Die vergessene Generation-Kriegskinder brechen ihr Schweigen

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Erna
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Beitrag von Erna »

Wahrscheinlich sind wir doch alle Täterkinder, denn es gibt doch Menschen oder Regierungen, die uns ob unsere Staatszugehörigkeit dazu zählen. Ich habe eben den Anfang einer Gesprächsrunde bei Poenix gesehen und habe dann umgeschaltet. Ich konnte es einfach nicht ertragen, wie undifferenziert, zumindestens am Anfang, von den polnischen Teilnehmern darüber geredet wurde.
Erna
HildegardN
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Traumata und Langzeitfolgen der Kriegsereignisse

Beitrag von HildegardN »

Die Frage, ob Traumata und Langzeitfolgen der Kriegsereignisse heute noch feststellbar sind, kann ich nicht beantworten. Dass sie jedoch die Kriegskinder lange Zeit und vielleicht auch ein Leben lang, beeinflussen und belasten können, ist nicht nur vorstellbar, sondern leider auch Realität. Das beweisen die entsprechenden Interviews der Autorin.

Ich erinnere mich an eine Begegnung vor etwa 20 Jahren. An einer Busreise in das ehemalige Ostpreußen, die mich in meine ehemalige Heimat führte, nahm ein Ehepaar teil, das mir auffiel, weil der Ehemann oft völlig teilnahmslos und "in-sich-gekehrt" wirkte. Wie ich im Laufe von Gesprächen mit der sehr aktiven und bemühten Ehefrau - einer Studienrätin - erfuhr, war der Ehemann als Kind mit der Mutter aus Ostpreußen geflüchtet. Während sie auf der Flucht in einer Scheune übernachteten, wurden sie von der sowjetischen Armee eingeholt. Die Mutter wurde im Beisein des kleinen Jungen vergewaltigt, u.a. wurden ihr auch die Zähne ausgebrochen. Ob sie überlebt hat, weiß ich nicht mehr. Doch das Kind überlebte, war jedoch noch nach etwa vier Jahrzehnten von seinen Kriegserlebnissen gezeichnet und litt unter seinen Erinnerungen. Ob er sie je würde vergessen bzw. überwinden können, diese Frage habe ich mir damals gestellt - die Antwort blieb und bleibt offen.
Brigitte Höfer
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Täterkinder

Beitrag von Brigitte Höfer »

Was mir an Sabine Bodes Darstellung so gefällt, ist, dass sie Ettikettierungen vermeidet und vor allem persönliche Aussagen macht: in diesem Fall macht sie die Aussage, dass viele von uns sich andere Eltern gewünscht hätten. Ebenso andere Lehrer oder Professoren. Andere Politiker. Ein wärmeres Leben. Wir sind doch in der Kälte und Erstarrtheit der Nachkriegszeit groß geworden, und das hat uns geprägt und dagegen haben wir uns 1968 zu wehren versucht. Ob wir uns als Täterkinder bezeichnen, hängt davon ab, was unsere Eltern getan haben, und ob wir uns damit identifizieren.

Was Harald Müller schreibt, trifft auch auf mich zu:

"Ich habe mich von einem Sachbuch selten so angesprochen gefühlt. Fast in jedem Absatz habe ich mich wiedergefunden. Zusammenfassend könnte ich sagen: Ich habe eine Identität erhalten, die ich so bisher nicht hatte, und ich fühle mich enorm entlastet. Ganz unvermittelt scheine ich einen riesigen Schub Lebensenergie und gleichzeitig Gelassenheit bekommen zu haben. Vieles von dem, was ich in verschiedenen Zusammenhängen seit Jahrzehnten angesprochen habe, was andere aber nie verstanden haben oder verstehen wollten oder was sie so gleichgültig ließ, als wären es nur Hirngespinste, ist wahr! Ich finde in dem Buch von Sabine Bode bestätigt, dass ich nicht falsch gelegen habe und dass es außer mir fast einer ganzen Generation ähnlich ergangen ist. Ich bin nicht allein mit meinen Gedanken und Gefühlen! Ich habe den Eindruck, dass sich noch einmal ganz neue Lebensräume öffnen könnten, obwohl ich inzwischen 66 Jahre alt bin und vor Kurzem aus dem Berufsleben ausgeschieden bin."

