Die vergessene Generation-Kriegskinder brechen ihr Schweigen

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Brigitte Höfer
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Die vergessene Generation-Kriegskinder brechen ihr Schweigen

Beitrag von Brigitte Höfer »

Sabine Bode: Die vergessene Generation.
Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen
Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2004, € 8.90

Die Journalistin Sabine Bode, Jg. 1947, arbeitet seit vielen Jahren für den Hörfunk des WDR und NDR in der Kulturredaktion Religion und Gesellschaft. In den neunziger Jahren wurde sie beim Anblick der Kinder, die den Bosnienkrieg miterlebt hatten, an das Aussehen der Kriegskinder in Deutschland nach 1945 erinnert. Sie machte ein Feature zum Bosnien-Konflikt und erhielt dafür eine lebhafte Resonanz.
Eine Kriegskindertagung der Evangelischen Akademie in Bad Boll im Jahr 2000, an der sie teilnahm, führte zur Einrichtung der Homepage <www.kriegskind.de>. Dort gibt es auch Informationen über den Kriegskinderkongress in Frankfurt im Frühjahr 2005 mit Prof. Dr. Radebold, der auf große Resonanz stieß.

Bereits im Jahr vorher erschien Sabine Bodes Buch „Die vergessene Generation. Kriegskinder brechen ihr Schweigen“. Auf 260 Seiten bietet sie eine Fülle von Material an, das sie in Interviews und Recherchen zusammengetragen hat und strukturiert das schwierige Thema umfassend und kenntnisreich.
Die Überschriften der 14 Kapitel seien hier genannt: Millionen Kriegskinder - Was Kinder gebraucht hätten - „Eine verschwiegene, unentdeckte Welt“ - Zwei Frauen ziehen Bilanz- - Das fröhliche Kind - Ein ganzes Volk in Bewegung - Kriegswaise: die Suche nach der Erinnerung - Nazi-Erziehung: Hitlers willige Mütter - „Aber recht, recht lieb wollen wir sein...“ - Das Trauma, der Krieg und die Hirnforschung - Die große Betäubung - „Als alter Mann werde ich glücklich sein“ - Trostlose Familien - Ein Plädoyer für Vernunft und Trauer.
Im Nachwort bemerkt die Traumatherapeutin Dr. med. Luise Reddeman aus Bielefeld, Jg. 1943, dass bislang in Therapien die Bedeutung von Kriegserlebnissen unterschätzt und wenig beachtet wurde. Sie hofft, dass das Buch Mut macht, sich mit der eigenen Geschichte noch einmal intensiver auseinanderzusetzen.

Mir selbst (Jg. 1943) erging es beim Lesen des Buches so, dass ich eine solche Fülle von Anregungen für mein eigenes Leben erhielt, dass ich noch einige Wochen brauchen werde, um diese Dinge einigermaßen zu ordnen. Ich habe inzwischen auch ihr neues Buch „German Angst“ gelesen (<www.klett-cotta.de/autoren>), das ich außerordentlich interessant finde.

Ich bin gespannt auf die Meinungen der Leserinnen und Leser.
Brigitte
Erna
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Gedanken zum Buch

Beitrag von Erna »

Das Buch von Sabine Bode „Die vergessene Generation“ handelt von deutschen Kindern, die den Krieg überlebt haben und die danach „funktionieren“ mussten, ohne dass sich in der Regel jemand darum gekümmert hat, was sie von den Schrecken des Krieges mitbekommen haben. Es gab keine therapeutische Aufarbeitung des Erlebten und wenn sie sich nicht so verhielten, wie ihre Eltern es von ihnen erwarteten, sah man das eher als „Ungezogenheit“ an, denn als Folge der Vergangenheit.
Viele Mitglieder von ViLE gehören auch dieser Generation an. Welchen Eindruck haben sie beim Lesen des Buches? Sind sie der gleichen Meinung, wie die Autorin. Oder haben sie diese Zeit ganz anders erlebt? Wie sehen sie sie jetzt im Rückblick, wenn sie angeregt durch das Buch darüber nachdenken? Können sie sich jetzt vielleicht eigene Verhaltensweisen besser erklären. Konnten oder können sie mit Kindern und Enkeln über ihre Erlebnisse sprechen?
S. Bode berichtet vorwiegend über die Jahrgänge von 1930 - 1945. Was empfinden die anderen, die im Jahrzehnt davor geboren wurden und als Jugendliche diese Zeit erlebt haben? Vielleicht fühlen sie sich auch davon angesprochen.
Für mich, die ich eher zu dieser Gruppe gehöre, ist es schon ein Phänomen, dass auf einmal, man muss überlegen, nach 60 Jahren, die Vergangenheit wieder gegenwärtig ist und man darüber nachdenkt und darüber spricht.
Brigitte hat uns einiges über die Autorin berichtet, ich will mit meinen Gedanken einige Denkanstöße geben.
Erna
HildegardN
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Was hat Sabine Bode mit ihrem Buch bezwecken wollen?

