Ulla Hahn: Das verborgene Wort

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Carmen Stadelhofer
Beiträge: 283
Registriert: Donnerstag 31. März 2005, 19:48
Wohnort: Ulm

Beitrag von Carmen Stadelhofer »

Ich konnte vom Film nur die zweite Hälfte sehen. Für mich waren es mehr oder weniger gelungene kleine biografische Episoden, aber es kam nicht rüber, was mich an dem Buch so fasziniert: die subtile Vernetzung der verschiedenen Gedanken-und Handlungsfäden in und durch poetische Sprache, die eben die treffliche Beschreibung des "Milieus" ausmachen.
HildegardN
Beiträge: 262
Registriert: Mittwoch 20. September 2006, 14:13

Das verborgene Wort

Beitrag von HildegardN »

"Wissensdurst" - das war der vorherrschende Eindruck, den ich beim ersten Lesen von Ulla Hahn's Roman "Das verborgene Wort" gewann. Dass die Befriedigung von Wissensdurst oder auch Wissenshunger auch mit eigenen Opfern verbunden sein kann, zeigt schon die (manchmal auch eigene) Erfahrung. Dass die Folgen Umstände bzw. Folgen des Wissenserwerbs aber so schwerwiegend , so gravierend sein können, wie Ulla Hahn sie hier schildert, hat mich sehr beeindruckt und auch veranlasst, die TV-Sendung abzuschalten.
Zu sehr erinnerte mich die Darstellung an meine Volksschulzeit in einer zweiklassigen Dorfschule, in der vor allem die sozial benachteiligten Kinder unter der "Knute" des Lehrers leiden mussten. Oft wurden sie wegen Versäumnissen bestraft, die eigentlich ihre Eltern zu verantworten hatten. Dass dies auch die anderen anwesenden Kinder belastete, haben die Lehrer wohl nicht erkannt oder einfasch ignoriert.
Und Hildegards Vater? Wem galten eigentlich die Schläge - vielleicht auch sich selbst und seiner unbefriedigenden Situation? Wollte er sich dadurch irgendwie befreien? Eine spätere Situation im zweiten Teil der TV-Sendung, die ich kurz einschaltete, und in der er seiner Tochter u.a. die Bücher entreist, weist darauf hin, dass die Gewalttätigkeit gegenüber seiner Tochter auch den Vater belastete. Mehr habe ich nicht am Bilschirm verfolgen können, sonder habe es vorgezogen, aufgrund der Schilderungen der Autorin nun lesend eigene Bilder entstehen zu lassen.

Der rhein. Dialekt, den ich anfangs als Hindernis befürchtete, stört mich kaum, denn ich wurde in meinr Kindheit bereits mit einem Danziger oder vielleicht auch westpreussischen Dialekt konfrontiert. Zwar wurde in meiner Familie kein Dialekt gesprochen, teils auch wohl nicht verstanden, und uns Kindern auch untersagt. Das hinderte uns allerdings nicht, abends heimlich in der Leutestube zu verweilen und die dort übliche Umgangssprache zu erlernen, und das war natürlich der heimische Dialekt. Natürlich sind die regionalen Dialekte unterschiedlich, aber die einst erworbenen Grundkenntnisse helfen mir jetzt sehr, das Geschriebene zu verstehen und weiter zu verfolgen. Ich habe inzwischen das erste Drittel der Lektüre überschritten.
Hildegard aus Bad Homburg
Erna
Beiträge: 878
Registriert: Freitag 1. April 2005, 10:47

Beitrag von Erna »

Beim Vergleich Buch und Film schneidet das Buch viel besser ab. Es sind m.M. nach die vielen Details, die das Interessante dieses Buches ausmachen. Wenn ich z.B. von den pubertierenden Schülerinnen, die tanzend vor dem Haus ihres Lehrers sich aufhalten, lese, fällt mir gleich die Episode mit unserem Religionslehrer (Priester) ein, der sich versetzen lassen musste, weil er sich der Mädchen nicht erwehren konnte. Da ging ich einmal ein Jahr in ein Mädchengymnasium.
Es gibt immer wieder so wunderbare Erzählungen einzelner Erreignisse.
Erna
Klaus Rüger

Chancengleichheit

Beitrag von Klaus Rüger »

