J.M. Coetzee: Schande

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Erna
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J.M. Coetzee: Schande

Beitrag von Erna »

Etwas verspätet durch Urlaub und Arbeit am LC will ich wenigstens kurz vor dem realen Treffen noch ein paar Zeilen schreiben. Marlis war schon ganz verwundert, dass nichts im Forum stand.
Pünktlich Anfang August habe ich das Buch angefangen. Nach den ersten Kapiteln kam mir der Gedanke: der Protagonist ist nicht mehr jung. ist es möglich, dass man so sehr von seinen Gefühlen, Trieben, Wünschen erfasst wird, dass man, obwohl vom Kopf her das Unmögliche gesehen wird, diesen nachgibt und dazu steht. Auch dann noch, wenn man eigentlich die Abwehr oder Passivität seiner Partnerin empfindet.
Erna
HildegardN
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Schande

Beitrag von HildegardN »

"Der Protagonist ist nicht mehr jung", schreibt Erna, aber er ist nach heutigen Befindlichkeiten und Vorstellungen auch noch nicht alt - noch lange nicht! Aber er fühlt sich wohl so, z.B., wenn er sich als Versager empfindet oder abgelehnt wird. "Klarschiffmachen", sagt sich der 54-Jährige (auf S.12), "damit man sich der wahren Aufgabe der Alten zuwenden kann: der Vorbereitung auf das Sterben".
Als er mit seiner Tochter Lucie über seine "Zwangspensionierung spricht und diese mit Vorschlägen antwortet, wehrt er ab und entgegnet: "... nicht, wenn man ein gewisses Alter überschritten hat. Ab einem gewissen Alter findet man einfach keinen Anklang mehr, und damit hat sichs'. Man muss sich einfach zusammen reissen und den Rest des Lebens hinter sich bringen, seine Zeit absitzen" (S.88)
Ist das nun Resignation oder etwa die Unfähigkeit ein "normales", aktives Leben zu führen?
Hildegard
HildegardN
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Schande

Beitrag von HildegardN »

Mein gestriger Beitrag hat noch eine Fortsetzung, sie bezieht sich auf David Luries Gedanken nach dem Überfall und der Vergewaltigung seiner Tochter Lucy, die er nicht verhindern konnte, weil er eingesperrt war.
S.139: .."Zum erstenmal hat er einen Vorgeschmack davon, wie es sein wird, wenn er ein alter Mann ist, erschöpft bis in die Knochen, ohne Hoffnungen, ohne Wünsche, gleichgültig der Zukunft gegenüber."

Das Alter wird doch heute ganz anders erlebt. Natürlich gibt es auch negative Erwartungen und schlimme Schicksale, aber ein gebildeter 53jähriger Mann muss doch die Realität sehen und sich darauf einstellen. Ist der Literaturprofessor wohl psychisch krank oder wie ist seine Einstellung oder Reaktion zu erklären?
Hildegard
HildegardN
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Schande

Beitrag von HildegardN »

Ein Buchtitel weckt Erwartungen, und zumeist sind es auch persönliche Vorstellungen, die die Auswahl einer Lektüre bestimmen und das Lesen begleiten. Wenn ich ein neues Buch zur Hand nehme, beschäftigt mich immer wieder die Frage, wie sein Inhalt dem Titel gerecht wird. Bei dem „Schande“- Buch ist diese Beziehung sehr schnell und deutlich zu erkennen.
Mit diesem Beitrag wollte ich gleich zu Beginn in die Diskussion einsteigen, doch Ernas Anregung hat mich verleitet, meine Eindrücke zu einem anderen Aspekt vorzuziehen. Das Thema Alter und Älterwerden hat mich schon lange besonders beschäftigt. Nun hole ich mein ursprüngliches Vorhaben nach.
Der Titel „Schande“ ist gewiss keine freundliche Einladung, den Roman des südafrikanischen Schriftstellers J.M. Coetzee zu lesen, obwohl man - einer Rezensionsnotiz zur Frankfurter Rundschau zufolge - „über das Grauenhafte immer gerne liest, vorausgesetzt, es passiert anderswo, möglichst weit weg“. Ich kann mich dieser Meinung nicht anschließen.
Das Buch liest sich leicht und ist verständlich geschrieben. Es beschreibt das Tun des Professors, sein Verhalten und sein Scheitern. Der Buchtitel „Schande“ taucht bereits zu Beginn und dann immmer wieder auf, und er verbindet das Scheitern des Professors mit der Schande.
Wie der Autor mit der Schande umgeht und wen bzw. was er in seine Beurteilung (oder Difinition?) mit einbezieht, hat mich betroffen und auch etwas ratlos gemacht. Vielleicht können wir später miteinander hierüber diskutieren, wenn ich hier einige Textstellen zitieren werde.
Hildegard
Erna
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Beitrag von Erna »

