Julia Franck: Lagerfeuer

Hier werden alle Bücher einsortiert, deren Diskussion beendet ist.
ursel

Julia Franck: Lagerfeuer

Beitrag von ursel »

Wir lesen jetzt das Buch von Julia Franck: Lagerfeuer und diskutieren– die Lektüre begleitend - hier im Forum. Wer sich noch kurz informieren will über Buch und Autorin, kann das auf den Lesen-Seiten tun:
http://www.gemeinsamlernen.de/vile-netz ... tik/Franck

Besonders interessant finde ich das 3sat Interview (Video, 25 Minuten), zu finden auf den Lesen-Seiten unter Materialien. Aber wer will, kann sich auch erst einmal ganz auf seine eigenen Eindrücke verlassen und einfach nur mit der Lektüre beginnen. Hauptsache, die Lese-Erlebnisse finden Eingang in dieses Forum :)
ursel
HildegardN
Beiträge: 262
Registriert: Mittwoch 20. September 2006, 14:13

Beitrag von HildegardN »

Julia Francks Roman "Lagerfeuer" habe ich auch deshalb mit Interesse gelesen, weil ich das Lagerleben einst kennen gelernt habe. Kurz vor Kriegsende gelangte ich mit einem ostdeutschen Flüchtlingstransport nach Dänemark und wurde hier interniert. In knapp 2 1/2 Jahren Internierungszeit lernte ich drei verschiedene Internierungslager kennen.

Zu Beginn ihres Romans schildert Julia Franck den Grenzübertritt des DDR-Flüchtlings Nelly Senf. Eigentlich ist es eine genehmigte Ausreise, doch wie Nelly Senf die unwürdige und demütigende Abfertigung durch die ostdeutschen Grenzsoldaten erleiden muss, kommt eher einer Bestrafung gleich, die so, wie sie geschildert wird, kaum vorstellbar ist.

In den vielen Stunden des Wartens und der schikanösen Behandlung an der Grenze werden, wie in einer Rahmenhandlung, einige Ausschnitte aus dem Leben der ausreisenden Nelly Senf eingeblendet, die sich, zusammen mit ihren beiden Kindern und dem vermeintlich künftigen Ehemann, auf dem Weg in das Lager Berlin-Marienfelde befindet.

Was Nelly Senf in dem Lager erlebt, mit wem sie dort vor allem zusammentrifft, wird im Folgenden berichtet. Alle auftretenden Personen
erzählen aus der Ich-Perspektive. Obwohl ich das sehr schätze, stellte sich mir zu Beginn eines neuen Kapitels ab und zu die Frage: "um wen handelt es sich hier"? Julia Franck hat diese Frage gar nicht aufkommen lassen, und in manchen Kapitelüberschriften bereits den nötigen Hinweis gegeben.

Soweit für heute. Ich habe schon weiter gelesen. Gruß Hildegard
Madeleine

Madeleine und die deutsche Geschichte

Beitrag von Madeleine »

Ich habe schon die Hälfte des Romans gelesen. Welch eine schöne, präzise Sprache : ein Genuss !
Doch fehlen mir die geschichtlichen Kenntnisse, um das Buch genau verstehen zu können. Wer möchte mich über diese Lager aufklären : wo gab es welche, wer leitete sie, wer musste in diese Lager,wie lange usw...
Der Beitrag von Hildegart beeindruckt mich, denn er berichtet von Erlebnissen.
Danke für die Nachhilfestunde !
ursel

Notaufnahmelager

Beitrag von ursel »

Liebe Madeleine,
Du bist mir weit voraus, ich habe noch nicht so viel gelesen. Zur Lagerfrage steht in einem 3sat-Beitrag, dass Marienfelde Ende der 70er Jahre für Tausende aus der DDR und Osteuropa das "einzige Nadelöhr zur Freiheit" war. Du kannst den Beitrag hier finden
http://www.3sat.de/3sat.php?http://www. ... index.html
In Wikipedia habe ich einen Eintrag gefunden
http://de.wikipedia.org/wiki/Notaufnahm ... arienfelde
und einen Hinweis auf diese Internet-Seite
http://www.notaufnahmelager-berlin.de/
Dort ist die Rede von 1,35 Millionen Menschen, die seit 1953 das Lager Marienfelde passierten.
Ich denke, dass hier im Forum sicher noch Antworten aus eigenem Erleben kommen, ich selbst weiss leider nicht so viel darüber.
Gruss ursel
Madeleine