Ich habe das Buch noch nicht gelesen, nur den Film angeschaut !
Es war doch schockierend anzusehen, in welcher dumpfen Atmosphäre das Mädchen Hildegard aufwuchs.
Meine Eltern stammten aus einer Familie, die dem ostsächsischen Industrieproletariat angehörte und politisch SPD-orientiert war. Mit der evangelischen Landeskirche in Sachsen hatten die meisten Arbeiter am Ort , auch vor 1945, nichts am Hut . Sie waren der Meinung, daß die Kirche immer auf Seiten der "Mächtigen" gestanden habe und sie nie vertreten habe.
Meine Großeltern hatten nicht das Geld, meine wißbegierige Mutter vor dem Krieg studieren zu lassen. Deshalb war sie froh, in der DDR studieren und als Neulehrerin arbeiten zu können ! Mein Vater war ja im Krieg gefallen. Sie wurde leider später durch die erlittenen Entbehrungen (Hunger , Kälte usw. ) krank und starb 1959.
Die DDR fiel in ihren ersten Jahren (im Gegensatz zu den heutigen Verhältnissen ! !) in das Extrem , Arbeiter- und Bauernkinder beim Studium den Vorzug zu geben, selbst wenn Mitschüler aus dem Milieu von Geschäftsleuten und Angestellten bessere Noten hatten ! Später kam man dann von einem solchen Unsinn ab !
Mfg
Klaus
renate breiter2

Beitrag von renate breiter2 »

Ich habe mich noch nicht weiter als 30 Seiten ins das Buch vertieft. Aber die Bilder des 2-teiligen Films waren eindrucksvoll genug. Einige Fragen bleiben offen: Waren der Vater und die Mutter Analphabeten? Die Aggressivität des Vaters - aufgrund von Alkohol? - lässt mehr Fragen offen als sie klärt; aber dass er sich hilflops und minderwertig fühlte, kann man gut nachvollziehen.
Die Mithilfe beim "höheren" Bildungsweg eines Mädchens der Dorfoberen scheint mir ungewöhnlich oder ist das wieder ein Unterschied zwischen STadt und kleinem Dorf? Aber auch 1950 in Frankfurt fand man die mittlere Reife der kleinen Renate gut genug!
Der Bruder ist im Film sehr unauffällig geschildert. Übertrieben fand ich die pubertierenden Szenen im Film. Mal sehen ob ich über Ostern im Buch weiterkomme.
Madeleine

Beitrag von Madeleine »

Liebe Marlis : Mache Dir keine Sorgen : das Buch gefällt mir sehr und bald erzähle ich welche Kindheitserinnerungen es in mir wachruft (dabei bin ich erst auf Seite 164, weil der dumme Regen streikt und der Garten auf mich wartet) und Platt sprech ich nun fast fliessend, wie ihr an Hand folgenden Textes feststellen könnt (viel Vergnügen übrigens) :
Benrather Linie
"De Benrather Linie is de bekanntste Isoglosse in Kontinentaleuropa. Dat is de Grenz twüschen Nedderdüütsch un Hoochdüütsch. Dat Hööftmarkmaal is dat vele Wöör de in’t Hollandsche un in dat Plattdüütsche dat k hebbt, süden vun de Grenz dat ch hebbt. In Limborg löppt de Grenz twüschen Heerle in den Noorden un Kerkraad in den Süden. De Gemeente Lankgraaf warrt so in twee Delen deilt.
Eupen in Belgien is noorden vun de Benrather Linie. Dat heet, dat dat Eupener Platt to dat Nedderdüütsche höört. De Nedderlandschen Öörd Vaals, Bocholtz un Kerkraad höörn to dat Medeldüütsche. De Benrather Linie geiht wieder in dat Rebeet vun de Stadt Düsseldörp, wo de Stadtdeel Benrath op de Grenz, män süden vun de Grenz liggt. Berlin, Siegen un Kassel sünd ok an de Grenz un süden dorvun. Inst güng de Grenz bet to dat Ermland in Polen."
Jetzt gehe ich zur Beichte : der Text ist nicht von mir, sondern von ... Wikipedia
Erna
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Registriert: Freitag 1. April 2005, 10:47

Beitrag von Erna »

Nun habe ich ungefähr die Hälfte des Buches gelesen und bin noch immer sehr beeindruckt. Ulla Hahn hat, finde ich, über die biographischen Daten hinaus, doch eine sehr ausführliche Geschichte der Zeit geschrieben. Ich denke dabei an die Schilderung der Krebserkrankung ihrer Kusine Maria und den Zustand der Krankenhäuser. Wie viel mehr Mühe gibt man sich doch heute mit den Kranken. Dabei ist die Einstellung der Umgebung zum Kranken noch immer von großer Unsicherheit geprägt.
Erna
Marlis Beutel
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Zweites Lesen

Beitrag von Marlis Beutel »

