Amos Oz: Eine Geschichte von Liebe und Finsternis

Hier werden alle Bücher einsortiert, deren Diskussion beendet ist.
Marlis Beutel
Beiträge: 364
Registriert: Mittwoch 5. April 2006, 18:54
Wohnort: 64646 Heppenheim

Geschichte von Liebe und Finsternis

Beitrag von Marlis Beutel »

Wie hast Du es nur geschafft, das Buch so schnell zu lesen und gleichzeitig eine so klare Übersicht zu behalten, liebe Brigitte?
Mich hat unter anderem das fünfte Kapitel besonders beschäftigt, wo der Autor über das Autobiografische schreibt. Da steht zum Beispiel auf S. 57 folgendes: "Der Raum, den der gute Leser sich bei der Lektüre erschließt, ist nicht der zwischen Text und Autor, sondern der zwischen dem Text und ihm selbst."
In solchem Sinn sind wir wahrscheinlich alle gute Leser, ob wir nun die Übersicht behalten oder das Gefühl haben, dass dieses Buch in einem Lesedurchgang überhaupt nicht zu erfassen ist. Der Roman löst eine Menge in uns aus und vermittelt ganz persönliche Eindrücke vom Leben und Schicksal der Bewohner Israels.

Übrigens schrieb ich letztes Mal nur deshalb einen kurzen Beitrag, weil wir uns nur zögerlich über das Buch äußerten. Jetzt hat sich die Situation durch Eure Beiträge sehr gewandelt. Ich freue mich und grüße Euch herzlich von der Bergstraße. Marlis
Marlis Beutel
Erna
Beiträge: 878
Registriert: Freitag 1. April 2005, 10:47

Beitrag von Erna »

Die Schreiberinnen haben so viele Fragen aufgeworfen, dass ich sie gar nicht alle beantworten werde, auch wenn ich sie möchte.
Renate hat Recht, wenn man wenig von den Engländern hört, ab und zu eine Rakete, von der man nicht weiß, ob absichtlich oder zufällig eingeschlagen hat.
Was Brigitte so schön in Kapiteln auseinander hält, hilft mir, mich noch einmal daran zu erinnern. Ich bin jetzt auf Seite 506 und da ist Amos noch 8 Jahre alt.
Aber wie schon davor beschrieben, manche Stellen kenne ich durch Wiederholungen schon und andere finde ich direkt poetisch.
Erna
HildegardN
Beiträge: 262
Registriert: Mittwoch 20. September 2006, 14:13

Beitrag von HildegardN »

Wie Marlis bin auch ich von Brigittes Ausführungen beeindruckt, die sowohl eine Beurteilung und Würdigung als auch einen Rückblick auf das bis jetzt Gelesene enthalten. Dein Bericht, liebe Brigitte, bringt vieles in Erinnerung, was ich in den vergangenen Wochen gelesen und das mich in gewisser Weise begleitet hat.
Nun bin ich fast am Schluss angekommen und erfahre noch einmal, wie sehr Amos Oz seiner Mutter verbunden war, wie sehr er sich mit ihr beschäftigt. Es war , wie ich meine, nicht nur die ganz natürliche Liebe zwischen Mutter und Kind, hier dem einzigen Kind, sondern darüber hinaus eine intensive geistige Verbindung (Übereinstimmung), an der er seine Leser bis zum Ende seines Buches teilhaben lässt.
Marlis Beutel
Beiträge: 364
Registriert: Mittwoch 5. April 2006, 18:54
Wohnort: 64646 Heppenheim

Liebe und Finsternis

Beitrag von Marlis Beutel »