Beitrag von HildegardN »

Sabine Bode will mit ihrem Buch auf eine Generation aufmerksam machen, deren Schicksal, wie sie schreibt, 60 Jahre lang zu wenig beachtet wurde. Es handelt sich um die deutschen Kriegskinder, die sie als "vergessene Generation" bezeichnet, und denen sie zu einem Forum verhelfen will.
Die Autorin geht davon aus, dass das unverarbeitete Leid der deutschen Kriegskinder eine gesellschaftliche Aufgabe darstellt, "weil mit dem Beginn des Rentenalters die Überdeckung der Traumata durch Beruf und Arbeit endet". Dabei geht es ihr nicht um moralische Aufrechnung oder gar einen neuen Opferkult. Es geht es vor allem darum, etwas öffentlich zu machen, was bisher zu wenig berücksichtigt wurde: die Traumata der Kriegskinder.
Die Leiden und Verluste der deutschen Zivilbevölkerung durch die Ereignisse und Folgen des 2. Weltkrieges haben bis in die heutige Zeit hinein immer wieder im Blickpunkt der Öffentlichkeit gestanden, "aber die längerfristigen seelischen Auswirkungen von Bombardierungen und Vertreibung sind bisher kaum erörtert worden", schreibt der Focus am 1.3.2004.
Vielleicht können wir von uns das Ausmaß der Kriegesereignisse und ihrer Folgen heute kaum mehr vorstellen. Vor wenigen Tagen stand ich auf dem Rathausplatz in Heilbronn und las dort auf einer Gedenktafel, dass die Stadt durch den 2.Weltkrieg über 3000 Kriegsteilnehmer und mehr als doppelt so viele, nämlich weit mehr als 7000 BürgerInnen durch Bombenangriffe verloren hat. Allein der große Bombenangriff am 4.12.l944 forderte über 6.500 Opfer. (Heilbronn zählt heute ca. 120.000 Einwohner). - Wieviel Kinder mögen damals unter den Opfern gewesen bzw. noch heute betroffen sein? - -
HildegardN
Erna
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Gründe für das Erinnern

Beitrag von Erna »

Für die Beschäftigung mit dem Thema Kriegskinder gibt S.Bode folgende Gründe an:
Durch das Grass-Buch im Krebsgang wurde eine Erinnerungswelle an Krieg, Vertreibung usw ausgelöst, die bis heute anhält.
Es hat zwar zuvor auch schon andere Bücher gegeben, die das Thema ansprachen, aber es bekam durch die Prominenz von Grass einen anderen Stellenwert. Gleichzeitig sah man die grausigen Bilder des Bosnienkrieges, die die Erinnerung beeinflussten, vielleicht auch einen Vergleich mit dem damals bei uns Geschehenen wieder aufleben ließen. Außerdem zählt die Autorin, wenn auch erst nach dem Krieg geboren, noch zu dieser Kriegskinder-Generation, denn wie sahen die Städte zu dieser Zeit aus? Wie war die Verpflegung, wo waren die Väter?
Natürlich hat man die damalige Zeit als normal empfunden, denn es gab keine andere.
In dem Zusammenhang drängt sich mir die Frage auf, wie hat sich das Geschehen auf die britischen und französischen Kriegskinder ausgewirkt?
Gibt es dort eine ähnliche Renaissance der Erinnerung?
Horst Glameyer
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Die verlorene Generation.