Auch ich habe das Gefühl, dass Sabine Bode mir sozusagen aus dem Herzen spricht, will heißen, dass darin viele Dinge verborgen waren, die noch keine Sprache gefunden haben, aber dieser bedürfen, um endlich herauszukommen und ihren Belastungscharakter zu verlieren.

Sabine Bode macht etwas, was in unserer Wissensgesellschaft viel zu selten praktiziert wird: sie stellt intelligente Fragen, anstatt ständig intelligente Antworten zu geben. Die Antwort muss jeder für sich finden. Zum Beispiel die Antwort auf die Frage: woher kommt meine Lebensangst? Und wenn ich die beantwortet habe, kann ich mich auch auf die Suche begeben nach der Frage: woher kommt die Lebensangst meiner Eltern? Und das wiederum finde ich ein ungeheuer spannendes Thema. Dann kann ich auch das Gewebe der Geschichte erkennen, das in mein Leben hineinwirkt.

Anhand der Kenntnisse, die ich über meine Vorfahren habe, beginnt um 1880 ein grundsätzlicher Wandel in den Lebensgewohnheiten. Die so genannte Moderne mit ihrer Frage "Was kann man glauben?" - Nihilismus, Materialismus, Kolonialismus, Nationalismus - entfernte die Menschen von ihren Orten, Ritualen und Traditionen.

Mit der Vernichtung des Teiles der Bevölkerung, die trotz der Moderne mehrheitlich an ihren Ritualen und Traditionen festhielten - der jüdischen Bevölkerung - war der Raum frei für die Massenrituale der Nazis und die Tradition der Unkultur - sprich Intellektuellen- und Religionsfeindlichkeit.

Na gut. Wenn Sabine Bode sagt, dass ich zu einer vergessenen Generation gehöre, deren Schicksal nicht erforscht wurde, dann werde ich mich halt mal an die Arbeit machen.
Erna
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Beitrag von Erna »

Warum, Brigitte, hälst Du das Leben nach dem Krieg für ein kaltes Leben?Wenn ich zurück denke, dann war das Leben nach dem 2. Weltkrieg viel wärmer als heute! Erst einmal war man dankbar, dass man überlebt hatte und dann, dass man wieder zusammen sein konnte. Die Väter und Mütter hatten nicht zunächst nicht das Bestreben, dass sie sich "selbst verwirklichen" müssen. Die Mütter sahen auch nicht die berufliche Arbeit als das Wichtigste an, obwohl auch da schon viele berufstätig waren. Das eine was mir dabei nicht gefiel, war, dass den Frauen dabei immer ein schlechtes Gewissen gemacht wurde. Wobei ich nicht verallgemeinern will.
Es gab immer die eine und die andere Seite.
Nur glaube ich, dass heute der beruflichen Arbeit ein zu großer Stellenwert beigemessen wird. Das hat alles nur indirekt mit dem Buch zu tun. Ich könnte mir aber vorstellen, dass die Folgen heute noch ernster wären, als sie es sowieso schon war.
Erna
Brigitte Höfer
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Die Kälte nach dem Krieg

Beitrag von Brigitte Höfer »

Liebe Erna,
ich will versuchen, Dir die Situation zu erklären, die ich als Eineinhalbjährige im Mai 1945 vorfand: Bei der Familie, bestehend aus Mutter mit sechs Kindern, - Vater in Gefangenschaft - war die Angst vor Vergeltung groß. Statt der Freude, überlebt zu haben, war da die Enttäuschung, nicht gesiegt zu haben, Angst vor weiteren materiellen Verlusten, vor Hunger und Armut. Meine Mutter war mit ihren Kindern aus der Kirche ausgetreten; von da war keine Hilfe zu erwarten. Praktisch, wie sie war, ging sie in die Christian Science und holte sich dort ihre Care-Pakete ab.

