Julia Franck: Lagerfeuer

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Madeleine

Beitrag von Madeleine »

Das Buch habe ich vorgestern zu Ende gelesen. Wie Marlis will ich mir die Zeit nehmen, es noch einmal durchzulesen : es lohnt sich, von dem Inhalt und von der Sprache her.
Was wäre übrigens der Inhalt ohne die Sprache sowie den persönlich Blick von Julia Franck : nur ein Bericht mehr über ein Stück deutsche Geschichte. Hier haben wir es aber nicht mit historischer Forschungsarbeit oder mit Journalismus zu tun, sondern mit Literatur.
Auf Julia Francks Sprache möchte ich kurz zurückkommen, denn die deutsche Sprache ist mir sehr wichtig.
die Sprachen unserer beiden Länder haben sich innerhalb der letzten 50 Jahre derart entwickelt, schlecht entwickelt, meine ich, man hat sich so sehr an die "Verschmutzung" dieser Sprachen gewöhnt, dass man bei der Lektüre eines Buches wie "Lagerfeuer" entzückt ist, wie etwa vor einem Gemälde, das durch eine kunstvolle Restaurierungsarbeit zu neuem Glanz kommt. Julia Franck hat uns ein schönes Geschenk gemacht, indem sie so meisterhaft gezeigt hat, wie die deutsche Sprache durch die Literatur noch gerettet werden kann, woran man leider zweifelt, wenn man die Zeitungen liest oder "den kleinen Mann auf der (deutschen) Strasse" hört : kein Wunder also, dass diese Autorin schon deshalb von der Jury des deutschen Buchpreises anerkannt wurde.
Zum Inhalt nun :
Wie Renate, habe ich mich gefragt, ob der Titel "Lagerfeuer" keine Anspielung auf den brennenden Weihnachtsbaum wäre, d.h. ein Feuer, das statt Licht, Wärme, fröhliche Stimmung eher Gefahr bedeutet?
Viele Beiträge drücken Enttäuschung über die Passivität der Lagerbewohner aus und die Leserinnen, die aus Erfahrung sprechen können, sagen sogar, diese Passivität würde gar nicht der von ihnen erlebten Realität entsprechen. Nur sie können das beurteilen, ein normaler Leser, und dazu noch eine Französin wie ich, kann die Treue von Francks Blick nicht beewerten. Doch möchte ich ganz generell auf etwas aufmerksam machen :
Was könnte ein Schriftsteller mit Romanfiguren anfangen, die ihre Zukunft anpacken und mit dem trostlosesten Alltag problemlos fertig werden ? Beschäftigt sich die Literatur nicht von jeher lieber mit Menschen - ich denke dabei an Tschekov oder Beckett oder Thomas Bernhard –, die im Kampf ums Leben zu Grunde gehen , die sich "treiben lassen", (so Marlis über Nelly) ? Und trägt das im Lager herrschende Klima des Misstrauens nicht tatsächlich dazu bei, das Verzagen zu verbreiten, wie Renate schreibt ?
Eines wundert micht : In keinem Beitrag ist von dem Selbstmord der alten Dame sowie von Hans' Selbstmordversuch die Rede und ich frage mich warum. Gibt es Statistiken über solche Tragödien in den Notaufnahmelagern?
Noch etwas. Eine Stelle am Ende des Romans erschüttert mich : "Das sind wir doch alle, Verräter, hörte ich klar und deutlich Hans in meinem Rücken". Und ein Stückchen weiter …."Bist Du keine ? - Was, keine ? – Verräterin. – Was meinst du damit ? – Sind wir das nicht ? Du, ich, die da drüben. Egal, ob übergesiedelt, ausgebürgert, geflohen. Wir sind nicht da geblieben, wir haben nicht vor Ort und Stelle gekämpft. – Warum sollten wir kämpfen ? erwidert Nelly. Und Hans darauf : "Wer es ernst meint, der flieht nicht, der bleibt, nicht wahr ? "
Mir scheint der Schlüssel vom Rätsel, warum die Protagonisten vom Roman sich so passiv verhalten, steckt in diesen paar Sätzen. Sie haben ein schlechtes Gewissen und versuchen deshalb nicht ihr Leben besser zu gestalten. Was J. Franck da fragt, besser gesagt, fragen lässt, ist sehr schlimm. Was würden Sie, heute, als Deutsche auf Hans' Frage antworten ? Ich versuche mich an ihre Stelle als Deutsche, mehr noch als frühere Fluchtlinge zu versetzen und ich glaube, diese Beschuldigung würde mich hart treffen, ich würde sie als ungerecht empfinden.
Eine Frage noch : wie ist die Überschrift vom letzten Kapitel zu verstehen : "Nelly Senff will ja sagen" ? Wem gilt dieses "Ja" ? Gibt sie Hans recht ?
Als ich das Buch "Feuerlager" gelesen habe, musste ich selbstverständlich an einen Film über die Staatssicherheit denken, der in Frankreich einen sehr grossen Erfolg gehabt hat : "das Leben der anderen" .Ich möchte gern wissen, ob es in Deutschland auch der Fall gewesen ist und wie die Deutschen auf das Buch "Lagerfeuer" reagiert haben.
Ich bitte um Verzeihung, wenn ich mit meinem Schuldeutsch zur "Verschmutzung" der deutschen Sprache beitrage. Und ich danke Ihnen, mir mit Ihren Beiträgen die Gelegenheit zu geben, Hochdeutsch zu lesen : ein Leckerbissen ist das !
Erna
Beiträge: 878
Registriert: Freitag 1. April 2005, 10:47