Beitrag von Horst Glameyer »

Betrachtet man die Ereignisse zwischen 1945 und 1989 aus westdeutscher Sicht, so blieb trotz des Wiederaufbaus und des „Wirtschaftswunders“ eine latente Kriegsgefahr bestehen, die zumindest unterschwellig bei allen, die den Krieg als Kind miterlebt hatten, Angst auslöste. Der „Kalte Krieg“ fand zwar weitgehend in den Medien statt, drohte aber beim Mauerbau, bei der Berlin-Blockade und der Kuba-Krise zu einem verheerenden „heißen“, möglicher Weise sogar atomaren Krieg zu werden, der auf deutschem Boden stattfinden würde. Deutschland war für die NATO potentielles Kriegsgebiet. Vermutlich scheuten sich die einstigen Kriegskinder, als Eltern vor ihren Kindern ihre geheimen Ängste offen auszusprechen; denn das Alltagsleben verlief ja weiterhin friedlich.
Schon bloßes Sirenengeheul konnte an Tage und Nächte in den Luftschutzkellern erinnern. Manchen fällt es bis heute schwer, alte Sachen wegzuwerfen, weil sie sich, wie in den Jahren vor der Währungsreform, in Notzeiten zum Tausch gegen knappe Lebensmittel eignen. Viele Eigenheiten werden vermutlich kaum noch wahrgenommen, beruhen jedoch auf Kindheitserfahrungen in der Kriegs- und Nachkriegszeit.
Horst
HildegardN
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Kriegskinder in England und Frankreich

Beitrag von HildegardN »

Erna fragte nach den britischen und französischen Kriegskindern.
Hierzu fand ich bei google u.a. den folgenden Text, der allerdings zunächst auf die Kriegskinder in Deutschland eingeht.

"Allein in Deutschland leben 15 Millionen Menschen, die zwischen 1930 und 1945 geboren wurden. Im Gedenkjahr 2005 wurden ihnen die schrecklichen Bilder immer wieder vor Augen geführt: Bombenkrieg, Konzentrationslager, Flucht und Vertreibung. Aber auch die neu gewonnene freie Zeit und Ruhe, die viele nun als Rentner haben, kann zu einer intensiveren Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und mit verdrängten Erlebnissen führen. Hilfe und Austausch für traumatisierte Kriegskinder bietet die Internet-Plattform kriegskind.de.

Traumatische Erfahrungen
"Es wurde nicht darüber gesprochen", erklärt die Psychotherapeutin Helga Spranger von kriegskind.de. "Da geht wieder diese alte, dogmatische Lesart hinein, dass man damals davon ausging - und teilweise übrigens noch heute -, dass die Kinder das nicht mitbekommen haben, was grundsätzlich falsch ist. Denn wir wissen heute, auch auf Grund der neurobiologischen Forschung, dass selbstverständlich auch kleine Kinder sehr viele Eindrücke speichern. Diese sind diffus und können nicht jederzeit abgerufen und geklärt werden. Aber sie sind gespeichert worden."

England:
Auch in England, wo viele Kinder während des Krieges aufs Land geschickt wurden, haben sich Betroffene organisiert. Sie fühlten sich abgeschoben, von den Eltern verlassen, die sie teilweise nie mehr wieder sahen. 60 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs sind auch hier die lang verschwiegenen Seiten der Kriegserfahrungen ein Thema geworden. Martin Parson vom Internationalen Forschungszentrum für Kriegskinder-Studien sagt, dass es keine Unterschiede zwischen den Schäden eines deutschen Täterkindes und eines englischen Opferkindes gäbe. "Wenn man die Nationalität und die Sprache weglässt und Kriegskinder schlicht als das behandelt, was sie eigentlich waren, nämlich schuldlose Kinder, die einem Krieg ausgesetzt waren: Dann kann man sehen, dass alle die gleichen traumatischen Erfahrungen und Langzeitschäden mit sich herumschleppen."

Frankreich: In Frankreich bezeichnet man die Kinder deutscher Soldaten, die in der Besatzungszeit geboren worden sind. Ihr Schicksal wird als besonders hart und grausam bezeichnet und auch in Publikationen beschrieben. Auf ca. 200.000 wird die Zahl dieser Kinder geschätzt.
(vgl. "Kriegskinder in Frankreich" bei google)
HildegardN
HildegardN
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Kriegskinder-Erforschung grenzüberschreitend

Beitrag von HildegardN »