Sigrid hat mir folgende Zeilen geschickt:
Das Buch "Schande" habe ich heute morgen zu Ende gelesen. Es nimmt einen ganz schön mit. Es ist schrecklich, wie schnell durch kleine oder große Außengeschehnisse das (mühsam) aufgebaute Mosaik des Daseins zusammenbrechen kann wie bei David (Lit-Prof) und Lucy. Eingebettet ist die Handlung in den politischen ud sozialen Umbruch von Südafrika. Bei David ist es die kleinbürgerliche Familie Isaak, die ihn indirekt zu Fall bringt und seiner "Macht" (sozialer Status) beraubt und bei Lucy sind es die Umbrüche durch die Abschaffung der Apartheid. Lucy paßt sich an, aber zu welchem Preis? David und Lucy sind auf ihre Weise stur und wollen keinen Rat annehmen.

Der Tod ist ständig präsent. Die Einschläferung der Tiere ist wie ein Leitmotiv
Marlis Beutel
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Beitrag von Marlis Beutel »

Ein 53jähriger Professor ist eigentlich im besten Alter und hat noch keinen zwingenden Grund, sich mit dem Lebensende auseinanderzusetzen. Unser "Held" empfindet sich aber nicht als erfogreich in seinem Beruf. Vielleicht bemüht er sich deshalb nicht darum, an der Universität zu bleiben.

Es hat mich ziemlich gestört, dass er diese Beziehung zu der Studentin eingeht, die ihn gar nicht liebt. Er ist auch schon zweimal geschieden. Offensichtlich ist er überhaupt nicht in der Lage, eine tragfähige Beziehung aufzubauen. Seine Tochter scheint er aber zu lieben, während die Tochter sich distanzieren muss, damit er nicht über sie bestimmen kann.

Überhaupt hatte ich bei der Auseinandersetzung zwischen Vater und Tochter den Eindruck, dass die beiden aneinander vorbei reden.
Das Töten der Hunde ist eine schreckliche Sache, auch wenn es aus Mitleid geschieht.

Positiv empfinde ich an diesem Buch, dass es die Probleme zwischen Schwarz und Weiß aus der Sicht von Betroffenen schildert.

Grüße von der Bergstraße, Marlis
Marlis Beutel
Erna
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Beitrag von Erna »

Es ist schon ein eigenartiges Buch. Ein intellektueller Mann findet sich scheinbar damit ab, auf dem Lande zu leben, Tätigkeiten zu tun, die selbst einfache Menschen nicht gern tun, ein Hundemann zu sein. Eine Tätigkeit, über deren Beendigung selbst Petrus stolz ist.
Eine Frau, Lucy,die vergewaltigt wird und nicht will, dass man nach den Tätern sucht. Die mehr über den Hass bei der Begehung der Tat erstaunt ist, als über die Tat selber.
Beide Verhaltensweisen sind mir unbegreiflich.
Erna
HildegardN
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Beitrag von HildegardN »