Die Schulen in Wiesbaden wurden erst im Oktober wieder eröffnet. So schickte sie alle ihre Kinder, soweit sie alt genug waren, in die umliegenden Dörfer, um dort bei Bauern zu arbeiten und Lebensmittel für den Winter einzubringen. Sie selbst versuchte, das Dach unseres Stadthauses zu reparieren und die Bombenschäden zu beseitigen. Bei all diesen Tätigkeiten war ich zuschauend dabei. Es war interessant, aber die Frage, wie es mir denn geht, kenne ich von meiner Familie nicht. Wenn ich in der Nähe meiner Mutter sein wollte, musste ich mich ganz still verhalten, sonst schickte sie mich sofort weg. Ich lernte, mich unsichtbar zu machen.

Meine älteste Schwester lernte Sprachen und eröffnete 1952 mit ihrem Mann ein Reisebüro, womit sie sehr schnell sehr viel Geld verdienten. Sie waren die typischen Neureichen. Das ging nicht ohne Streit in der Familie. Neid und Minderwertigkeitsgefühle spielten ein Rolle; der kollektive Materialismus der Nazizeit wurde von einem individuellen Materialismus abgelöst.

Die berufliche Arbeit hat selbstverständlich einen großen Stellenwert! Und um einen befriedigenden Beruf zu haben, braucht man eine gute Ausbildung! Diese gute Ausbildung wurde den Mädchen aber auch nach dem 2. Weltkrieg noch oft verwehrt! Ich konnte nur mit Untertstützung meiner Schwiegermutter Lehrerin werden,- meine Eltern haben sich Null um meine Ausbildung gekümmert.

Was meinst Du damit, dass die Folgen heute noch ernster wären, als sie es sowieso schon waren?
Erna
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Beitrag von Erna »

Liebe Brigitte,
vielleicht machen wir beide den Fehler, unsere Situationen zu verallgemeinern. Ich meine halt, dass die Familien, dadurch dass es weit weniger Möglichkeiten gab, die Freizeit auszufüllen, z.B. viel mehr Freizeit miteinander verbrachten. Man ging zusammen irgendwo hin.
man saß zusammen und spielte, alle möglichen Spiele, die Eltern erzählten den Kindern Geschichten usw. Sicherlich hatten die Eltern dann weniger Zeit für sich. Aber ich glaube, das sollten wir am 17.11.einmal real diskutieren.
Erna
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Carmen Stadelhofer
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Kindheit hat viele Gesichter

Beitrag von Carmen Stadelhofer »

Hallo, ich denke, dass wir gerade dabei sind, wichtige Zeitzeug/innenerfahrungen zu sammeln. Es sind Berichte aus einer individuellen Erfahrungswelt . Aus meiner langjährigen Arbeit mit Zeitzeug/innen weiß ich, dass Kinder, im gleichen Jahr geboren, ganz Unterschiedliches erlebt haben können, je nachdem, wo sie gelebt haben. In meiner Gruppe war z.B. eine Frau, die als Kind einer von Ulm evakuierten Familie die Nachkriegsjahre in einem Dorf ganz in der Nähe von Ulm als "herrlich" erlebt hat, sie hatten genug zu essen, die Familie war vollständig, die Kinder viel Freiheiten. In der gleichen Gruppe war eine Frau, die als Kind bei der Bombennacht auf Ulm am 17.12. Mutter und Schwester verloren hat, der Vater war in Kriegsgefangenschaft, sie kam als Halbwaise zu fremden Leuten, es ging dort ums Überleben und den Wiederaufbau. Ein Teilnehmer der Gruppe wurde als 10jähriger als Folge einer mißlungenen Flucht der Familie von Tschechen in einem Lager maltraitiert, ein lebensprägendes Ereignis für ihn, für das er lange kein Gehör fand. Ein Teil der Familie einer Teilnehmerin ist in Auschwitz umgekommen. Für diese Teilnehmer/innen war es immer unfassbar und schmerzlich, dass die erstgenannte Frau sagte "ich hatte eine schöne Kindheit".
In diesem Zusammenhang möchte ich auch auf die CD-Rom hinweisen, die das ZAWiW gerade herausgegeben hat: "Erzählcafe-Der Geschichte Gesichter geben". Hier wird bei diesem Thema deutlich, wie unterschiedlich Erfahrungen waren oder auch , wie unterschiedlich sie gespeichert wurden und allmählich wieder ans Licht kommen. Näheres zur CD :http://www.uni-ulm.de/uni/fak/zawiw/cd_projekte/de
RenateBowen
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Beitrag von RenateBowen »