Das Thema Kriegskinder halte ich deshalb für wichtig, weil die Aussagen der Kriegskinder m.E. dazu beitragen können, Kriege zu beeinflussen, möglichst zu verhindern. Forscher und Publizisten haben darüber hinaus noch andere Argumente, und sie beschäftigen sich damit nicht nur erst seit heute.
Am 16.11.02 erschien ein Bericht von Petra Pluwatsch im Kölner Stadtanzeiger mit dem Titel "Die vergessene Generation".
"Eine der Ersten", heißt es darin, "die die Kriegskinder im Zuge der Reportage zu Worte kommen ließ, war 1997 die Kölner Hörfunk-Journalistin Sabine Bode." Im April 2000 fand in der Ev.Akademie Bad Boll ein Kreis von Ärzten, Psychologen und Betroffenen zusammen und debattierte 3 Tage lang über Kriegskinder - gestern und heute.
Wenig später entstand daraus die Arbeitsgruppe "Kriegskinder", heute der Verein "kriegskind.de e.V.".
Weitere Tagungen folgten, u.a. der internationale Kongreß im April 2005 in Frankfurt a.M. "Die Generation der Kriegskinder und ihre Botschaft für Europa 60 Jahre nach Kriegsende"
Die Generation der Kriegskinder wird inzwischen wissenschaftlich erforscht, u.a. durch das "Münchener Kriegskindheits-Projekt". Es befaßt sich mit den 1933-1945 Geborenen. Sie geben in Fragebogen und Interviews Auskunft über ihre Erinnerungen, späteren Erfahrungen und heutigen Bewertungen ihres Lebens und ihre Einstellungen zum Thema Kriegskindheit. Die Befragungen von ca. 100 Kriegskindern in Deutschland sind inzwischen abgeschlossen und eine Nachfolgestudie "Kinder der Kriegskinder" vorgesehen.
In einer Pilotuntersuchung wurden die ersten Kinder des 2.Weltkriegs in Japan interviewt. die Kooperation wird ausgebaut.
Es werden jetzt Forscher in anderen europäischen Ländern gesucht, um Vergleiche zwischen der Verarbeitung der Kriegskindheit in den verschiedenen Ländern Europas vornehmen zu können.
Erna
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Beitrag von Erna »

Die Hinweise von Hildegard finde ich außerordentlich interessant, sind sie doch ein Beweis dafür, dass das gleiche Phänomen auch bei den Kindern anderer Teilnehmer des Krieges bemerkt wurde. Viele Beschädigungen heilen doch nicht von selbst. Auch die Zeit scheint dabei nur eine geringe Rolle zu spielen.
Erna
Erna
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Beitrag von Erna »

Liebe Diskutierende,
diese nachricht habe ich heute erhalten. Da sie ja unsere diskussion betrifft, stelle ich sie ins Netz.

Liebe Erna,



an diesem Wochenende habe ich das Buch Die vergessene Generation von Sabine Bode während der freien Stunden in einem TZI-Seminar Meine religiösen Themen zu Ende lesen können. Ich habe mich von einem Sachbuch selten so angesprochen gefühlt. Fast in jedem Absatz habe ich mich wiedergefunden. Zusammenfassend könnte ich sagen: Ich habe eine Identität erhalten, die ich so bisher nicht hatte, und ich fühle mich enorm entlastet. Ganz unvermittelt scheine ich einen riesigen Schub Lebensenergie und gleichzeitig Gelassenheit bekommen zu haben. Vieles von dem, was ich in verschiedenen Zusammenhängen seit Jahrzehnten angesprochen habe, was andere aber nie verstanden haben oder verstehen wollten oder was sie so gleichgültig ließ, als wären es nur Hirngespinste, ist wahr! Ich finde in dem Buch von Sabine Bode bestätigt, dass ich nicht falsch gelegen habe und dass es außer mir fast einer ganzen Generation ähnlich ergangen ist. Ich bin nicht allein mit meinen Gedanken und Gefühlen! Ich habe den Eindruck, dass sich noch einmal ganz neue Lebensräume öffnen könnten, obwohl ich inzwischen 66 Jahre alt bin und vor Kurzem aus dem Berufsleben ausgeschieden bin.



Welche Konsequenzen aus dieser für mich neuen Lage ziehen muss, wird spannend. So war ich z. B. bisher ich ein erklärter Gegner des von der Vorsitzenden des Bundes der Vertriebenen Frau Erika Steinbach initiierten Zentrums gegen Vertreibungen. Ob und inwieweit ich da umdenken oder differenzieren muss, ist mir noch nicht klar. Ich werde mir heute Abend noch einmal den Text der Sendung Der Deutschland-Reflex, Was ein Land zusammenhält – und was nicht von Sabine Bode auf NDR kultur vom 01.10.2006 vornehmen. Vielleicht gibt dieser Text zusätzliche Gesichtspunkte.



Abschließend würde ich gern wissen, wie ich mich an der von Dir angeregten Diskussion beteiligen kann. Obwohl ich mich schon wieder ziemlich vollgepackt habe, hoffe ich ausreichend Zeit für die Teilnahme an der Diskussion aufbringen zu können. In diesem Zusammenhang habe ich die Frage, ob irgendwann ein persönlicher Austausch geplant ist.



