Ulla Hahn: Das verborgene Wort

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Erna
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Ulla Hahn: Das verborgene Wort

Beitrag von Erna »

Nun haben wir wieder ein dickes Buch zum Lesen und dafür 8 Wochen veranschlagt. Beinahe glaube ich, dass dies nicht ausreichen wird.
Vergangene Woche habe ich mit dem Lesen begonnen und nach dem ersten Male gedacht, dies Buch liest du nie und nimmer zu Ende. Jetzt finde ich es von Mal zu Mal besser. Damit will ich eigentlich signalisieren, laßt Euch nicht gleich entmutigen.
Was den Inhalt anbetrifft: so stelle ich mir die Jugend meiner Mutter vor. Bei mir war es nicht mehr so und ich bin ja auch schon sehr alt. Dabei bin ich auch in einer erzkatholischen Gegend geboren und habe die ersten Lebensjahre dort verbracht und bin auch immer für kurze Zeit zurückgekommen. Die Zeit an sich interessiert mich schon sehr.
Erna
ursel

Beitrag von ursel »

Liebe Erna,
ich habe die Infos, die ich von Dir bekommen habe zu Leben und Werk von Ulla Hahn noch ergänzt, sie sind hier zu finden:
http://www.gemeinsamlernen.de/vile-netz ... istik/Hahn
Im Gegensatz zu Deiner Jugend war die von Ulla Hahn wohl wirklich so. Sie erwähnt in einem Interview, dass sie gerade den 2. Band abschließt, der sich mit Hillas Jahren im Aufbaugymnasium und mit der ersten Studienzeit beschäftigt (zu finden unter obigem Link - Materialien, Interview arte). Aber jetzt lesen wir erst mal "Das verborgene Wort". Ich bin gespannt, ob das Dondorfer Platt den Lesern "zozemode" ist.
ursel
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Carmen Stadelhofer
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Beitrag von Carmen Stadelhofer »

Liebe Erna, wie unterschiedlich (weibliche) Sozialisation verlaufen kann - aber auch, wie unterschiedlich Lebensgeschichte(n) empfunden und erzählt wird/werden bei durchaus ähnlichen Sozialisationsbedingungen, erleben wir immer wieder in unseren "ErzählCafes" und in der Zeitzeugenarbeit. Das gilt natürlich auch hinsichtlich der Produktion und Rezeption von Sozialisationsbeschreibungen in der Belletristik. Ähnlich kontrovers in der Einschätzung wie im Forum begann unsere "reale" Diskussion bei unserem Treffen in der letzten Woche, bei dem wir "Das verborgene Wort" von Ulla Hahn unter verschiedensten Aspekten diskutierten. Die meisten jedoch fanden die Beschreibung des "Milieus" durchaus zeitgetreu. Ich selbst bin ganz fasziniert, wie es Ulla Hahn gelingt, durch die wortsensible und worttreffliche Beschreibung eines "Mikrokosmos" den "Zeitgeist" der 50er Jahre zu ver-bild-lichen. Freue mich auf die weitere Diskussion.
ursel

Teufelsbraten im TV

Beitrag von ursel »

Der Tipp von Inge aus Frankfurt und Brigitte aus Ulm hat schon die Runde gemacht, ich fasse hier noch einmal zusammen:
„Der Teufelsbraten“: Ulla Hahns Buch wurde 2006 von Hermine Huntgeburth verfilmt. Der zweiteilige Fernsehfilm wird zuerst in Arte ausgestrahlt (07.03.2008 1.Teil 21:00, 2.Teil 22_25). Die ARD sendet ihn am 12.03. und am 13.03.2008 jeweils um 20:15.
Ulla Hahn hat in einem Interview geäußert, dass sie die Bilder in ihrem Kopf nicht mit denen des Films vermischen will, solange sie den 2. Band noch nicht beendet hat. Ich habe mich noch nicht entschieden, ob ich die Lektüre mit dem Film durcheinander bringen soll.
ursel
Marlis Beutel
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"Teufelsbraten"

Beitrag von Marlis Beutel »

Es ist sympathisch, dass die ARD den Film zu einem früheren Zeitpunkt am Abend sendet. Danke für die Information!