Marlis und Erna haben die Einschläferung der Hunde angesprochen und die Beteiligung des Professors, die als Engagement erläutert wird und ihm nicht leicht gefallen ist. Immer wieder beschäftigt er sich gedanklich hiermit und auch mit den Empfindungen der Hunde. Eine seiner Aussagen hat mich betroffen gemacht. S.186 "...als spürten sie die Schande des Sterbens". Sterben ist doch keine Schande! Was hat der Autor sich dabei gedacht oder was will er uns sagen.
Als ich noch ein Kind war, habe ich mich laufend mit Tieren beschäftigt und dabei erfahren, dass sie sehr wohl mitempfinden, wenn es ihren Artgenossen, aber auch den Menschen, schlecht geht oder wenn ein Mensch oder Tier, mit dem sie zusammen gelebt haben, gestorben ist. Sie haben getrauert, waren verstört.
Hildegard
Erna
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Beitrag von Erna »

Es gibt selten ein Buch, in dem die Handlung der Protagonisten mir so fremd ist, wie hier in "Schande". Ich kann weder die Handlungsweise von Lucy verstehen, noch die von David. Wobei es so ist, dass beide sich gegenseitig auch nicht verstehen.
David sagt seiner Tochter, "wenn das der Preis ist, um bleiben zu dürfen!"Damit meint er, sich vergewaltigen zu lassen und nichts dagegen zu tun, nicht die Vergewaltiger zu Verantwortung zu ziehen. Und weiter
"du willst dich vor den Geschichte demütigen, das ist der falsche Weg."
Soll Lucys Haltung tatsächlich eine Art geschichtliche Gutmachung sein, kann es die überhaupt geben? Signalisiert sie nicht vielmehr der anderen Seite, macht so weiter, das ist der richtige Weg? Aber Unrecht kann niemals durch weiteres Unrecht richtig sein.
Marlis Beutel
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Liebe Erna

Beitrag von Marlis Beutel »

es sieht für mein Empfinden tatsächlich so aus, als opfere sich Lucy für eine geschichtliche Wiedergutmachung. Du bist der Meinung, dass es die gar nicht geben kann. Deine Meinung gefällt mir sehr. Allerdings sind wir auch weit weg vom Geschehen.

Zur Zeit haben wir hier in unserer Stadt eine Leseaktion, bei der das Buch "Die Attentäterin" gelesen und besprochen wird. (Es war von drei Büchern durch Abstimmung ausgewählt worden. Die beiden anderen waren "Die Vermessung der Welt" und "Zusammen ist man weniger allein"). Bei der "Attentäterin" geht es um eine Israelin, die sich in einem Lokal in die Luft sprengt, wo Jugendliche einen Geburtstag feiern. Wenn man das Buch gelesen hat, begreift man zwar ungefähr, was diese Frau wohl empfunden hat, aber man kann sich absolut nicht vorstellen, dass man auf eine solche Weise irgendein Problem löst. Man schafft nur neues Leid.

Ausgesprochen witzig dagegen ist das Buch der Französin Anna Gavalda
"Zusammen ist man weniger allein". Das Buch liest sich leicht und unterhaltsam, obwohl die Helden eher Verlierertypen sind.

Viele Grüße von der Bergstraße, Marlis
Marlis Beutel
HildegardN
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Schande

Beitrag von HildegardN »

Erna schreibt: "Es gibt selten ein Buch, in dem die Handlung der Protagonisten mir so fremd ist, wie hier". Ich pflichte Dir bei, liebe Erna, und finde, Lurie ist realitätsfremd. Dies bezieht sich nicht nur auf seine Handlung, sondern auch auf sein Denken. "Ich werde bestraft für das, was zwischen mir und Ihrer Tochter vorgefallen ist", sagt er zu Isaacs (S.225) und fährt fort: "Ich stecke tief in Schande, und es wird nicht leicht sein, mich davon zu befreien.....ich lebe täglich damit und versuche, das Leben mit der Schande als meine Daseinsform zu akzeptieren".
Weshalb versucht Lurie nicht, sich "zu befreien", zumal er die Möglichkeit dazu nicht ausschließt, weshalb beschließt er einfach zu resignieren, obwohl er doch noch eine Zukunft vor sich hat?
Hildegard
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