Erich Loest: Nikolaikirche

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Erna
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Erich Loest: Nikolaikirche

Beitrag von Erna »

Liebe LeserInnen,
Ursel hat bereits die Materialien zu diesem Buch eingepflegt. Wer möchte kann also schon anfangen zu schreiben.
Ich bin leider erst auf Seite 32 und kann noch nicht viel dazu sagen.
Viel Spaß beim Lesen
Erna
HildegardN
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Nikolaikirche

Beitrag von HildegardN »

Wir haben in der Mehrzahl wohl erst kürzlich angefangen, uns mit der "Nikolaikirche" zu beschäftigen, deshalb ist das Ergebnis meiner Eindrücke und Beurteilungen noch recht dürftig. Nur eines habe ich sogleich festgestellt: Nach Amos Oz "Einer Geschichte von Liebe und Finsternis" ist zumindest die Sprache des Autors gewöhnungsbedürftig. Sie hat viel mit den tristen Verhältnissen der einstigen DDR gemein.
Zunächst hatte ich auch Schwierigkeiten, an die vielen Einblendungen anzuknüpfen, die das Bild aber vervollständigen, das Kennenlernen erst ermöglichen und das Verständnis erleichtern.
Hilfreich fand ich beim Leseanfang eine professionelle Buchbesprechung, aus der ich in einem folgenden Beitrag einige Passagen mitteilen werde.
Gruß Hildegard
HildegardN
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"Nikolaikirche" : Passagen einer Buchbesprechung

Beitrag von HildegardN »

aus einer Buchbesprechung:
Der Roman "Nikolaikirche" beeuchtet vor dem Hintergrund der Ereignisse, die 1989 zum Fall der Mauer und zur Kapitulation der DDR führten, die Geschichte einer Leipziger Familie, die im Kleinen die Konflikte und Entwicklungen einer ganzen Volkes widerspigelt. Der Riss, der die DDR bersten ließ, geht mitten durch eine Leipziger Familie, die Familie Bacher.
Der Vater Albert Bacher, General der Volkspolizei, ist zu Beginn der Handlung bereits tot, aber durch Rückblenden und Erinnerungen der Personen ständig präsent. Die Witwe lebt in der schmerzlichen Erinnerung an einen mustergültigen Kommunisten. Der Sohn Alexander tritt in die Fußtapfen seines Vaters: Als Stasi-Hauptmann übt er sich mit der Observation von Störern der staatlichen Ordnung. Seine Schwester Astrid, Architektin beim Leipziger Bauamt, will die städtebaulichen Unzulänglichkeiten nicht länger decken, stellt kritische Fragen, die nicht ohne Folgen bleiben. Bei einem Sanatoriumsaufenthalt knüpft sie erste Kontakte zum Umfeld der Leipziger Nikolaikirche.
Anhand der Personenkonstellationen aus Aufrührern und Angepassten, Helden und Nichthelden schildert der Autor den Niedergang einer Stadt und schließlich den Zusammenbruch der DDR.
Marlis Beutel
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Liebe Lesegruppe,

Beitrag von Marlis Beutel »

danke für das Protokoll und für Eure Beiträge! Es fällt mir natürlich auch auf, wie sehr sich die Sprache des Erich Loest von der Sprache des Amos Oz unterscheidet. Ich hatte zunächst sogar Schwierigkeiten den Dialogen zu folgen. Hier ein Beispiel von S. 44: "Ich dachte schon, du wärst tot."
"Hätte ja sein können. Unkraut."

Man sagt offenbar nur das Allernötigste, und der Angesprochene kapiert, was gemeint ist. Sind alle so gleichgeschaltet, gab es kein individuelles Denken, das man dem anderen erklären musste? Die Dialoge sind bis jetzt überhaupt sehr knapp. Wahrscheinlich war Misstrauen angebracht in der damaligen DDR, musste sich jeder in Acht nehmen.

Ich wünsche Euch allen schöne Feiertage und werde versuchen weiter zu lesen. Marlis
Marlis Beutel
Erna
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Beitrag von Erna »

Bei den Dialogen muss ich Marlis beipflichten. Sie sind so kurz, dass ich manchmal überlegen muss, was damit gemeint ist. Ob das den Zuständen der damaligen DDR zu verdanken ist, kann ich nicht sagen, da wir keine familiären Bindungen in das Land hatten, kann ich es nur vermuten. Ich bin zwar etwas weiter gekommen im Buch, aber immer noch gewöhnungsbedürftig.
Marlis Beutel
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Nikolaikirche

Beitrag von Marlis Beutel »

Das Lesen macht noch immer keinen Spaß. Ich bin aber zufrieden, dass wir ein solches Buch lesen. Bedeutet MfS Ministerium für Staatssicherheit? Und was ist NVA? Hat jemand von Euch die DDR erlebt? Ich lernte das Land erst nach der Wiedervereinigung kennen.