Mit dem Lesen bin ich schon ziemlich weit. Erstaunlich, dass man ein über 600 Seiten langes Buch ohne Unterteilung in einzelne Kapitel schreiben kann und dass der Leser das Buch immer wieder gern zur Hand nimmt, ohne sich zu langweilen. Was für ein Leben wird da geschildert! Auch mir kommt alles sehr bekannt vor, obwohl ich gar nicht katholisch bin. Immerhin, es gibt wenigstens den Großvater und die Nonne im Kindergarten! Ich bin betroffen über das geringe Mitgefühl der übrigen handelnden Personen, die nichts hinterfragen und sich an leere Riten und Konventionen halten. Ob es Hildegard wohl gelingen wird, ein sinnvolleres Leben für sich selbst aufzubauen?

Viele Grüße von der Bergstraße, Marlis
Marlis Beutel
ursel

Hildegard und Ulla

Beitrag von ursel »

Ich nehme einmal an, wenn "dat Heldejaad" für Ulla Hahn steht, dann ist etwas aus "ihm" geworden. Eben ist mir der Teufelsbraten-Spiegel-Artikel über den Weg gelaufen:
http://www.spiegel.de/kultur/gesellscha ... 72,00.html
ursel
renate breiter2

Beitrag von renate breiter2 »

hallo, liebe Mitleser,
ich ahnte schon, dass ihr wieder einmal mir weit voraus sein werdet beim Lesen dieses Buches. Ich habe gestern damit angefangen und bin sauer, dass ich mich auf ein Buch eingelassen habe, dass gar nichts - jedenfalls bisher - mit mir zu tun hat. Denn obwohl ich 1950 mit meinen Eltern aus der DDR geflüchtet bin und die nächsten 10 Jahre in sehr engen Verhältnissen gelebt habe, ist mir diese Kleinbürgerlichkeit unbekannt. Aber ich kam aus einer tadt und lebte dann in Frankfurt, und das Stadt-Land-Gefälle war damals noch sehr groß.
Auf der anderen Seite hatte ich auch keinen Großvater (auch keine Großmutter), der mir die Schönheiten der Welt und des Lesens gezeigt hätte.
Ich wundere mich darüber, in wie vielen Kinderleben diese Großeltern positiv auftauchen und eine Rolle spielen - erfunden? Denn nach dem Krieg waren so viele Familien zerrissen und Großväter eine Rarität. Aber vielleicht war das nur bei uns "Flüchtlingen" der Fall.
Ich weiß noch nicht, ob ich den 2-teiligen Film in der ARD sehen will, weil ich dann das Buch vielleicht ganz in die Ecke lege.
Erna
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Beitrag von Erna »

Liebe Renate,
Dir geht es wie mir! Siehe meinen ersten Beitrag und heute lese ich es wirklich gern. Du hast aber Recht mit deinen Bedenken. Sicherlich wurden nicht nur die Flüchtlinge viel freier erzogen. Auch in dem Buch ist einmal ein Hinweis, dass es bei den Müpe, die aus Ostpreußen kamen, auch in der Woche und wenn kein Besuch da war, der Tisch zur Mahlzeit gedeckt wurde. Obwohl kaum Möbel in den Räumen standen. Auch das Schlagen, egal von wem, kann doch nicht so gewesen sein. Der Lehrer prügelt so, dass der Stock kaputt geht. Anderseits setzt er sich abe auch ein, dass sie wenigstens auf die Realschule kommt.
Erinnere Dich daran, dass im Roman nicht immer alles stimmen muss, siehe die Vermessung der Welt. Es ist keine Biographie.
Erna
Brigitte Höfer
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Milieustudie

Beitrag von Brigitte Höfer »

Liebe Erna, liebe Renate,
ich kann nur sagen, dass ich fasziniert war von Ulla Hahns Fähigkeit, die heranwachsende Hildegard mit den sie umgebenden Personen lebendig werden zu lassen.

Ja, so etwas gab es, so waren Menschen auf dem Dorf! Sie verschlossen die erlittenen Leiden in ihre tiefste Tiefen und wurden hart und unmenschlich. Sie hatten keine Sprache zur Aufarbeitung ihrer Erlebnisse, nur Sprichwörter: Was uns nicht umbringt, macht uns stark; Unkraut vergeht nicht; mach Dir nix draus und was dergleichen Sprüche mehr sind. Hier (im Roman) kommen nun noch die bigotten Sprüche der fanatischen katholischen Großmutter hinzu.
Sehr gut geschildert ist die diskriminierende Haltung gegenüber Flüchtlingen und "den Evangelischen". Die gleiche Abneigung gab es übrigens auch auf Seiten der Evangelischen gegenüber den Flüchtlingen und den Katholischen.
Und ganz charakteristisch: die Unterdrückung der Frau, die Ulla Hahn so meisterlich schildert, macht sich Luft in der Grausamkeit dem eigenen Geschlecht gegenüber. Die Unterwürfigkeit unter den Mann ist typisch und wird verlangt.