Beitrag von Madeleine »

Danke schön, Ursel. Durch die angegebenen Links bin ich gerettet. Jetzt will ich mich in aller Ruhe über das Notaufnahmelager Marienfelde informieren. Ohne den genauen historischen Kontext wäre ich an dem Inhalt des Buches vorbeigegangen.
Als Französin weiss ich ja zu wenig über das Los der deutschen Bevölkerung direkt nach Kriegsende und ich freue mich die Gelegenheit zu haben, diese Lücke zu füllen.
Marlis Beutel
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Liebe Mitlesende,

Beitrag von Marlis Beutel »

Das Buch ist so spannend, dass man es ungern aus der Hand legt. Vor allem wollte ich mehr über Nelly Senff erfahren und wie alles für sie weiter geht. Aber die Autorin beschränkt sich auf das Lager, und als Leser ist man keineswegs enttäuscht deswegen, so intensiv werden die Ereignisse dargestellt, mit denen die Romanfiguren konfrontiert werden.
Beeindruckt hat mich z.B. das erste Kapitel mit den entwürdigenden Untersuchungen, die Nelly fast so erträgt als wäre sie gar nicht anwesend und wäre mit ihren Gedanken ganz woanders. Man fragt sich an dieser Stelle unwillkürlich, was für ein Mensch diese Nelly ist, muss sich als Leser aber gedulden und der Autorin folgen, die eben nicht das niedergeschrieben hat, was der Leser erwartet.
Es ist diese Intensität in der Darstellung, die mich beeindruckt.

Viele Grüße von der Bergstraße, Marlis
Marlis Beutel
Erna
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Lager

Beitrag von Erna »

Zu den Menschen, die Lager kennengelernt haben, gehöre auch ich. Dabei ist es nicht bei einem geblieben. Da mein Leben immer aus Veränderungen bestand, waren es mindestens 5 verschiedene. Immer wenn Deutsche nach Deutschland kamen und keine Wohnung hatten, kamen sie in ein Lager. Je nachdem, wie groß die Wohnungsnot hier noch war, bekam man etwas mehr oder weniger Wohnraum. Wenn eine Familie einen oder gar mehrere Räume für sich hatte, war es fürstlich. Wir waren z.B. in Österreich mit sechs Personen aus 2 Familien in einem Raum.
In unserer Gegend hier war ein Lager in Offenbach-Bürgel und die Befragungsstelle der Amerikaner in Oberursel.
Erna
HildegardN
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Beitrag von HildegardN »

"Was für ein Mensch ist Nelly Senf?", fragt Marlis, und obwohl ich das Buch inzwischen zuende gelesen habe, konnte ich das nicht herausfinden. Allerdings hat sie mich enttäuscht. Ebenso wie die beiden anderen, Krystina Jablonowska und Hans Pischke, scheint sie weggelaufen, aber nicht angekommen zu sein.
Alle drei hatten einen Grund, die DDR zu verlassen, aber welches ist ihre Perspektive? Nur die Polin Krystina bemüht sich um eine Beschäftigung, während Hans Pischke m.E. "die Zügel schleifen lässt" bzw. sich fast passiv verhält.
Und Nelly Senf, die zwei Kinder zu versorgen hat, lässt keine Zukunftplanungen oder gar Aktivitäten erkennen, sondern beschäftigt sich eher mit sich selbst. Hat sie keine Perspektive und vielleicht auch nicht das normale Verantwortungsgefühl gegenüber ihren Kindern und ebenso gegenüber der Gesellschaft?
Sonntagsgrüße von Hildegard
Marlis Beutel
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Liebe Hildegard,

Beitrag von Marlis Beutel »

was Du schreibst, empfinde ich ähnlich. Nur bei Krystina verhält sich die Sache anders: Sie kommt wohl aus Polen und will ihrem kranken Bruder helfen. So habe ich es verstanden, will aber nicht wirklich vorgreifen.
Ich habe aber eine Frage an Dich und an Erna: Leuchtet Euch ein, dass man ein Buch so über das Lagerleben schreiben kann, wie Julia Franck das getan hat? Vermutlich hatte man damals zunächst keine Perspektive.