Beitrag von Erna »

Liebe Madeleine,
ich freue mich sehr über Deinen Beitrag. Zunächst, ich empfinde es auch als schrecklich, wie die Sprache ins Negative abgleitet. Dann sasge ich mir wieder, haben das nicht alle Generationen vor uns auch gedacht? Und trotzdem haben es die Sprachen, ich nehme an, dass es bei den anderen auch so ist, überstanden. Schlimm nur finde ich, wenn diese gewöhnliche Sprache in die Literatur Eingang findet. Mir reicht es schon, wenn die Moderatoren von Funk und Fernsehen sie gebrauchen. Dabei bin ich mir bewusst, dass Sprache lebendig ist und mein Unbehagen ein bisschen auf mein Alter zurückzuführen ist. Ich mag auch manche Sendungen nicht mehr sehen.
Meine Erfahrung mit dem Lager und die, der Menschen in "Lagerefeuer" sind unterschiedlich. Hildegard und ich sind vor Gewalttätigkeiten geflohen. Ich wussten genau, ich bin so tief unten, wie es tiefer nicht mehr ging. Deswegen habe ich nichts erwartet, was die Menschen, im Buch aber tun. Die Heilung des jungen Mannes vom Krebs. Hans vielleicht seine Anerkennung, Nelly wenigstens die Arbeit in ihrem Beruf. Da Verwandte von mir zu Hause geblieben sind, kann ich beurteilen, wie es mir voraussichtlich ergangen wäre. Ich habe kein schlechtes Gewissen, gegangen zu sein.
Für heute erst einmal soviel.
Einen sonnigen Sonntag
Erna
ursel

Sprache

Beitrag von ursel »

Liebe Erna,
Du hast vergessen, Madeleine zu sagen, dass sie ein wunderbares, anspruchsvolles Deutsch zelebriert. Mir ist es jetzt schon mehrfach passiert, dass ich nicht daran denke, dass sie Französin ist.
Liebe Madeleine,
den Film "Das Leben der anderen" habe ich leider noch nicht gesehen. Ich kenne aber einige Leute, die ihn sehr gut finden.
Eure Beiträge sind sehr lesenswert!
Gruß
ursel
Marlis Beutel
Beiträge: 364
Registriert: Mittwoch 5. April 2006, 18:54
Wohnort: 64646 Heppenheim

Liebe Madeleine und liebe Lesefreunde,

Beitrag von Marlis Beutel »

Du könntest Gechichten in deutscher Sprache erzählen. Hast Du schon daran gedacht, Madeleine?

Mir erscheint es gar nicht so seltsam, dass wir den Selbstmord und den versuchten Selbstmord bisher nicht erwähnten, denn sie sind nur die logische Folge dessen, was überhaupt in diesem Lager geschieht oder auch nicht geschieht. Hans hat der alten Frau das Seil besorgt. Aber kein Mensch käme auf die Idee der Beihilfe zum Selbstmord.

Was ich eher als Steigerung der Spannung empfand, war die Verdächtigung von Hans durch die Aussage der Grit Mehring. Damit geriet zumindest für den Leser vorübergehend auch Nelly in Bedrängnis.

Interessant finde ich den Titel "Lagerfeuer", denn was den Menschen in diesem Lager am meisten fehlt, ist Wärme.