Für mich war es interessant in der Zeitung „Die Zeit“ zu lesen, dass es ein weiteres Buch gibt, das sich auf die Generation der Kriegskinder bezieht. In seiner Kritik über dieses Buch von Sabine Bode „Die deutsche Krankheit – German Angst“ bezieht sich Hans-Martin Lohmann auf Peter Glotz. Er schreibt, dass dieser schon vor zehn Jahren darauf aufmerksam gemacht hätte, „Dass es eine einheitliche und konsistente Generationserfahrung nicht gibt und nie gegeben hat. Die 68er waren ebenso nur ein Teil ihrer Generation, wie es die 89er waren (von denen heute schon keiner mehr spricht). Gleiches gilt für die Jahrgänge 1930 bis 1945, die Generation der Kriegskinder“.

Carmen schreibt auch über die individuelle Erfahrungswelt. Die Erlebnisse sind sehr unterschiedlich. Sicherlich werden niemals alle Menschen einer Generation von dem Erlebten gleichmäßig beeinflusst werden. Ich bin der Meinung, die Autorin kann trotzdem bestimmte Aussagen treffen, wenn ein großer Teil dieser Generation von dem Geschehen geprägt wurde. Die Bombenangriffe auf Hamburg haben bei mir wahrscheinlich bewirkt, dass ich so schreckhaft bin. Es gibt noch jetzt für mich Assoziationen, die der Krieg hinterlassen hat, die ich bestimmt mit vielen „Kriegskindern“ teile. Das Wort „Keller“ verbinde ich mit einem Schutz- nicht mit einem Vorratsraum. Das Ausprobieren von Sirenen verursacht mir ein sehr unangenehmes Gefühl. In den USA haben mich die kreisenden Scheinwerfer, die über den Himmel zogen, um die Aufmerksamkeit auf eine bestimmte Werbung zu richten, sofort an die feindlichen Flugzeuge erinnert. Bei diesem Anblick entstand für einen Augenblick ein Gefühl der Angst. Warum sollten Angehörige einer späteren Generation so empfinden, oder die Amerikaner ihre Scheinwerfer nicht als eine gute Werbung ansehen? Bombardierung ihres Landes kennen sie nicht.
Erna
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Beitrag von Erna »

Als ich Renates Zeilen las, fiel mir auch etwas dazu ein. Lange Zeit wurde in den Schulen, um das Verlassen der Räume bei Feueralarm zu üben, der Probealarm mit einem Sirenenton angekündigt. Es wusste natürlich keiner, wann dieser Alarm stattfand und immer wenn die Sirene ertönte, war ich zunächst einmal starr und konnte dann nur mit Mühe die Kinder zur Aufstellung und Hinuntergehen veranlassen. Ein Segen, dass dies abgeschafft wurde.
Erna
RenateBowen
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Beitrag von RenateBowen »

Unsere lebhafte Diskussion beweist doch, die Kriegskinder fühlen sich von Sabine Bodes Buch angesprochen.
Ich möchte deshalb auf ein Buch aufmerksam machen, das 2001 im Europa Verlag herausgegeben wurde und sich ebenfalls mit den Erfahrungen von Kindern in Kriegszeiten befasst. Es geht hier um Erlebnisse der Kinder von den Nationen weltweit, die am zweiten Weltkrieg beteiligt waren. Vielleicht ist es sogar das von Carmen erwähnte Buch, dessen Titel sie nicht mehr erinnerte. Es heißt "Unschuldige Zeugen" - Der zweite Weltkrieg in den Augen von Kindern, zusammengetragen von Emmy E. Werner

Renate
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Carmen Stadelhofer
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Emmy Werner, Die unschuldigen Zeugen

Beitrag von Carmen Stadelhofer »