Ein Weiteres ist die Intellektuellenfeindlichkeit - ein leidvolles Erbe der Nazizeit. Meinst wohl, dass du was Besseres bist...

Ich kenne dieses Milieu so gut, weil meine Familie erst 1940 vom Land in die Stadt gezogen ist. Ich selbst, Jahrgang 1943, habe unter meinen im dörflichen Umfeld großgewordenen Geschwistern sehr gelitten, - ich fühlte mich immer fremd und "anders" als jüngste von sechs Geschwistern.

Ich habe mit meiner Mutter nach dem Krieg oft Verwandte auf dem Dorf besucht, weil sie Nahrung hatten im Gegensatz zu uns in der Stadt. Als "Mädchen aus der Stadt" habe ich als Jugendliche dort einige Sommerferien verbracht und die Grobheit und Direktheit der Männer erlebt. In der Stadt war ich öfter auf der Straße als in der Wohnung, weil wir in unserer 5-Zimmerwohnung noch eine dreiköpfige Flüchtlingsfamilie aufnehmen mussten. "Darf ich runter?" war eine gängige Frage, und die Spiele in den Trümmergrundstücken waren ein (verbotenes) Abenteuer.

So wie Hildegards Familie haben wir keine Angehörigen im Krieg verloren. Allerdings waren die Großeltern schon gestorben bzw. die Oma im Dorf geblieben. Aber geschlagen wurden die Kinder auch bei uns, wenn sie aufsässig waren. Meine drei Jahre ältere Schwester lag im Clinch mit meiner Mutter. Meine Mutter hat in ihr wohl die Lebensfreude gesehen, derer sie entsagen musste, und das konnte sie nicht aushalten. Und so erhielt meine Schwester bei jeder Gelegenheit Schläge, auch vom Vater, wenn die Mutter ihn dazu beauftragte. Tja, so war das.

Ich habe in zwischen das Buch fertig gelesen und auch den Film gesehen. Natürlich ist das Buch schöner, aber die Bilder des Films finde ich auch ganz interessant, z.B. mit dem Wechsel der Automarken und der Mode. Aber manche Dinge kann man in dem Film nur verstehen, wenn man das Buch gelesen hat. Z.B. die schwarzen Kleider - von Hilla als Ausdruck der Trauer betrachtet und von Anderen als Zeichen der Zugehörigkeit zum Existentialismus.

Das Buch enthält so viele wunderbare Bezüge - ganz oft habe ich sagen müssen: ja, so war es, genau so. Da hat sie völlig Recht, die Ulla Hahn. Ist ein kluge Frau! Und dass sie das so perfekt ausdrücken kann: meine Hochachtung!

Liebe Grüße von Brigitte
Madeleine

Beitrag von Madeleine »

Damit die Leserunde nicht glaubt, ich bin verschollen, will ich ein paar Zeilen schreiben. Marlis hat mir das Buch rechtzeitig geschickt, aber ich bin erst auf Seite 62.( Die Kommunalwahlen in Frankreich sind schuld, denn sie haben der Lektüre eine unlautere Konkurrenz gemacht...)
Bisher bringt mich das Buch ans Rheinufer wieder und erinnert mich an die schöne Zeit, wo ich in Düsseldorf als Studentin residierte. In den 50er Jahren weideten noch Schafe am Rhein in der Nähe der Oberkasseler Brücke. Für mich Französin war der Fluss damals (und ist heute noch) mit der deutschen Lyrik sehr eng verbunden, mit dem Germanentum überhaupt und die Figur des Grossvaters mit seinen Geschichten symbolisiert für mich den sagenumwobene Rhein.
Die Stelle über die einzelnen Buchstabenfinde ich faszinierend. Der französische Dichter Arthur Rimbaud hat ein Gedicht über die Farben der Buchstaben geschrieben, wie er sie sich vorstellt, das der kleinen Hildegard gefallen hätte.
Die Seite 63 wartet auf mich, deshalb muss ich mich schon verabschieden
Madeleine

Beitrag von Madeleine »

Hierunten das Gedicht, von dem ich im letzten Beitrag erzähle.
Es gibt zahlreiche Übersetzungen. Die ist von Stefan Georg.
Der Regentag hat mich schöne Stunden in Gesellschaft von Hildegard geschert : ich habe Seite 110 erreicht. (Es lebe die Sintflut ! Ob ich nach 40 Tagen Regen mit dem Buch fertig bin ?)