Viele Grüße von der Bergstraße, Marlis
Marlis Beutel
Madeleine

Madeleine übt Deutsch

Beitrag von Madeleine »

Das Buch habe ich vorgestern zu Ende gelesen. Wie Marlis will ich mir die Zeit nehmen, es noch einmal durchzulesen : es lohnt sich, von dem Inhalt und von der Sprache her.
Was wäre übrigens der Inhalt ohne die Sprache sowie den persönlich Blick von Julia Franck : nur ein Bericht mehr über ein Stück deutsche Geschichte. Hier haben wir es aber nicht mit historischer Forschungsarbeit oder mit Journalismus zu tun, sondern mit Literatur.
Auf die Sprache möchte ich kurz zurückkommen, denn die deutsche Sprache ist mir sehr wichtig.
die Sprachen unserer beiden Länder haben sich innerhalb der letzten 50 Jahre derart entwickelt, schlecht entwickelt, meine ich, man hat sich so sehr an die "Verschmutzung" dieser Sprachen gewöhnt, dass man bei der Lektüre eines Buches wie "Lagerfeuer" entzückt ist, wie etwa vor einem Gemälde, das durch eine kunstvolle Restaurierungsarbeit zu neuem Glanz kommt. Julia Franck hat uns ein schönes Geschenk gemacht, indem sie so meisterhaft gezeigt hat, wie die deutsche Sprache durch die Literatur noch gerettet werden kann, woran man leider zweifelt, wenn man die Zeitungen liest oder "den kleinen Mann auf der (deutschen) Strasse" hört : kein Wunder also, dass diese Autorin schon deshalb von der Jury des deutschen Buchpreises anerkannt wurde.
Zum Inhalt nun :
Wie Renate, habe ich mich gefragt, ob der Titel "Lagerfeuer" keine Anspielung auf den brennenden Weihnachtsbaum wäre, d.h. ein Feuer, das statt Licht, Wärme, fröhliche Stimmung eher Gefahr mit sich bringt ?
Viele Beiträge drücken Enttäuschung über die Passivität der Lagerbewohner aus und die Leserinnen, die aus Erfahrung sprechen können, sagen sogar diese Passivität würde gar nicht der von ihnen erlebten Realität nicht entsprechen. Nur sie können das beurteilen, ein normaler Leser, und dazu noch eine Französin wie ich, kann die Treue von Francks Blick nicht beewerten. Doch möchte ich ganz generell auf etwas aufmerksam machen :
Was könnte ein Schriftsteller mit Romanfiguren anfangen, die ihre Zukunft anpacken und mit dem trostlosesten Alltag problemlos fertif werden ? Beschäftigt sich die Literatur nicht von jeher lieber mit Menschen - ich denke dabei an Tschekov oder Beckett –, die im Kampf ums Leben zu Grunde gehen , die sich "treiben lassen", (so Marlis über Nelly) ? Und trägt das Klima des Misstrauens im Lager nicht tatsächlich dazu bei, das Verzagen zu verbreiten, wie Renate schreibt ?
Eines wundert micht : In keinem Beitrag ist von dem Selbstmord der alten Dame sowie von Hans' Selbstmordversuch die Rede und ich frage mich warum. Gibt es Statistiken über solche Tragödien in den Notaufnahmelagern?
Noch etwas. Eine Stelle am Ende des Romans erschüttert mich : "Das sind wir doch alle, Verräter, hörte ich klar und deutlich Hans in meinem Rücken". Und ein Stückchen weiter …."Bist Du keine ? - Was, keine ? – Verräterin. – Was meinst du damit ? – Sind wir das nicht ? Du, ich, die da drüben. Egal, ob übergesiedelt, ausgebürgert, geflohen. Wir sind nicht da geblieben, wir haben nicht vor Ort und Stelle gekämpft. – Warum sollten wir kämpfen ? erwidert Nelly. Hans darauf : "Wer es ernst meint, der flieht nicht, der bleibt, nicht wahr ?" Was J. Franck da sagt oder besser sagen lässt ist sehr schlimm. Was würden Sie, heute, als Deutsche auf Hans Frage antworten ? Ich versuche mich an ihre Stelle als Deutsche, mehr noch als frühere Fluchtlinge zu versetzen und ich glaube, diese Beschuldigung würde mich hart treffen, ich würde sie als ungerecht empfinden.
Eine Frage noch : wie ist die Überschrift vom letzten Kapitel zu verstehen : "Nelly Senff will ja sagen" ? Wem gilt diese "Ja" ? Gibt sie Hans recht ?
In Frankreich hat der Film über die Staatssicherheit "das Leben der anderen" einen sehr grossen Erfolg gehabt. Ich möchte gern wissen, ob es in Deutschland auch der Fall gewesen ist und wie die Deutschen auf das Buch "Lagerfeuer" reagiert haben.
Ich bitte um Verzeihung, wenn ich mit meinem Schuldeutsch zur "Verschmutzung" der deutschen Sprache beitrage. Und ich danke Ihnen, mir mit Ihrem Beiträgen die Gelegenheit zu geben, Hochdeutsch zu lesen : ein Leckerbissen ist das !
Madeleine