Liebe Madeleine, Du machst es uns ja noch schwerer als Ulla Hahn! Ist das schon beinahe Holländisch?
Beim zweiten Lesen beherrsche ich Familie Palms Dialekt und finde, er macht einen Teil des Charmes aus, der von dem Buch ausgeht. Ulla Hahn spricht alle Sinne an bei ihren Schilderungen. Nichts ist platt und die meisten ihrer Geschichten sind auch komisch. Hildegard erzählt zwar, aber es ist eine ganz andere Hildegard als das Kind und junge Mädchen im Buch. Ihr Blick ist viel umfassender.
Wenn ich "Das verborgene Wort" mit dem "Lagerfeuer" vergleiche, dann erscheint mir das "Lagerfeuer" kühl, nicht "Das verborgene Wort". Hängt das mit der Phantasie des Mädchens zusammen? Hildegard verunsichert zwar ihre Eltern und erfährt laufend ihre Verständnislosigkeit und Ablehnung. Aber sie reißt ihre Umgebung auch mit. Das zeigt sich zum Beispiel, als die Mutter Schillers "Glocke" rezitiert oder der Vater mit der Tochter einkaufen geht. Es gibt zum Glück immer wieder gute Geister, die Verständnis haben und weiter helfen, wenn das Heranwachsen ohne Vorbild zu schwierig wird.
PS: Ich musste mich jetzt auf das Buch konzentrieren, weil ich im April wieder bei einem Schreibkurs mitmachen will.

Viele Grüße von der Bergstraße, Marlis
Marlis Beutel
Erna
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Registriert: Freitag 1. April 2005, 10:47

Beitrag von Erna »

Hängt der Unterschied in der Schreibweise der beiden Autorinnen vielleicht von ihrem Alter ab? U.Hahn ist immerhin um die 70. Aber es gibt da auch eine andere Sichtweise. Ich habe nebenbei die >Ansichten eines Clowns< angefangen und finde da auch einen großen Unterschied zu U.Hahn, obwohl Böll aus einem ähnlichen Milieu kommt.
Erna
Madeleine

Beitrag von Madeleine »

Die Stelle im Buch bei den Zigeunern und über den gesang der Geige haben mich an Werke von Schumann und Brahms erinnert, die ich früher mit meinem Chor gesungen habe. Die Texte haben mir damals gut gefallen und ich schenke sie Euch hierunten :

SCHUMANN (1810-1856)
Zigeunerleben Text Emmanuel von Geibel (1815 – 1881)

Im Schatten des Waldes, im Buchengezweig,
Da regt's sich und raschelt und flüstert zugleich.
Es flackern die Flammen, es gaukelt der Schein
Um bunte Gestalten, um Laub und Gestein.

Das ist der Zigeuner bewegliche Schar
Mit blitzendem Aug' und mit wallendem Haar,
Gesäugt an des Niles geheiligter Flut,
Gebräunt von Hispaniens südlicher Glut.

Um's lodernde Feuer im schwellenden Grün,
Da lagern die Männer verwildert und kühn ;
Da kauern die Weiber und rüsten das Mahl,
Und füllen geschäftig den alten Pokal.

Und Sagen und Lieder ertönen im Rund,
Wie Spaniens Gärten so blühend und bunt,
Und magische Sprüche für Not und Gefahr
Verkündet die Alte der horchenden Schar.

Schwarzäugige Mädchen beginnen den Tanz ;
Da sprühen die Fackeln im rötlichen Glanz ;
Heiss lockt die Gitarre, die Zimbel erklingt,
Wie wilder und wilder der Reigen sich schlingt.

Dann ruhn sie, ermüdet vom nächtlichen Reihn.
Es rauschen die Buchen in Schlummer sie ein.
Und die aus der glücklichen Heimat verbannt,
Sie schauen im Traume das südliche Land.

Doch wie nun im Osten der Morgen erwacht,
Verlöschen die schönen Gebilde der Nacht ;
Laut scharret das Maultier beim Tagesbeginn,
Fort ziehen die Gestalten – wer sagt dir, wohin ?


Zigeunerlieder 1. Strophe :

He, Zigeuner, greife in die Saiten ein!
Spiel das Lied vom ungetreuen Mägdelein!
Laß die Saiten weinen, klagen, traurig bange,
Bis die heiße Träne netzet diese Wange!
Madeleine

Beitrag von Madeleine »

Den Text über die Benrather Linie habe ich aus Wikipedia und zum Spass extra auf Platt geschickt. Denselben Text gibt es aber auch auf Hochdeutsch. Ein deutscher Freund hat mich auf jene Benrather Linie aufmerksam gemacht, die unserer Sprachgrenze zwischen Okzitanisch und altem Nordfranzösisch entspricht.
Erna
Beiträge: 878
Registriert: Freitag 1. April 2005, 10:47

Beitrag von Erna »