Arthur Rimbaud (1854 – 1891) Vokale

A schwarz E weiß I rot U grün O blau - Vokale
Einst werd ich euren dunklen Ursprung offenbaren:
A: schwarzer samtiger Panzer dichter Mückenscharen
Die über grausem Stanke schwirren · Schattentale.
E: Helligkeit von Dämpfen und gespannten Leinen ·
Speer stolzer Gletscher · blanker Fürsten · Wehn von Dolden.
I: purpurn ausgespienes Blut gelach der Holden
Im Zorn und in der Trunkenheit der Peinen.
U: Räder · grünlicher Gewässer göttlich Kreisen
Ruh herdenübersäter Weiden · ruh der Weisen
Auf deren Stirne Schwarzkunst drückt das Mal.
O: seltsames Gezisch erhabener Posaunen ·
Einöden durch die Erd- und Himmelsgeister raunen.
Omega - ihrer Augen veilchenblauer Strahl.
Madeleine

Beitrag von Madeleine »

Mea culpea : der Regentag hat MIR schöne Stunden geschert...der dumme Fehler schere sich zum Teufel(sbraten)
Erna
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Beitrag von Erna »

Nur ganz schnell, ich pflichte Madeleine bei, die Stelle mit den Buchstaben-Lauten hat auch mich fasziniert.
Erna
Madeleine

Beitrag von Madeleine »

Dialekt hin, Dialekt her
Eines muss ich eingestehen : die Stellen auf Platt sind mir ein Rätsel geblieben. Es hat mich aber interessiert festzustellen, dass auch in Deutschland Dialekt nicht mehr so verpönt ist wie vor ein paar Jahren noch und in die Literatur eingeführt wird.
In Frankreich läuft zur Zeit ein Film auf Platt : "Willkommen bei den Ch'tis" (("ch'ti ist der Dialekt in Nordfrankreich, in der Gegend um Lille, und "Ch'tis" werden also die Leute aus Nordfrankreich genannt). Schon 8 Millionen Zuschauer aus ganz Frankreich haben den Film gesehen ! Ob die Bretonen und Basken und Elsässer auch so einen Film drehen wollen ? Kann sein !
Letzte Woche hörte ich im Radio eine Sendung über Dialekte : Im Gegensatz zu früher werden sie als Sprachen betrachtet und man sieht ein, welcher Reichtum sie für unsere Kulturerbschaft sind.
Ulla Hahn hat uns dadurch, dass sie dieses Platt ausgiebig gebraucht, am besten gezeigt, welchen Weg Hildegard zurücklegen muss, bis sie Zugang zu Hochdeutsch hat.
Soweit für heute.
Marlis Beutel
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"Teufelsbraten"

Beitrag von Marlis Beutel »

Den Film habe ich gestern zur Hälfte gesehen. So düster hatte ich mir das Haus beim Lesen nicht vorgestellt. Das war richtig beklemmend. Ulla Hahn verfügt auch über einen ausgeprägten Sinn für das Komische; das bemerkt man beim Lesen stärker als beim Schauen.

Was mir aber weder beim Buch noch beim Film einleuchtet, ist das Verhalten von Hildegards Mutter. Sie hatte immerhin einen sehr verständnisvollen, phantasiebegabten Vater (der bei der "kattollischen" Ehefrau wohl eine untergeordnete Rolle spielte). Warum fordert diese Frau ihren Mann auf, die Tochter zu verprügeln? Sie bevorzugt ihren Sohn, vielleicht hängt es damit zusammen? Der Großvater erklärt seiner Enkelin, warum ihr Vater so verbittert ist und fordert sie auf, für den Vater zu beten. Das Verhalten der Mutter kann er nicht erklären.

Der Dialekt ist wirklich noch schwieriger als ich zunächst angenommen hatte, Madeleine. Ich hoffe, das Buch gefällt Dir trotzdem.

Viele Grüße von der Bergstraße, Marlis
Marlis Beutel
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