Madeleine geht mit dem Computer komisch um

Beitrag von Madeleine »

Madeleine hat unversehens ihren Beitrag zweimal versandt.
Mir bleibt nur eines übrig :
Stotternde, doch lie-ie-be Grü- ü-sse zu schi-i-cken !
Brigitte Höfer
Beiträge: 440
Registriert: Donnerstag 9. Februar 2006, 17:51
Wohnort: 61440

Flüchten oder Standhalten

Beitrag von Brigitte Höfer »

Liebe Madeleine,
1976 hat der Psychosomatiker Hans-Eberhard Richter ein Buch mit dem Titel "Flüchten oder Standhalten" geschrieben. In groben Linien gesagt plädiert er dafür, weder sich und seine Probleme noch die problematischen Menschen zu isolieren.
Aus der Isolation erwachsen weitere Probleme, die auch zu einem Selbstmord führen können. Da ältere Menschen oft isoliert sind und keine Perspektive mehr sehen, wählen sie den Freitod. Das kann man als Verrat am Leben und als Flucht begreifen.
Hans versucht vor den Forderungen, die seine Tochter an ihn haben könnte, davonzulaufen. Es gelingt ihm nicht und er muss standhalten und sich den Problemen stellen.
Der Sinn des letzten Kapitels scheint mir zu sein, dass Nelly ihm ein Solidaritätsangebot macht - beide haben jetzt Kinder im Lager, und gemeinsam ist besser als einsam.
Noch eines haben wir nicht besprochen, nämlich dass die Stasi Hans bis ins Lager hinein verfolgt durch die Denunziation der Grit Mehring, die es gar nicht gibt. Er wird von den Menschen, die zusammen mit ihm im Lager leben, verprügelt. Man muss sich das mal vorstellen.
By the rivers of Babylon: das Lied begleitet Nelly; nicht immer ist sie über das Gedudel erfreut, aber letztendlich ist es ihr Thema: die Suche nach dem gelobten Land und die Sehnsucht nach Freiheit.
Lagerfeuer: Hurra, hurra, die Schule brennt! - Vielleicht würde Nelly in Kauf nehmen, dass der brennende Weihnachtsbaum das Lager beseitigt. Ist natürlich nur eine Idee von mir. Aber bei ihrer Leidenschaftlichkeit könnte ich mir's schon vorstellen. (Schaut mal unter Google nach, was da so unter "Lager" zu finden ist.)
Insgesamt finde ich es eine gelungene Parabel um das Thema Lager. Diese Gewalt, auch innerhalb der Lagerbewohner! Ein Bild, das mich auch sehr angerührt hat, war Aleksej und der Rabe. Kennt Ihr das Bild von Picasso: Frau und Rabe? Ein besseres Bild zum Thema Depression kann ich mir gar nicht vorstellen. Was dieser Junge mitgemacht hat!
Hat Julia Franck einen Bruder? oder hat sie nur eine Zwillingsschwester? Das würde ich gerne wissen.
Der Film "Das Leben der Anderen" war ein großer Erfolg in Deutschland, aber auch "Goodbye Lenin", der die Wende mit viel Komik beleuchtet hat.
In Bezug zum Thema Überwachungsstaat haben wir ja noch einiges zu erwarten.
Liebe Grüße aus Oberursel.
renate breiter2

Beitrag von renate breiter2 »

Mich beeindrucken eure Sichtweisen und Interpretationen des Lagerfeuers. Lagerfeuer kann etwas Wärmendes sein, das Menschen zusammenführt, aber auch wie ich bereits sagte "das Lager brennt". Auf mich wirkte dieses Buch nur negativ - als wären die Einsitzenden nur im Lager, um danach in ihre alte Umwelt zurückzugehen - nicht nach vorwärts in das deutsche Wirtschaftswunderland - oder ist dieses die Fiktion? Ich dachte immer, diese Lager seien "Durchgangslager"; es gibt keine Erklärung, warum dieMenschen so lange Zeit im Lager zubringen mussten. Nein, ich möchte das Buch trotz der guten Sprache nicht nochmals lesen. Aber die "Mittagsfrau" als Alternative soll ja ähnlich im Stil sein. Wer hat sie gelesen?
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