Bernhard Schlink: Der Vorleser

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Marlis Beutel
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Re: Bernhard Link: Der Vorleser

Beitrag von Marlis Beutel »

Liebe Erna,
ja, die Jüdin in den USA ist die einzige, die die Schuld Hannas gegenüber Michael anspricht, soweit ich mich erinnere. Michael war 15, Hanna hielt ihn für 17. Aber auch mit 17 ist er noch nicht erwachsen. Michael wird ganz massiv in Hannas Schuldproblematik hineingezogen, als er an den Verhandlungen teilnimmt und allmählich begreift, wer Hanna ist und weshalb sie sich so verhalten hat und nicht anders. Ihm wird auch die Verantwortung für sie übertragen, die ihn sehr verunsichert. Immerhin hatte Hanna ihn vor Jahren ohne jeden Abschied verlassen. Wie kann er jetzt die Verantwortung für sie übernehmen?
Die Beziehung zu Hanna hat ihn zunächst zwar reifen lassen. Später kann er jedoch keine Beziehung zu einer anderen Frau eingehen, ohne an Hanna erinnert zu werden und die Frauen mit Hanna zu vergleichen. Was für eine Belastung! Besonders schlimm ist es im Fall seiner Frau und der kleinen Tochter.
Für den Leser ist Hannas Tod der einzige logische Ausweg aus einer völlig verfahrenen Situation. Einen anderen Schluss kann ich mir nicht vorstellen.

Herzliche Grüße von der ebenfalls verschneiten Bergstraße, Marlis
Marlis Beutel
Erna
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Re: Bernhard Schlink: Der Vorleser

Beitrag von Erna »

Liebe Literaturfrauen,
Sigrid übermittelte mir folgenden Beitrag zu dem Buch, den ich für sie hineinstelle:

Das Buch führt den Leser zunächst in eine Liebesgeschichte zwischen einem 15-jährigen Jungen und einer älteren Frau. Auch das soziale Umfeld ist sehr gegensätzlich. Obwohl eine einfache Sträßenbahnschaffnerin ist sie es, die dem Jungen nahelegt, daß sie ihn nur noch treffen will, wenn er tüchtig für die Schule lernt. Man wundert sich, daß der Junge ihr immer vorlesen soll.

Was aber im weiteren Verlauf des Romans den Leser nicht mehr losläßt, ist die Enthüllung der Vergangenheit von Hanna als frühere Lageraufseherin im KZ-Prozeß, wo der Junge, jetzt Jurastudent und Prozeßbeobachter, ihr plötzlich wieder nach vielen Jahren begegnet. Hanna will auf keinen Fall zugeben, daß sie Analphabetin ist und verstrickt sich im weiteren Prozeßverlauf so sehr, daß sie lieber die Höchststrafe auf sich nimmt.

Auch Michael kämpft mit den ihn sehr belastenden Fragen von eigener Schuld und Scham. Er weiß nicht, ob er dem Richter mitteilen muß, was er über Hanna weiß, z.B. daß sie nicht lesen kann. Im Gespräch mit seinem Vater lernt er, daß die Freiheit und die Würde des Einzelnen und seiner eigenen Entscheidungen zu respktieren seien und man ihm gar nicht helfen darf.

Wir lernen in Hanna eine im NS-Staat schuldig gewordene Frau kennen, die auf ihre Weise das Unrecht sühnt, indem sie sich zum Beispiel im Gefängnis selbst das Lesen beibringt und sich Bücher über Frauen als Aufseher in KZ-Lagern ausleiht. In ihrem Testament vermacht sie den zwei überlebenden Opfern ihre wenigen Ersparnisse für einen guten Zweck.

Können die Überlebenden das Geld annehmen, wo sie doch Hanna keine Absolution erteilen können? Solche und ähnliche Fragen beschäftigen den Leser auch nach der Lektüre.

Gruß Sigrid
Klaus Rüger

Re: Bernhard Schlink: Der Vorleser

Beitrag von Klaus Rüger »

Ich habe eine ganze Weile die vorgestellten Bücher im Forum nur verfolgt, man kann ja nicht jedes Buch lesen ! Dieses Buch habe ich gelesen !
Es gibt ja viele Bücher über die Verführung von Knaben durch ältere Frauen, auch über die Verbrechen von Wärterinnen in den KZ-Lagern des 3. Reiches.
Selten liest man jedoch, dass letztere von ihren Häftlingen,später auch von ihrem Geliebten, verlangten ihnen ein Buch vorzulesen ! Es hat diese KZ-Aufseherin ihr Analphabetismus also stark belastet,so sehr , dass sie lieber eine hohe Strafe in Kauf nimmt als ihn im Prozess als Entlastung zu verwenden !!
Das Lesenlernen während der Gefängniszeit ist für sie eine Art Katharsis, lässt sie ihr verfehltes Leben erkennen und ,welche Tragik, eine entsprechende Schlussfolgerung ziehen !
Das Vorlesen hat , wie der Buchtitel andeutet, für die Buchheldin einen wichtigen Anstoss zur charakterlichen Wende gegeben !
Mfg
Klaus
Erna
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Re: Bernhard Schlink: Der Vorleser

Beitrag von Erna »

Das sehe ich genauso. Für sie war es schlimmer, zugeben zu müssen, dass sie nicht lesen kann, als die Strafe für Verbrechen, die sie aufgrund dieses Mangels bekam anzunehmen. Es scheint wohl grundsätzlich so zu sein, dass sich Analphabeten nicht outen. Bisher habe ich nur einen kennen gelernt, einen Schüler einer vierten Klasse. Und da haben es die Mitschüler gesagt, nicht er selber. Dabei stelle ich mir das Leben ohne lesen zu können, sehr schwer vor.
Erna
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