Viele Grüße von der Bergstraße, Marlis
Marlis Beutel
HildegardN
Beiträge: 262
Registriert: Mittwoch 20. September 2006, 14:13

Beitrag von HildegardN »

Liebe Marlis, natürlich hast Du Recht, Kristina wollte ihrem kranken Bruder helfen, das war der Grund für ihre Ausreise. Wie aber wollte sie ihr künftiges Leben gestalten? Ich nehme an, dass sie dies tatkräftig in die Hand nehmen wollte, zumindest weist die Aufnahme einer vorübergehenden Beschäftigung darauf hin. Mehr habe ich darüber nicht gefunden, und das will ich keinesfalls der Autorin anlasten. Allerdings bin ich am Schluss ziemlich enttäuscht, dass alles offen bleibt. Was hat die Autorin ihren Lesern wohl sagen bzw. mitgeben wollen, ausser den negativen Erfahrungen der Flüchtlinge bzw. Aussiedler und der Beschreibung eines Lagerlebens, das m.E. mit soviel Hoffnungslosigkeit belastet ist.

Die Frage, ob man das Lagerleben so, wie Julia Franck es geschildert hat, beschreiben kann, will ich aus meiner Sicht beantworten. Ich habe meine Internierungszeit in Dänemark in einigen Zeitzeugenberichten mehrfach beschrieben und zwar ausschliesslich aus eigener Sicht. In einem Roman hätte ich es sicher anders beschrieben und wohl auch differenzierter, der Aufgabenstellung bzw. dem Titel entsprechend. Dabei hätte ich allerdings berücksichtigt, dass auch Menschen im Lager eine Zukunft haben und sich zumindest in Gedanken damit beschäftigen, wenn sie vielleicht auch noch nicht sofort aktiv werden. Aber sie müssen es doch wollen und zum Ausdruck bringen, besonders wenn sie eine Familie haben.

Als ich nach 2 1/2jähriger Internierung im Herbst 1947 in die DDR entlassen wurde (wo ich allerdings nicht bleiben wollte), mußte ich zunächst aus "Überprüfungsgründen" 1-2 Wochen im Heimkehrerlager Evershagen bei Rostock bleiben. Das Verlassen des Lagers war nicht gestattet. Dennoch gelang es mir, mich nach Rostock durchzuschlagen, weil ich eine Zeitungsanzeige mit einem Stellenangebot gesichtet hatte. Ich wollte auf jeden Fall meine Zukunft gestalten (und es blieb mir auch nicht s anderes übrig, wenn ich überleben wollte). Fast wäre ich damals beim Rundfunksender Schwerin gelandet, aber es sollte anders kommen. -
Gruß aus Bad Homburg, Hildegard
Madeleine

Beitrag von Madeleine »

Aus meiner Fundgrube (sprich (Bücherschrank) hole ich heute zufällig eine Sondernummer von der Zeitschrift Spiegel "Die Flucht der Deutschen" Spiegel-Serie über Vertreibung aus dem Osten (Februar 2002). Vielleicht ist sie im Internet zu finden ?
Das Thema der Vertriebenen ist uns in Frankreich besonders durch das Buch von G.Grass "im Krebsgang" bekannt, von dem in den Medien damals viel die Rede gewesen ist. (das Buch habe ich allerdings nicht gelesen, nur davon gehört)
Alles was in dem Forum zu lesen ist, finde ich spannend. Die Zeugnisse von H. und E. sind natürlich für mich besonders beeindruckend.
Was Francks Roman betrifft, muss ich sagen, dass die Schönheit der Sprache das Thema beinahe verdrängt.Das Thema selbst , d. h. der Alltag im Lager hat Primo Levi schon in derselben Art geschilder (im Buch "Ist das ein Mensch ?"). Damit meint ich dieses "struggle for life", Es war ein Kampf, der nicht wie man es glauben könnte, unbedingt gegen den gemeinsamen Feind geführt wird, sondern gegen den Mitmenschen, der dasselbe Los innerhalb des Lagers zu erdulden hat. So muss man an das Theaterstück von Jean-paul Sartre denken : "Geschlossene Gesellschaft" (die Hölle, das sind die anderen)
Bis zum nächsten Mal. Inzwischen lese ich weiter ! Ich danke all meinen netten "Informationsquellen" ganz herzlich. Alle Dokumente, die privaten und die on-line-Texte gewissenhaft gelesen.
Erna
Beiträge: 878
Registriert: Freitag 1. April 2005, 10:47