Auch wenn ich fürchterlich hinterher zu hinken scheine, möchte ich noch einmal auf das Kapitel 35 aufmerksam machen. Oz schildert hier seine Rolle als Musterknabe in einer Welt von hoch gebildeten Erwachsenen, die sich recht und schlecht im Alltag durchschlagen müssen.
Was er bei Onkel Staszek und Tante Mala und der ungenießbaren Brause erlebt und anrichtet, das ist herrlich komisch.
"Feingefühl" ist in dieser Gesellschaft wichtiger als Ehrlichkeit d.h. man bemogelt auch die Eltern, so gut es geht. Das Wort "Finsternis" kommt auf Seite 427 gleich mehrmals vor, der Vater erläutert es sprachwissenschaftlich, zeigt Zusammenhänge mit Kinderlosigkeit und Vergessen auf. Er stimmt auch dem Spruch Salomos zu "Wer die Rute spart, haßt seinen Sohn."

Grüße von der Bergstraße, Marlis
Marlis Beutel
HildegardN
Beiträge: 262
Registriert: Mittwoch 20. September 2006, 14:13

Beitrag von HildegardN »

Amos Oz wird voraussichtlich im Dezember den Heine-Preis 2008 erhalten, und dies "nicht nur für sein literarisches Werk, sondern auch für die mutige Klarheit und Entschlossenheit, mit der er zwischen Israelis und Palästinensern Brücken zu bauen versucht."
Amos Oz hatte zunäckst kein Verständnis für die Lage der Palästinenser, die er u.a. als "Mörder" bezeichnete. Ich vermute, dass sein Leben im Kibuz, die neuen Eindrücke und Erfahrungen, auch im Zusammenleben mit den anderen, seine Einstellung zu den Palästinensern und damit auch sein Verhalten verändert haben.
Sehr eindrucksvoll finde ich sein Gespräch mit einem älteren Kibuz-Kameraden bei einer gemeinsamen Wache in einer Winternacht, der dem Jugendlichen Amos u.a. wie folgt entgegnet: "Das Wort "Mörder" benutze ich nicht für Araber, die ihre Dörfer verloren haben" (S.679).
Hildegard
Erna
Beiträge: 878
Registriert: Freitag 1. April 2005, 10:47

Beitrag von Erna »

So geht es bei einem so umfangreichen Buch, jeder ist auf einer anderen Seite.
Für mich war sehr erhellend, wie Oz die Zustände beim Abzug der Engländer beschreibt. Immer wieder weist er darauf hin, dass diese auf Seiten der Palästinenser stehen. Ich glaube, dass ich manches am Verhalten der Israelis durch diese Beschreibung jetzt besser verstehe.
Renate, zwischen Seite 500 und 600 sind diese politischen Ereignisse zu finden.
Die Beschreibung des Umgangs mit der Limonade, habe ich auch köstlich gefunden, Marlis. Erinnerte mich sehr an meine Kindheit.
Erna
Erna
Beiträge: 878
Registriert: Freitag 1. April 2005, 10:47

Beitrag von Erna »

.

Bei unserem Treffen diskutierten wir darüber, ob die Einschübe beim Oz Essays genannt werden können. Ich habe diese Beschreibung aus Wikipedia herauskopiert. Ihr könnt jetzt selbst entscheiden, ob sie es sind oder nicht.

Viele Essays zeichnen sich aus durch eine gewisse Leichtigkeit, stilistische Ausgefeiltheit, Verständlichkeit und einen nicht zu unterschätzenden Witz. Jeder neue Begriff wird eingeführt und vorgestellt. Handlungen werden chronologisch erzählt und Zitate deutlich gekennzeichnet; meist ist es aber befreit von vielen Zitaten, Fußnoten und Randbemerkungen. Zuweilen ist es auch schlicht eine stilisierte, ästhetisierte Plauderei.