So viel für heute und herzliche Grüße

Harald Müller
Brigitte Höfer
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Beitrag von Brigitte Höfer »

Liebe Erna,

das finde ich gut, dass es auch von außerhalb eine Reaktion auf das Buch gibt.

Ich war am Wochenende in der Evangelischen Akademie Arnoldshain zu einer Tagung mit dem Thema: "Die Nachwirkungen der Nazizeit aus heutiger Sicht - Spurensuche im Medium familialer Erinnerung." Neben Ute Scheub, die aus ihrem Buch: "Das falsche Leben. Eine Vatersuche" vorlas, lasen auch Katrin Himmler, eine Enkelin von Heinrich Himmler, aus ihrem Buch: "Die Brüder Himmler. Eine deutsche Familiengeschichte."; dann Richard von Schirach aus: "Der Schatten meines Vaters" und Uwe von Seltmann: "Schweigen die Täter, reden die Enkel."Interessant war auch der Vortrag von Christain Schneider (Soziologe & Forschungsanalytiker) zum Thema: "Familiengeschichten- Familienromane. Ist es notwendig, die Geschichte seiner Vorfahren (vollständig) zu kennen?" (Kurze Antwort: Muss man nicht)

Es war eine sehr lebhafte und emotionale Tagung und für mich sehr wichtig. Für mich habe ich mitgenommen: ich will in einem Jahr meine autobiographischen Geschichten beendet habern. Eine Formulierung gefiel mir besonders gut: "für den Hausgebrauch." Mehr solls nicht sein. Wichtig ist es dennoch, das haben mir alle Beispiele gezeigt.
Marlis Beutel
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Die vergessene Generation?

Beitrag von Marlis Beutel »

Allmählich frage ich mich, wie hoch wohl der Prozentsatz der Menschen ist, die ohne Traumata durchs Leben wandern.

Ich gehöre zum Beispiel nicht zu Sabine Bodes untersuchter Gruppe. Aber mein Vater wurde mit 18 Jahren im Ersten Weltkrieg so schwer verwundet, dass er als Schwerbeschädigter sein Leben fristen musste und dafür Rente erhielt. Er war leider nicht nur physisch gestört. Über die familiären Folgen kann man sich bestenfalls mit einem Psychotherapeuten unterhalten. Hier möchte ich nur erzählen, dass er Kettenraucher war (Zigarren) und dass er sich bei jeder Mahlzeit hinter der Zeitung verschanzte; Tischgespräche fanden nicht statt.

So ist das Leben. Wesentlich erscheint mir, dass wir versuchen, achtsam damit umzugehen und die schlimmsten eigenen Folgeschäden zu beheben.
Marlis Beutel
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Einfluß von Bildung, Erfolg und Gesundheit

Beitrag von HildegardN »

Sabine Bode schreibt in ihrem Buch (S.20) u.a.: "Meine Vermutung geht dahin, daß Bildung, beruflicher Erfolg und eine robuste Gesundheit enorm hilfreich sind, wenn es darum geht, frühes Leid zu kompensieren".

Als ich die Folgen meiner eigenen (teils sehr einschneidenden) Kriegserlebnisse überdachte, habe ich der Autorin beigepflichtet: Ein relativ erfolgreiches Berufsleben und Zufriedenheit können sehr helfen, früheres Leid zu verkraften, und - wie ich meine - auch neue Kräfte aus der "Bewältigung" zu gewinnen. Und sicher habe ich dies auch meiner robusten Gesundheit zu verdanken.
HildegardN
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Carmen Stadelhofer
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Kinderkriegserinnerungen in aller Welt

Beitrag von Carmen Stadelhofer »