Beitrag von Erna »

Es ist ein bisschen schade, dass von den Jüngeren wenig zu dem Roman geschrieben wird.
Wenn ich an das Lager zurückdenke, kann ich mich nicht erinnern, dass es sich so negativ auf das Verhalten der Bewohner ausgewirkt hat. Nur wenige haben nicht versucht, sofort irgend eine Arbeit, Beschäftigung zu bekommen und selbst Wäsche waschen galt dabei nicht als schlecht. Niederdrückend für den Einzelnen war, nichts zu tun.
Julia Franck hat m.A. nach die Protagonisten so ausgewählt, dass sie nicht der "normalen" Bevölkerung entsprechen.so z.B. Hans, Susanne, aber auch Nelly und sogar die Kinder von Nelly. Die Erwachsenen sind so passiv.
Was ich interessant finde, ist die Form, die J.F. gewählt hat. Jedes Kap. hat seine Überschrift und ist ein in sich abgeschlossener Beitrag und trotzdem bildet der Roman ein Ganzes.
Erna
Marlis Beutel
Beiträge: 364
Registriert: Mittwoch 5. April 2006, 18:54
Wohnort: 64646 Heppenheim

Nelly Senff

Beitrag von Marlis Beutel »

Liebe Hildegard und liebe Erna,

Euch beiden danke ich herzlich dafür, dass Ihr meine Frage nach Euren Lagererfahrungen beantwortet habt im Vergleich zu Julia Francks Buch.
Die einzelnen Kapitel lesen sich wie Kurzgeschichten, trotzdem ist der Roman eine Einheit. So habe ich es auch empfunden, Erna. Auch sprachlich ist das Werk überzeugend, wie Du schreibst, Madeleine. Aber was für ein Mensch ist Nelly Senff? Ich lese die Kapitel zum zweiten Mal, um das herauszufinden. Nicht einmal ihre Liebe zu dem Russen überzeugt mich wirklich. Ihre Gefühle werden kaum beschrieben. Lässt sie sich treiben? Ich habe mich gefragt, ob die beiden Kinder demnächst einen farbigen Bruder kriegen. Nein, das Buch endet vorher. Und mit dem zweiten Lesen bin ich noch nicht fertig.

Viele Grüße von der Bergstraße, Marlis
Marlis Beutel
MariaGM
Beiträge: 23
Registriert: Samstag 4. Juni 2005, 12:07
Wohnort: Gummersbach

Beitrag von MariaGM »

Liebe Forumsmitglieder,
ich kann im Augenblick aus zeitlichen Gründen nicht mitdiskutieren, habe aber alle Eure Beiträge gelesen und finde sie so interessant, das ich mir jetzt sofort das “Lagerfeuer“ bei Amazon bestellen werde. Danke für all die Anregungen. Ich freue mich, wenn ich einige von Euch in Bad Urach treffen werde.
renate breiter2

Unsicherheit

Beitrag von renate breiter2 »

Heute morgen habe ich das Buch zu Ende gelesen. Ich bin konfus: heißt Lagerfeuer, dass der Weihnachtsbaum brennt?
Alle Beziehungen sind nachvollziehbar, jedoch irgend etwas fehlt ihnen - und das vielleicht wegen des Backgrounds der Lagerinsassen, die voller Misstrauen sind? Am liebsten würde ich herausziehen, wie die Beziehung von Nelly zu ihren Kindern ist - schon fürsorglich und liebevoll, aber sie überlässt sie auch oft sich allein; sie merkt nicht, dass der Sohn untergewichtig ist. Merkt sie überhaupt, dass sie ein Leben am
Rande des Existenzminimums führt - ja doch, denn in der letzten "Weihnachtsszene" wird es ins Absurde geführt.
Auch die Schilderung der Ehe des farbigen CIA-Offiziers(der einzige Nichtinsasse) passt nicht - weder wird er aus Nellis Sicht beschrieben noch aus der Sichtweise der anderen Lagerinsassen.
Das Buch ist flüssig geschrieben und auch spannend, aber diese Lagerinsassen sind nicht der Prototyp derer, die in die Zukunft blickend, aktiv gestaltend, nichts wie raus und anpacken wollen.
Gesperrt