten? Wie eng sind die Grenzen der dichterischen Freiheit? Gefallen uns nicht auch die nach historischen Vorlagen bearbeiteten Bücher, Filme und Kunstwerke? Und ein wenig Interpretation darf doch sein? Hätten wir unbekannte Wissenschaftler auch so schnell ins Herz geschlossen? Wenn ich wählen müsste zwischen einem hochwissenschaftlichen, trockenen und langweiligen Text und dem Buch von Kehlmann, dann gewinnt Kehlmann.
Der Ausspruch von Gauß, mit dem sich Winfried so gut identifizieren kann, vielleicht ist er von Daniel Kehlmann? Damit will ich sagen : es ist einfach ein guter Satz. Ich denke, da ist es nicht so wichtig, ob er historisch belegt werden kann oder nicht. Ganz nebenbei: ich habe keine Ahnung, von wem er ist.
Natürlich kann ich auch die Argumente von Erna betr. der Kehlmannschen Schilderung "seines Gauss" verstehen. Vielleicht kommt es sehr darauf an, wie weit die Abweichungen gehen. (Welche Biographie hast Du gelesen, Erna? ) Und was Horst betr. Maria Stuart schreibt, finde ich auch zutreffend.

Zur Stärkung des historischen Gauss kann ich diese beiden links wärmstens empfehlen:
Biographie Gauss
http://webdoc.sub.gwdg.de/ebook/e/2005/ ... raphie.htm
(20.06.2006)
Hier kann man einen Super-Ausstellungskatalog der UB Göttingen anschauen oder herunterladen (pdf, 320 Seiten) Titel: "Wie der Blitz einschlägt, hat sich das Räthsel gelöst" Carl Friedrich Gauss in Göttingen
http://webdoc.sub.gwdg.de/ebook/e/2005/ ... tmenue.htm
(20.06.2006)

Ursel
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