Khaled Hosseini: Der Drachenläufer

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Marlis Beutel
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Amir und Baba

Beitrag von Marlis Beutel »

Man erlebt es leider dauernd, dass Eltern bestimmte Erwartungen an ihre Kinder haben und die Kinder gar nicht einfühlsam begleiten können, wenn sie völlig anders sind als sie selbst. Wir brauchen uns nur umzusehen oder uns zu erinnern.

Baba erkennt seinen Sohn schließlich an, als er der Schwiegertochter die Geschichten zeigt, die Amir geschrieben hat. Spät, aber immerhin. Amir muss weinen und verlässt schnell das Zimmer.

Der Vater ist bis zum Schluss eine ungeheuer starke Persönlichkeit, die allen Respekt verdient.

Ich habe mich beim zweiten Lesen des Buchs gefragt, warum Amir so isoliert aufwächst. Es ist von Mitschülern zum Beispiel nicht die Rede, auch nicht von Lehrern. Ein einziges Mal wird in Kabul eine riesige Geburtstagsfeier veranstaltet, ein anderes Mal werden Verwandte besucht. Aber der Alltag findet in der Isolation statt. Ist so etwas typisch für die Pashtunen oder hat der Autor alles andere ausgeklammert?

Viele Grüße von der Bergstraße, Marlis
Marlis Beutel
Erna
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Beitrag von Erna »

Amir ist meines Erachtens so isoliert, weil er sich anders verhält als man es von einem afghanischen Jungen erwartet. Deswegen ist er ein Außenseiter, sowohl in der Schule, als wohl auch sonst und so bleibt Hassan einer der wenigen Menschen mit dem er Kontakt hat. Auch Baba erwartet ein anderes Verhalten, das übliche in diesem Land und ist deswegen auch oft abweisend, was wieder zu Folge hat, dass Amir eigentlich auf Hassan neidich ist, weil dem Baba öfter über den Kopf streicht, als ihm.
Marlis Beutel
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Amir

Beitrag von Marlis Beutel »

Amir wächst nicht in einer "normalen" Familie auf, es fehlt ja die Mutter. (Es geht um die die bekannte Frage, was früher da war, die Henne oder das Ei.)

Sein Vater hat allen Anlass, sich auch um Hassan zu kümmern. Aber das stellt sich erst heraus, als Amir in Pakistan bei Rahim Khan ist.

Übrigens entwickelt sich auch der General weiter. Er schenkt dem Schwiegersohn schließlich eine Schreibmaschine für seine Geschichten.

Viele Grüße von der Bergstraße, Marlis
Marlis Beutel
Marlis Beutel
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Amir

Beitrag von Marlis Beutel »

Heute hatte ich Gelegenheit, mich mit einem Psychoanalytiker über den "Drachenläufer" zu unterhalten. Er hatte wenigstens den Film gesehen. Natürlich hatte ich ein paar Fragen. Er denkt, die "Familie" lebte relativ isoliert, weil es ein Familiengeheimnis gab, das nicht bekannt werden durfte. Erst in Kapitel 17 wird es enthüllt und ist ein ziemlicher Schock für Amir.

Dass der Vater Hassan mehr schätzt, hat mit diesem Geheimnis zu tun und ist doppelt kränkend für Amir, denn Hassan ist ja kein ebenbürtiger Freund oder Bruder, sondern ein Untergebener. Amir hält den Druck, unter dem er steht, nicht mehr aus und versucht (mit bösem Erfolg und schlechtem Gewissen), sich davon zu befreien.

Viele Grüße von der Bergstraße, Marlis
Marlis Beutel
Erna
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Beitrag von Erna »

Ich habe hier einen Link, in dem Ihr mehr über Afghanistan erfahren könnt.
http://www.qantara.de/webcom/show_artic ... 974/i.html

Es gibt dort mehrere interessante Artikel.
Erna
Erna
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Beitrag von Erna »

Zwar bin ich noch nicht fertig mit dem Buch, aber trotzdem. Die Zweiteilung des Buches, die einmal das Leben Amirs und seiner Umgebung beschreibt und im zweiten Teil dann Afghanistan während der Taliban Herrschaft, finde ich sehr interessant. Der weiche, sensible Junge ist ein Mann geworden, trotzdem nicht unsensibel, der versucht eigene Schuld aufzuarbeiten, der sein Vaterbild revidieren muss und ihm trotzdem verbunden bleibt. Gleichzeitig wirken die Verbindungen zwischen 1. und 2. Teil sehr natürlich und logisch.
Erna
HildegardN
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Den Weg allein gehen müssen