Hallo, für alle Interessierten: Renate aus Hamburg hat die genaue Quellenangabe herausgefunden für das Buch, von dem ich euch neulich berichtete, dass ich es mit großer innerer Betroffenheit gelesen habe: Es heißt „Die unschuldigen Zeugen. Der zweite Weltkrieg in den Augen von Kindern“, Europa-Verlag Hamburg-Wien 2001, geb., ca 19 Euro. (leider kann ich mein Exemplar nicht ausleihen, weil es bei der Ausleihe an eine Person, an die ich mich nicht mehr erinnere, nicht mehr zurückgekommen ist, mag für das Buch sprechen).

Mit Hilfe von google noch ein paar Zusatzinformationen: Auf der Grundlage von Hunderten von Briefen, Tagebüchern und anderen Aufzeichnungen von Kindern und Jugendlichen aus den Jahren 1939-49 dokumentiert Emmy Werner (mit 20 Jahren in die USA ausgewanderte 1939 geborene Deutsche, lange Jahre Kinderpsychologin an der Universität Kalifornien) Kriegserlebnisse und Erfahrungen von Kindern im und nach dem zweiten Weltkrieg aus Polen, Deutschland, Österreich, Frankreich, Niederlanden, Skandinavien, Großbritanien, ehemalige Sowjetunion und den USA und Japan. Sie zeigen aus der unmittelbaren Kinderperspektive, wie die Kinder/ Jugendlichen die Kriegs- und Nachkriegserlebnisse (unmittelbar oder indirekt) erlebten und verarbeiteten.
Viel Grausames und Verzweiflung, aber auch Menschlichkeit und Hoffnung, so habe ich die Lektüre in Erinnerung. Es ist kein wissenschaftlicher Forschungsbericht, keine sozial-politische Analyse, sondern eine Dokumentation subjektiver Wahrnehmungen und Verarbeitungen der Kriegserlebnisse durch Kinder/ Jugendlichen. Mich hat besonders beeindruckt, etwas aus der Perspektive amerikanischer und japanischer Kinder zu erfahren, weil ich von ihrer Betroffenheit/ Schicksal wenig wusste. Dies hat mich nochmals berührt, als die kanadischen Senior/-innen bei uns im Arbeitskreis ZeitzeugenArbeit zu Gast waren (ich schreib darüber).
Horst Glameyer
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Die vergessene Generation

Beitrag von Horst Glameyer »

Es ist bereits erwähnt worden, wie unterschiedlich die Erinnerungen von Kindern und Jugendlichen an Kriegsgeschehnisse sein können, sodass sie sich nicht verallgemeinern lassen.
Als Fünfjähriger hörte ich 1933 an einem Nachmittag in unserem ersten Radio einen Tieffliegerangriff auf einen Personenzug in einem Hörspiel. Das Rattern des Maschinengewehrs, die Schreie der Fahrgäste und die beruhigende Stimme des Schaffners, alles ist mir bis heute unvergesslich geblieben, obwohl damals noch Frieden herrschte und wohl kaum jemand schon vom bevorstehenden Krieg sprach.
Mit 16 Jahren als Angehöriger einer RAD-Division erlebte ich dann im Frühjahr 1945 einen Tieffliegerangriff in der Realität. Es war um die Mittagszeit in einem mecklenburgischen Dorf. Meine Kameraden waren schon in Deckung gegangen. Ich hatte mich verspätet. Nun lag ich völlig allein flach an den Boden gepresst mitten auf der Dorfstraße, während der Tiefflieger schießend über mich hinweg brauste. Dass ich nicht getroffen wurde, grenzt an ein Wunder.