Ich habe vor ein paar Jahren ein Buch gelesen, das mich total fasziniert hat. Es war die Beschreibung eines Kriegsjahres im zweiten Weltkrieg aus der Perspektive von Kindern - rund um die Welt, und zwar so, dass immer ein Tag oder eine zeitliche Sequenz die Beschreibungen der Erlebnisse von bestimmten Kindern aus ganz verschiedenen Ländern darstellte- Europa, USA, Japan... Leider habe ich das Buch verliehen und nicht mehr zurück bekommen, und ich kann mich nicht mehr an den Autor und den genauen Titel erinnern. Aber sehr gut an den Inhalt und meine innere Betroffenheit bei der Lektüre.
Eine andere eindrucksvolle Erinnerung ist ein Erzählcafé, das wir im Rahmen eines dreiwöchigen Studienaufenthaltes einer kanadisch-spanisch-französischen Studiengruppe durchführten. Im Projekt GERON nahmen im Sommer 2001 über 20 jüngere und ältere StudentInnen aus Kanada, Spanien und Belgien an einem dreiwöchigen Weiterqualifizierungsprogramm des ZAWiW im Bereich ‚Geragogik/Seniorenbildung’ teil. Im Rahmen des Programms lernten sie das „ Erzählcafé“ als neue Methode biographischen Lernens in einer Gruppe kennen. Das Thema des Erzählcafés war "Wie ich den letzten Kriegstag erlebte". Es berichteten eine Frau, die aus einer hitlerbegeisterten Familie kam und als junges Mädchen bei der Napola war, eine Frau, deren Familie im KZ umkam, und ein Mann, der als 10jähriger Deutscher von den Tschechen verfolgt wurde. Es waren uns alle bewegende Geschichten. Plötzlich fing eine ältere kanadische Frau an zu weinen und sagte, dass sie tief berührt sei, und sie habe seit ihrer Kindheit mit niemanden über ihre Kriegserfahrungen in der Kindheit gesprochen/sprechen können, sie wären nie unmittelbar gewesen, aber der Vater im Krieg, die Briefe, die nach Hause kamen, die Gesamtstimmung,.... - und während sie erzählte, fingen andere Frauen an zu weinen und berichteten ähnliches. Am Schluss des Aufenthaltes in Ulm sagten diese Frauen, dieser Nachmittag sei wie eine Erlösung für sie gewesen, und mit das Wichtigste an diesem dreiwöchigen Aufenthalt. So tief sind die Empfindungen und Einprägungen also.
Erna
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Beitrag von Erna »

Liebe Erna,

ich wollte mich bei dir bedanken für die Anregung, das Buch "Die vergessene Generation" zu lesen. Es war für mich sehr informativ nicht nur wegen der tragischen Erfahrungen, die Kinder während des Krieges sammeln mussten. Ich fand es besonders interessant, welche psychischen Verbindungen Sabine Bode aufzeigt zwischen dem Erlebten in der Jugend oder sogar im Kleinkind-Alter und den Spätfolgen.
Vielleicht ist diese Generation nicht nur vergessen, sie ist immer noch zu still. Sie sollte sich vielleicht mehr zu Wort melden, weil sie weiss, was wirkliche Armut ist. Ich denke nicht daran, dass man sie bemitleiden sondern, dass man ihnen die Renten nicht missgönnen sollte.
Ich habe gerade erst das Buch beendet und deshalb die Diskussion versäumt. Jetzt beginnt ihr ja schon mit einem anderen Buch.
Es grüßt dich, Renate
HildegardN
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"Täterkinder"

Beitrag von HildegardN »

Zu der immer wieder aufgeworfenen Frage, weshalb das Thema "Kriegskinder" erst jetzt "öffentlich" wird, nimmt Luise Reddemann (Fachärztin für psychotherapeutische Medizin und Kriegskind) im Nachwort (S. 284) wie folgt Stellung:
"Es gibt verschiedene Gründe, warum kriegsbedingte Belastungen bei den deutschen Kriegskindern kaum wahrgenommen wurden. Der Hauptgrund hat wohl mit der Tatsache zu tun, dass die Bearbeitung dessen was die Deutschen in der Nazizeit angerichtet haben, im Bewußtsein der Deutschen - und selbstverständlich ihrer Opfer - Vorrang hatte."
Und sie fährt fort: "Wir, die Kinder der 'Täter' und 'Mitläufer', müssen uns heute erlauben, aus der verinnerlichten Sippenhaft herauszutreten und unser eigenes Leben zu wagen. Wir haben uns durch diese verinnerlichte Sippenhaft eines Stücks unseres ureigensten Lebens beraubt. Und es scheint mir an der Zeit, dass wir uns dieses unser Leben zurückholen. Wir werden den Teil, der nicht zu uns gehört, innerlich unseren Eltern zurückgeben müssen und lernen, die Scham und Trauer zu ertragen, dass sie nicht die Eltern waren, die wir uns wünschten."
Diese Worte haben mich betroffen gemacht. Wir sind doch nicht alle "Täterkinder", weil unsere Eltern den Zweiten Weltkrieg als Erwachsene erlebten und oft auch erlitten haben!
HildegardN
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