Inzwischen bin ich wieder ein Stück weiter mit der U. Hahn. Ich finde es immer köstlich, wenn sie von Begebenheiten erzählt, wie z.B. das Suchen von Wörtern, die mit der Sexualität zu tun haben, und ich an meine eigene Jugend erinnert werde. Wenn ich bei meiner Freundin schlief und die Eltern außer Haus waren, wollten wir auch etwas über Sexualität erfahren. Wir suchten aber nicht in der Enzyklopädie danach, sondern im Arztbuch und hatten dann ganz rote Backen vor Aufregung.
Eine sehr gute Schilderung finde ich auch das Bügeln von Hanni. Erst die Wolldecke auf den Tisch, darüber ein altes Betttuch usw. Und feucht gemacht wurde die Bügelwäsche, in dem man die Hand in eine Schale mit Wasser tauchte und dieses über die Wäsche versprühte. Sehr schön.
Erna
Madeleine

Beitrag von Madeleine »

Bei mir wird immer noch die Bügelwäsche am Vorabend feucht gemacht, liebe Erna, siehst Du wie modern ich bin !
Madeleine

Beitrag von Madeleine »

Das Buch erzählt, wie die kleine Hildegard von einem Lehrer unterstützt wird. Dasselbe hat mein Mann erlebt, denn nicht selten kam es früher bei uns in Frankreich vor, dass Volkschullehrer, die übrigens selber oft aus ganz bescheidenen Milieus herkamen, begabten Kindern aus armen Familien nach dem Volksschulabschluss ins Gymnasium halfen. Lehrkräfte waren damals linksorientiert, die meisten sind es immer noch, und waren stolz einem Arbeiterkind den Durchbruch zur "Akademikerschicht" zu ermöglichen. (Meine beiden Grossväter gehörten dieser Kategorie von "Schutzengeln" an !)
Mein Mann war wissensdurstig, aber seine Mutter starb als er 12 war und sein Vater, als 14. KInd armer Leute, konnte kaum lesen noch schreiben, war oft arbeitslos usw...also musste mein künftiger Mann schon mit 14 in die Fabrik. Um seinem Milieu zu entfliehen, meldete er sich sogar mit kaum 18 bei der Luftwaffe für die Dauer des Krieges. Er hat mir oft erzählt, wie er als Soldat 1946 in Viet-Nam in der Bibliothek eines französischen Kolonisten die Klassiker kennengelernt, ja verschlungen hat, denn er hatte einen grossen Nachholbedarf, dieselben Klassiker also , die uns, den verwöhnten Gymnasiasten, oft zu Tode gelangweilt haben, denn sie waren unser täglich Brot.
Als der Krieg zu Ende war, hat ihm seine ehemalige Volksschullehrerin, die kinderlos und inzwischen verwitwet war, einfach adoptiert - er war 22 - und ihm Nachhilfestunden geben lassen, damit er sein Studium wiederaufnehmen konnte.
Eines muss ich diesbezüglich betonen : was damals möglich war, wäre heute undenkbar, ein Autodidakt wie mein Mann konnte es damals im Beruf nachträglich durch die sogenannte "interne Förderung" weit bringen. Auch viele Stipendien wurden den Schülern aus armen Familien gewährt. Was Klaus über die DDR erzählt war auch in Frankreich der Fall. Sobald ich z.B. die Einnahmeprüfung in die Pädagogische Hochschule bestanden habe, habe ich ein normales Gehalt bekommen, noch bevor ich unterrichtet habe.
Das alles habe ich nur deshalb erzählt, damit ihr wisst, wie die Verhältnisse in dem Frankreich der Nachkriegszeit ausgesehen haben.
Die Lesewut solcher Kinder wie Hildegard machte aus ihnen in bescheidenen Haushalten, wo kein Buch da war, "hässliche kleine Enten". Sie stiessen manchmal auf die Verständnislosigkeit der Eltern, wie Marlis es schon bemerkt hat, und infolgedessen versuchte der Vater manchmal seine Autorität, seine Macht durchzusetzen, indem er brutal wurde : Gewalt als Zeichen von Schwäche.
Heute werden die Eltern von den Kindern verunsichert, die mit dem PC besser umgehen als sie und manche Lehrer werden von Schülern, die mit ihrem Zeugnis nicht zufrieden sind, geschlagen oder mit Messern verletzt ! Die Zeiten ändern sich.
Madeleine

Verdammte Präfixe

Beitrag von Madeleine »

Natürlich war "Aufnahmeprüfung" gemeint und nicht "Einnahmeprüfung", ich bin ja nie Steuereinnehmerin gewesen.
Man sollte nie so spät abends Beitrage schreiben, denn...Abendstunde bringt kein Gold im Munde...
Diesmal : Gute Nacht !
Gesperrt