Seit damals hat sich in der Welt nichts geändert, und es gibt es kaum einen Erdteil, in dem Kinder und Jugendliche nicht Zeuge von Kriegen oder Bürgerkriegen wurden. Im Irak müssen viele von ihnen oft mit ansehen, wie ihre Eltern, Geschwister und Freunde von Selbstmordattentätern in die Luft gesprengt werden. Auf ehemaligen Kriegsschauplätzen treten sie beim Spiel auf Minen oder Streubomben und verlieren Arme und Beine.
Kürzlich berichtete der SPD-Politiker Karsten Voigt von einem Gespräch, das er als Koordinator für deutsch-amerikanische Zusammenarbeit mit einem Amerikaner führte, der bemängelte, dass sich die Bundeswehr nicht an den Kämpfen im Süden Afghanistans beteiligt, und meinte: „Die Deutschen müssen das Töten lernen.“ Zynisch angesichts unserer kriegerischen Vergangenheit, unter der viele einer ganzen Generation noch heute leiden, und gegenüber der gegenwärtigen Generation in den von Krieg und Bürgerkrieg heimgesuchten Ländern.
Horst
HildegardN
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Der Zweite Weltkrieg in den Augen von Kindern

Beitrag von HildegardN »

Als der Zweite Weltkrieg ausbrach, war ich ein Kind - als er zuende ging, war ich es nicht mehr, aber von den Kriegsereignissen und den Kriegsfolgen so betroffen, dass ich (u.a. auch als Zeitzeugin) es für wichtig halte, auf die zerstörerischen Folgen und das Leid aufmerksam zu machen, das jeder Krieg verursacht und hinterläßt.
Ich habe deshalb auch Carmens Empfehlung aufgegriffen und mir das Buch von E.Werner bestellt. Gleichzeitig stelle ich es hier in Kurzform vor.
Hildegard

Emmy E. Werner
Unschuldige Zeugen
Der Zweite Weltkrieg in den Augen von Kindern
Europa Verlag, Hamburg - Wien 2001
ISBN 3203840278,
Gebunden, 318 Seiten, 19,68 EUR

Klappentext
Auf der Grundlage von Hunderten von Briefen, Tagebüchern und anderen Aufzeichnungen, die von Kindern und Jugendlichen aus den Jahren 1939 bis 1949 stammen, dokumentiert Emmy Werner ihre Geschichte im Zweiten Weltkrieg mit ihren eigenen Worten. Sie schildern Kriegserlebnisse und ihre Auswirkungen auf Kinder aus den USA, aus der ehemaligen Sowjetunion, aus Polen, Deutschland, Österreich, Belgien, Frankreich, aus den Niederlanden, aus Japan, Großbritannien, Dänemark und Norwegen. Sie zeigen auch, was diese Kinder ertragen und ausgehalten haben und lassen inmitten von Menschenfeindlichkeit eine Menschlichkeit erkennen, inmitten von Verzweiflung eine Hoffnung durchschimmern.

Rezensionen - Süddeutsche Zeitung vom 10.12.2001
Der Zweite Weltkrieg aus der Sicht von Kindern: Die Autorin hat Tagebücher, Briefe, Fotos und andere Aufzeichnungen von Kindern zusammengetragen, die schildern, wie diese Feuerstürme und Bombenangriffe erlebt haben, berichtet Thomas Eckardt. Dabei habe sie sich bewusst auf nichtjüdische Kinder festgelegt, da über "jüdische Altersgenossen" schon genügend geschrieben worden sei. Eine ergreifende Lektüre, so der Rezensent. Besonders eindrucksvoll findet er, die "eigene(n) Erfahrung(en)" der Buchautorin - diese musste in ihrer Schulzeit "positive Sätze" über Russland aus ihren Schulbüchern streichen. Aber auch der dokumentierte Briefkontakt einer US-amerikanischen Schülerin mit General Eisenhower beeindruckte den Rezensenten: "Eisenhower antwortete regelmäßig". Nach Kriegsende schließlich hätten die befragten Kinder weder Hass noch Bitterkeit gegenüber den "Feinden" aus dem Osten empfunden, zitiert der beeindruckte Rezensent aus dem Buch.