Während der Autor einer wissenschaftlichen Analyse sein Thema systematisch und umfassend darstellen sollte, wird ein Essay eher dialektisch verfasst, mit Strenge in der Methodik, nicht aber in der Systematik. Essays sind Denkversuche, Deutungen – unbefangen, oft zufällig scheinend. Damit ein Essay aber überzeugt, sollte es im Gedanken scharf, in der Form klar und im Stil geschmeidig sein
Erna
Marlis Beutel
Beiträge: 364
Registriert: Mittwoch 5. April 2006, 18:54
Wohnort: 64646 Heppenheim

Immer noch Amos Oz

Beitrag von Marlis Beutel »

Die Schilderung der politischen Ereignisse bei der Gründung des Staates Israel hat mich auch sehr betroffen gemacht. Denn man macht sich immer wieder Gedanken, wie die verschiedenen Gruppen dort leben und wem was weggenommen wurde. Warum sind die Juden überhaupt in andere Länder gezogen, warum gab es nicht früher einen eigenen Staat?

Ich hörte letzte Woche den Bericht unseres Pfarrers, der Israel häufig besucht. Es gibt durchaus auch Zusammenarbeit zwischen Juden und Arabern, sogar Treffen von jüdischen Eltern getöteter Kinder mit arabischen Eltern, deren Kinder einen Selbstmordanschlag verübt haben.

Das Problem sind wohl die Extremisten auf beiden Seiten.

Grüße von der Bergstraße, Marlis
Marlis Beutel
ursel

videos aus Israel und Palästina

Beitrag von ursel »

wenn Ihr etwas aus der Jetztzeit erfahren wollt, empfehle ich diesen Link:
http://gaza-sderot.arte.tv/
Es geht um Gaza (Palästina) und Sderot (Israel). Über das Leben in 2 Städten an der Grenze. Kurze Videos (2 Minuten), soll über 2 Monate laufen, bisher gibt es 11 Folgen. Eingeteilt in die Rubriken Zeit / Porträts / Karten / Themen.
gefunden via http://www.ehrensenf.de/
Gruß ursel
Marlis Beutel
Beiträge: 364
Registriert: Mittwoch 5. April 2006, 18:54
Wohnort: 64646 Heppenheim

Liebe und Finsternis

Beitrag von Marlis Beutel »

Heute beschäftigte ich mich mit der Seite 719 ff, wo Amos versucht, sich aus der Umklammerung der diasporageschädigten Erwachsenen zu lösen. Ich bin sehr neugierig, wie weit es ihm gelingt. Es ist ja nicht nur sein Problem, wir alle mussten uns mit der vorhergehenden Generation auseinandersetzen und schädigenden Ballast über Bord werfen.

Seine Schilderung der Begegnung mit Ben Gurion hat mich fasziniert. Ich denke aber auch immer wieder daran, dass wir hier nicht eine Autobiografie, sondern einen autobiografischen Roman lesen.

Danke. liebe Ursel, für den Link! Ich beschäftige mich aber nicht so gern mit Problemen, die ich nicht lösen kann und auch nicht lösen muss. Das ist zu deprimierend.

Viele Grüße von der Bergstraße, Marlis
Marlis Beutel
ursel

Lesen ja - Sehen nein?

Beitrag von ursel »

Liebe Marlis,
ich verstehe das nicht ganz: Du meinst, das Buch in print lesen, im Forum virtuell diskutieren, das ist o.k., aber ein paar Gegenwartsvideos anzuschauen, die interessant einander gegenübergestellt sind, das gehört nicht dazu?
So ganz kann ich Dir da nicht folgen.
Gruss Ursel
Marlis Beutel
Beiträge: 364
Registriert: Mittwoch 5. April 2006, 18:54
Wohnort: 64646 Heppenheim

Liebe Ursel,

Beitrag von Marlis Beutel »

was ich geschrieben habe, gilt ja nur für mich, nicht für andere. Ich lese das Buch mit großem Interesse, habe mir einen Bericht unseres Pfarrers, der gerade aus der Region zurückkam, ebenfalls mit großem Interesse angehört. Aber ich möchte das Thema irgendwann abschließen und mich mit etwas anderem beschäftigen, weil mich eine so verfahrene Situation auf Dauer deprimiert.