Grüße von der Bergstraße, Marlis
Marlis Beutel
Horst Glameyer
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MfS und NVA

Beitrag von Horst Glameyer »

Liebe Marlis,
wie Du richtig vermutest, bedeutet MfS Ministerium für Staatssicherheit, und NVA steht für Nationale Volksarmee. Da ich weder Verwandte noch Freunde in der DDR hatte, bin ich nur an einem einzigen Nachmittag in den 70er Jahren in Ostberlin gewesen. Es war ein seltsam unheimliches Erlebnis.

Bereits die Bahnfahrt von Hamburg nach Westberlin und zurück war sehr bedrückend. Auf der Hinfahrt stand während der Reise durch die DDR im letzten Wagen ein Soldat mit einer Maschinenpistole am Fenster. Den Zug zog eine Dampflokomotive. In Wittenberge gab es einen längeren Aufenthalt, und der Zug wurde draußen von einer Kette von Soldaten bewacht, die alle Maschinenpistolen im Anschlag hielten. Vermutlich sollten sie verhindern, dass sich Flüchtende unserem Zug näherten oder westliche Agenten ihn verließen.
Während der Fahrt durch die DDR sprachen die Reisenden nur gedämpft miteinander. Vor allem durfte niemand westliche Zeitungen und Zeitschriften, etwa DER SPIEGEL, mit sich führen. Sobald der Zug über die Grenze nach Westberlin fuhr, ging ein hörbares Aufatmen durch die Wagen.

Nicht anders fühlte ich mich beim Besuch der DDR. Ich glaube, im Bahnhof Friedrichstraße war der Übergang. Auf Stegen sah ich hoch über den Gleisen bewaffnete Soldaten patroullieren. Nach Ostberlin gelangte man, nachdem man kontrolliert worden war, durch verwinkelte Gänge im Untergrund.
In einem Café am Alexanderplatz musste man am Eingang Schlange stehen, bis man vom Oberkellner einen Platz zugewiesen bekam. Auch im Westen kann in einem gut besuchten Restaurant der Ober dem Gast einen Platz anbieten, doch das ist mit der Platzzuweisung im damaligen Ostberlin nicht zu vergleichen.

Wenn ich mich recht entsinne, hieß die letzte Station auf DDR-Gebiet Schwaneheide oder -wede. Dort jagten die Grenzbeamten der DDR Schäferhunde unter den Wagen hindurch, damit sie Flüchtlinge fassten, die sich womöglich über den Wagenachsen versteckt hielten, bis der Zug nach Büchen im Westen und sie in die Freiheit gelangt waren.
Gruß Horst
Marlis Beutel
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Lieber Horst,

Beitrag von Marlis Beutel »

danke für die ausführliche Schilderung, die unseren Roman so lebendig ergänzt! Ich war erst nach der "Wende" in Ostdeutschland. Es war dort anders als hier im Westen, aber natürlich nicht mehr unheimlich.

Viele Grüße von der Bergstraße, Marlis
Marlis Beutel
Erna
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Beitrag von Erna »

So wie es Horst in der ehemaligen DDR ergangen ist, ist es mir beim Besuch von Israel ergangen. Da war auch ein so erdrückendes Gefühl, wenn man die vielen Kontrollpunkte passieren musste.
Ich lese das Buch auch nicht gern, aber ich muss gestehen, dass ich vieles nicht weiß, von dem was geschildert wird. Um so weniger kann ich die wieder aufkommende "Ostalgie" verstehen. Nicht dass ich meine, wir leben im Paradies. Aber allein die Konstellation in der Familie Bacher. Da bespitzelt der Sohn die Mutter und läßt die Dufttücher der Stühle aufbewahren, damit man vielleicht einmal mit Hunden die Spuren finden lassen kann. Da wird ihm sogleich zugetragen, dass seine Schwester in der Kirche war. und er fürchtet um seine Karriere. Was wird erst geschehen, wenn er erfährt, dass seine Freundin Claudia auch nicht linientreu ist?
Allen Lesern ein gutes neues Jahr
Erna
HildegardN
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Nikolaikirche