Beitrag von HildegardN »

Amir war ein intelligenter, begabter und bereits seit Jahren erwachsener Mann, als er bei der Beerdigung seines Vaters große Angst verspürte, seinen Weg künftig allein (also ohne seinen Vater) finden zu müssen.
S.185: „... Während ich ihnen zuhörte, wurde mir klar, wie viel von dem, was ich war, was ich darstellte, von Baba und den Spuren, die er im Leben anderer Leute hinterlassen hatte, bestimmt worden war. Mein ganzes Leben lang war ich 'Babas Sohn' gewesen. Jetzt war er fort. Baba konnte mir den Weg nicht mehr weisen! Ich würde ihn von nun an allein finden müssen.
Dieser Gedanke jagte mir schreckliche Angst ein.“
Ich habe in jüngeren Jahren als Amir, und in einer völlig anderen Situation, meinen Weg allein finden müssen. Das hat mir allerdings nicht Angst verursacht, sondern ich habe es als Herausforderung betrachtet. Grund genug, um mich jetzt damit auseinander zu setzen.
Eine Erklärung für Amirs Verhalten bzw. seine Gedanken fand ich, als ich jetzt zurück blätterte und erneut die Seite 168 las.
Es war der Tag, an dem der an Krebs erkrankte Vater sich gegen eine Chemotherapie entschied. „Aber Baba..“, wandte Amir ein, worauf der Vater entgegnete „Wage es nicht, meine Ansichten in der Öffentlichkeit in Frage zu stellen, Amir. Niemals. Für wen hältst du dich?“ Hier untergräbt der Vater m.E. jede selbstständige Handlung seines Sohnes, für die er sich, seiner Meinung nach, doch immer eingesetzt hat.
Fast im Widerspruch hierzu sehe ich die anschließende Äusserung des Vaters (S.168):
Baba: „Bas! Ich habe meine Entscheidung getroffen.“
Amir: „Und was ist mit mir, Baba? Was soll ich tun?“
Baba: „Du bist zweiundzwanzig Jahre alt, Amir! Ein erwachsener Mann! All die Jahre habe ich versucht, dir etwas beizubringen, damit du diese Frage niemals stellen musst.“
Danach überrascht es mich nicht mehr, dass Amir Angst hat, seinen Weg allein, d.h. ohne seinen Vater, gehen zu müssen.
Hildegard
Erna
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Beitrag von Erna »

Liebe Hildegard,
hier zeigt sich doch das Widersprüchliche in der Erziehung . Auf der einen Seite sagt Baba "basta, ich habe meine Entscheidung getroffen" auf der anderen Seite," Du bist erwachsen, frage nicht, tue es." Es gab keine Anleitung, sondern nur Nachahmung. Dann wäre aber Amir so wie Baba geworden. Wahrscheinlich hätte er sich dann nicht um den Halbneffen gekümmert.
Erna
Marlis Beutel
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Liebe Hildegard und liebe Erna,

Beitrag von Marlis Beutel »

Gerade habe ich ein sehr interessantes Buch in die Hand bekommen. Es heißt "Die fremde Braut Ein Bericht aus dem Inneren des türkischen Lebens in Deutschland" von Necla Kelek.

Dort lese ich beispielsweise, dass Jüngere Älteren nicht widersprechen dürfen. Das ist möglicherweise auch bei den Afghanen so und könnte die Stelle, die Du zitierst, erkären. Es könnte auch die Art und Weise erklären, wie der General zunächst mit seinem Schwiegersohn umgeht. Tochter und Schwiegersohn müssen ihm klar machen, dass sie keine Kinder mehr sind und nicht alles hinnehmen können.

Ich finde es ziemlich schlimm, wenn Jüngere nicht kritisieren dürfen. Dann bleibt ja alles beim alten und es findet keine Weiterentwicklung statt.

Grüße von der Bergstraße, Marlis
Marlis Beutel
Marlis Beutel
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Amir und Baba

Beitrag von Marlis Beutel »

Zu dem, was ich gestern abend schrieb, fällt mir noch etwas Wichtiges ein: Es war in unserer Kindheit auch nicht erlaubt, Erwachsenen zu widersprechen. Ich erinnere mich an folgendes Erlebnis in der Schule: Wir hatten im 2. Schuljahr einen Lehrer, der beim Singen die Klasse immer aufstehen ließ. Im 3. Schuljahr kam ein neuer Lehrer, und wir blieben sitzen. Das irritierte mich.Ich meldete mich und sagte höflich: "Herr Lehrer, wir stellen uns immer beim Singen."
Er brüllte mich an: "Du freche Rotznase! ..."