Rezensionen - Die Zeit vom 04.10.2001
An eigene Kindheitserlebnisse aus dem 2. Weltkrieg fühlt sich der Rezensent Aloys Behler bei der Lektüre von Werners Dokumentation erinnert. Emmy Werner, die an der Universität Kalifornien Kinderpsychologie lehrt, reiht 200 Augenzeugenberichte, die Kinder und Jugendliche während und nach dem 2. Weltkrieg in mehreren Ländern Europas, den USA, Japan und der Sowjetunion schrieben und die sich untereinander häufig glichen, aneinander, berichtet Behler. Dies sei kein wissenschaftlicher Forschungsbericht, sondern eine "einzigartige Dokumentation kindlicher Wahrnehmung" von Krieg. Die Berichte vermittelten "Einblicke in ein kaum zu ermessendes persönliches Leiden hinter den grausigen Zahlen der Kriegsstatistik", lobt der Rezensent.

Rezensionen - Neue Zürcher Zeitung vom 22.09.2001
Der Rezensent mit dem Kürzel uha. hat zu diesem Band, der verschiedenste Kriegserinnerungen in Interviews, Tagebüchern, Lebensbeschreibungen und Fotografien versammelt, einiges anzumerken. In seiner Kurzkritik bemängelt er als erstes, dass die Fotos, die alle aus Armeebeständen stammen, völlig unkommentiert geblieben sind. Auch die merkliche Zurückhaltung der amerikanischen Psychologin, die vorliegenden Texte in irgendeiner Weise zu ordnen oder zu interpretieren ist dem Rezensenten aufgefallen. Er äußert aber mit Hinweis auf den Idealismus der Autorin, die mit ihrem Buch zeigen wolle, dass trotz der traumatischen Erlebnisse der Kinder "lebensbejahende" Erwachsene aus ihnen geworden sind, Verständnis dafür, dass sich Werner jedem Blick auf die "politisch-sozialen Hintergründe" der Ereignisse verschließt.
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Kurzbiografie:
Emmy E. Werner lebte während des Zweiten Weltkriegs als Kind in Deutschland. Mit Anfang 20 wanderte sie in die USA aus. Sie ist heute Psychologin und Professorin an der University of California. Emmy E. Werner hat mehrere Sachbücher veröffentlicht.
Erna
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Beitrag von Erna »

Als Antwort auf Horsts Beitrag möchte ich sagen, ich finde, dass der Krieg heute noch grausamer geworden ist, als er schon war, wenn ich die Selbstmörder im Namen welcher ideale auch immer hinzurechne. Sicherlich gab es auch beim zweiten Weltkrieg einige wenige Menschen, die es als Ehre empfanden für den Staat zu sterben. Aber eigentlich habe ich niemanden persönlich getroffen, der so empfand. Eher wurde die Kriegstätigkeit als ein Übel angesehen, der man sich nicht entziehen konnte, wenn man sich nicht selber aufgab. Anderseits meine ich, so lange Menschen da sind, wird es immer Kriege geben. Eine völlig befriedete Gesellschaft ist Utopie.
Erna
Brigitte Höfer
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Es wird immer Kriege geben

Beitrag von Brigitte Höfer »

Als Antwort auf Erna und Horst möchte ich sagen: es wird immer Streit geben, aber mit welchen Mitteln er ausgetragen wird, hängt ab von den Werkzeugen, die zur Verfügung stehen.
Kain erschlaug Abel mit einem Stein; es hätte keinen Sinn, Steine aus der Welt zu schaffen. Aber es hat sehr wohl Sinn, die Waffenproduktion und den Handel und Verkauf damit unter Kontrolle zu halten.
Ich möchte es gar nicht wissen, wie vielen Diktatoren die reichen Länder mit ihrer sogenannten Entwicklungshilfe dazu verholfen haben, sich umfangreich mit Waffen zu versorgen und auf den Nachbarn zu richten. Kennt ihr den Film "Lord of War"? Sehenswert. Da gehen einem die Augen auf.
Über die Schießereien an Schulen brauche ich wohl nichts zu sagen.
Bei amnesty International gibt es von Zeit zu Zeit Kampagnen gegen Kleinwaffen und Kindersoldaten. Es gibt auch gute Ausstellungen auszuleihen, die man im Foyer des Rathauses oder in Kirchen aufstellen kann.
Die besten Werkzeuge, um Streit auszutragen, sind immer noch Worte und Verständigung. Frieden ist nicht eine Sache, die einfach da ist: Frieden muss gelernt werden!
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