Beitrag von HildegardN »

Mein PC scheint völlig durcheinander zu sein. Gestern habe ich auf den Bericht von Horst ausführlich geantwortet und meinen Text im Forum bestätigt gesehen, und heute ist alles weg.
Im Grunde wollte ich nur das aus meiner Sicht und aus eigenen Erlebnissen bestätigen, was Horst geschildert hat. Die Unsicherheit war bei allen DDR-Besuchen ein ständiger Begleiter und zwar nicht nur bei den dortigen Bewohnern zu Hause,sondern auch bei denen, die für sie tätig waren bzw. sie bewachten. Als z.B. ich einmal in Wittenberge aufgrund einer falschen Zugauskunft den falschen Zug bestieg und mitten in der Nacht an einem Ort landete, an dem gerade ein Manöver stattfand, wurde ich wegen Spionage verhaftet. Der Auskunft erteilende Bahnbeamte, den ich genau beschreiben konnte, wagte seinen Irrtum nicht zuzugeben. Später habe ich das sogar verstanden - nachdem ich wieder frei war.
Unsere Lektüre, das Buch "Nikolaikirche" spiegelt diese bedrückenden Situationen, unter denen dort Jahrzehnte gelebt werden mußte, wider, und in der Sprache teilt sich dies dem Leser unaufhörlich mit.
Mit herzlichen Neujahrsgrüßen Euch allen, Hildegard
Marlis Beutel
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Liebe Lesegruppe,

Beitrag von Marlis Beutel »

In letzter Zeit fallen mir die sehr gekonnten Beschreibungen auf z. B.: "So einer fand nur schwer eine Freundin, und wenn, dann packte es ihn wie ein Erdbeben. Ein dunkler Typ, schlank, mit zarten Händen, mädchenhafter Haut und Wimpern wie bei einer Kitschpuppe." S. 146 oder "Sie gingen aus der Devisenkühle ins liederliche, nach Zweitaktgemisch stinkende Leipzig hinaus." S. 155 oder "Wind war aufgekommen, er brachte die Blätter zum Rascheln und riß helle Bahnen in den Nebel." S. 241 oder "Ein Trabant hielt neben ihm, staubend. Die Kerle darin hätten gejauchzt, wäre ihnen ein Reifenquietschen gelungen, wie sie es in amerikanischen Krimis bewunderten, aber mit dieser Krücke?" S. 246 oder die Beschreibungen der Erlebnisse und möglicherweise Beobachtungen des Superintendenten von S. 255 bis S.261
Trotzdem bleibt der Eindruck, das Buch sei für Insider geschrieben, nicht für Leser, denen die DDR fremd war. Ich würde nach einmaligem Lesen am liebsten noch einmal von vorn anfangen. Würde es mir dann gelingen, mich auch als Insider zu fühlen?

Euch allen gute Wünsche für das Jahr, das gerade begonnen hat! Marlis
Marlis Beutel
Marlis Beutel
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Nikolaikirche

Beitrag von Marlis Beutel »

Jetzt habe ich das Buch zu Ende gelesen. Ich hatte mir nie Gedanken über die Menschen gemacht, die politisch in der DDR eine Rolle spielten und das System aufrechterhielten. Über diese Funktionäre schreibt Loest ausführlich genug. Wie würdet Ihr seinen Stil einordnen? Spröde? Er macht es jedenfalls seinen Lesern nicht leicht. Die Kapitel folgen nicht so zwingend aufeinander, dass man das Buch nicht mehr aus der Hand legt.
Aber ich denke, dass ich doch einen Eindruck vom Leben in der DDR bekam. Wie mag es den Funktionären von damals heute ergehen?

Viele Grüße von der Bergstraße, Marlis
Marlis Beutel
Erna
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Beitrag von Erna »

Loest's Buch habe ich nun auch beendet. Wenn ich das Ende lieber gelesen habe als den Anfang, so wirft für mich der Inhalt als auch die Art des Schreibens immer noch viele Fragen auf . Der Inhalt deswegen, weil ich mich manchmal in einem Spiel von Jugendlichen wähnte, man denke nur an die "Duftlappen" oder die falsche Bacher-Tochter, die Linus verleumderische Bilder der Pfarrer der Nikolai- und anderen Kirchen bringt. Kann ein Staat so primitiv sein? Um mich über die Schreibweise zu informieren, müsste ich unbedingt noch ein anderes Buch von Loest lesen.
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