Ich brauchte auch als Erwachsene sehr lange, bis es mir gelang, meine Eltern wenigstens in Gedanken zu kritisieren. Als ich dann selbst Kinder hatte, fragte ich mich, woher meine Mutter die Sicherheit nahm, alles richtig zu machen. Ich war oft genug unsicher bei dem, was ich sagte und tat. Dabei sind es gerade die Jüngeren, die uns Älteren helfen, uns weiter zu entwickeln.

Marlis
Marlis Beutel
Erna
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Beitrag von Erna »

Liebe Marlis,
das Buch von Necla Kelek habe ich auch gelesen. Was N.K. schreibt, kenne ich auch durch mein Leben in der Türkei und der Arbeit mit türkischen Schülern..
Kinder dürfen den Erwachsenen bei einem Gespräch mit ihnen auch nicht in die Augen schauen und bei einem Gespräch mit deutschen Lehrern wurden daher die Schüler immer wieder aufgefordert, ihn anzuschauen, was war nun richtig? Es gibt noch mehr kulturell bedingte Unterschiede und vieles ist sicherlich in Afgh. so wie in der Türkei. Durch die Religion bedingt.
Erna
Annemarie Werning
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Beitrag von Annemarie Werning »

Hallo, ich habe das Buch jetzt ausgelesen und beschäftige mich gedanklich mit dem von Amir aus Afghanistan geholten Sohn Hassans. Es bewegt mich, wie das Kind langsam anfängt, sich an den Gedanken zu gewöhnen, nach Amerika zu kommen, dann in Panik gerät, als er hört, vorübergehnd noch einmal in ein Kinderheim zu kommen und schließlich ein ganzes Jahr lang nichts spricht. Es hat überhaupt kein Vertrauen mehr zu seiner neuen Familie und zu seinem neuen Leben. Wie schwer muß es für seine Pflegeeltern gewesen sein, dieses Schweigen auszuhalten.
Dieser Aspekt ist in dem Film überhaupt nicht herausgekommen.
Viele Grüße - ich bin seit gestern wieder in Steinbach.
Annemarie
Marlis Beutel
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"Drachenläufer"

Beitrag von Marlis Beutel »

Es fällt mir auf, dass Hosseini ein ganz wichtiges Buch für seine Landsleute in Afghanistan geschrieben hat, die ja untereinander überhaupt noch nicht klar kommen.
Zuletzt macht sich der General Gedanken, wie er Afghanen erklären soll, dass seine Tochter einen Jungen aus dem Stamm der Hazara in ihrem Haushalt hat. Die Antwort seines Schwiegersohns fällt so scharf aus, dass das restliche Essen schweigend verläuft. Sein Vater war sich nicht zu schade gewesen für eine intime Beziehung zu einer Hazara, stand aber später nicht dazu. Erst Sohn Amir überwindet auch öffentlich die Kluft zwischen den beiden Volksstämmen.
Ob das Buch, das ja in Englisch geschrieben ist, auch in Afghanistan gelesen wird?
Marlis Beutel
Erna
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Beitrag von Erna »

Wenn ein Afghane das Buch gelesen hat, dann wahrscheinlich einer von denen, die im Ausland leben. Im Land, meine ich, ganz wenige. Vor allem auch deswegen, weil so wie ich neulich las, Mädchenschulen auch schon wieder gesschlossen werden.
Mich hat es auch nachdenklich gemacht, wie wenig Sozialisation selbst in einem fremden Land, sich ändern läßt, siehe den General. Das merkt man z.T. auch bei uns in Europa. Neulich las ich eine Meldung, dass ein Albaner ein elfjähriges Mädachen geheiratet hat, ganz offiziell, wahrscheinlich eine Imam-Hochzeit, denn er musste ein Brautgeld von 12.ooo Euro bezahlen, dieses Mädchen schwängerte, so dass sie mit 12 ein Kind gebar. Da dies in Italien geschah, wurde er verhaftet wegen Vergewaltigung. Seine Frau sagte: Das ist bei uns so üblich. Dabei liegt Albanien in Europa! Vielleicht ist Al. sogar in der EU.
Erna
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