Liebe Grüße von der Bergstraße, Marlis
Marlis Beutel
Erna
Beiträge: 878
Registriert: Freitag 1. April 2005, 10:47

Beitrag von Erna »

Das ist aber ärgerlich, eben hatte ich einen langen Beitrag ins Forum geschrieben und weg ist er.
Einen von Ursels Links habe ich mir angesehen. Das Projekt ist schon interessant, vor allem, da es beide Seiten einbindet. Ich kann aber auch verstehen, dass man nicht diese Bilder ansehen mag. Ich würde, auch wenn ich es könnte, nicht noch einmal nach Israel fahren. Ich habe die zwischen den bieden Völkern bestehende Athmosphäre körperlich verspürt. Vielleich lag das auch daran, dass wir einen israelischen Palästinenser als Führer hatten.
Nun bin ich auch mit dem Buch am Ende und war in der immer öfter werdenden Schilderung der letzten Stunden der Mutter, erstaunt zu lesen, dass Oz bis ins Jahr 2003 mit niemandem über den Tod der Mutter gesprochen hat. Das hätte ich nicht gekonnt. Und ich habe einige Tode zu verkraften gehabt. Wie kann man so leben?
Marlis Beutel
Beiträge: 364
Registriert: Mittwoch 5. April 2006, 18:54
Wohnort: 64646 Heppenheim

Liebe Erna,

Beitrag von Marlis Beutel »

Zu Deiner Beobachtung passt auch, dass Amos Oz in seinem Buch immer wieder ansetzt, von seiner Mutter zu erzählen, dann aber zu etwas anderem übergeht. Er tastet sich an die Mutter heran, versucht auch, ihr gerecht zu werden, aber der Selbstmord hat zu viele Fragen aufgeworfen, die ein minderjähriger Sohn gar nicht beantworten kann. Der Vater ist da keine Hilfe, auch nicht die mütterliche Verwandtschaft, die den Vater für die psychische Erkrankung verantwortlich macht.
Es geht in dieser Gesellschaft sehr darum, den Schein zu wahren. Haben die Erwachsenen diese Einstellung aus Russland oder Polen mitgebracht, wo sie sich immer vorbildlich benehmen mussten? Der Sohn geht jedenfalls einen anderen Weg, entzieht sich ihrem Einfluss.

Viele Grüße von der Bergstraße, Marlis
Marlis Beutel
Brigitte Höfer
Beiträge: 440
Registriert: Donnerstag 9. Februar 2006, 17:51
Wohnort: 61440

Den Schein wahren...

Beitrag von Brigitte Höfer »

Liebe Marlis,

ich würde nicht sagen, dass die Israelis Menschen sind, die den Schein wahren wollten, sondern ich habe sie kennen gelernt als sehr kinderliebe Menschen, die auf keinen Fall ihre Kinder mit ihren eigenen negativen Erlebnissen belasten wollten. Amos Oz erwähnt immer wieder die Zwischenrufe seiner Mutter, die den Vater unterbrach, wenn er etwas erzählen wollte, was das Kind zu weiteren Fragen anstiften könnte.

Dass das Verschweigen der traumatisierenden Erlebnisse zu psychischen Krankheiten führt, ist nahezu unausweichlich. Sie müssten im Gespräch verarbeitet werden. Viele haben erst im Altenheim begonnen, davon zu erzählen. Eine Freundin von mir hat Interviews mit alten Menschen aus Frankfurt und Umgebung sowohl in Israel als auch hier gemacht und in einem Buch herausgegeben. Den Schein wahren...- ist das nicht auch ein Problem der Deutschen?

Ich bin sehr froh, dass wir das Buch von Amos Oz gemeinsam gelesen haben, - es ist sehr dick, und wir haben es geschafft. Es hat sich gelohnt, und ich werde es immer wieder empfehlen.
Gesperrt