Bernhard Schlink: Der Vorleser

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Erna
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Bernhard Schlink: Der Vorleser

Beitrag von Erna »

Liebe Literaturfrauen,
mit dem neuen Monat beginnen wir auch unser neues Buch - Bernhard Schlink: Der Vorleser.
Da Ursel sich noch etwas vom LC erholen muss, will ich zunächst mit dem Strang anfangen.Velleicht könnt Ihr es ja gar nicht erwarten, etwas hineinzuschreiben!
Im Gegensatz zu unseren anderen Büchern, ist "Der Vorleser" bereits vor 14 Jahren erschienen. Eigentlich ein altes Buch, das es aber in der vergangenen Zeit geschafft hat, in denen Kanon der Pflichtlektüre für die Oberstufe der Gymnasien zu gelangen. Das neuerliche Interesse an dem Buch, scheint durch eine neue Verfilmung entstanden zu sein. Damit auch ein neues Interview mit dem Autor in der FAZ von 2009
http://www.faz.net/s/Rub1DA1FB848C1E448 ... ontent.htm
Zunächst habe ich mich über den Titel gewundert, was hat ein Vorleser mit der Erzählung zu tun, es ist doch die Beschreibung des pubertierenden Michaels und seinem Verhältnis zu der viel älteren Frau. Es dauerte also etwas, bis ich zu der Erklärung kam.
Mich fasziniert an dem Roman die klare Gliederung, der einfache Satzbau und die für mich eindrucksvolle Beschreibung des Jungen.
Erna




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HildegardN
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Re: Bernhard Link: Der Vorleser

Beitrag von HildegardN »

Ich habe erst wenige Seiten gelesen, in denen der Ich-Erzähler Michael seine erste, wohl schicksalhafte Begegnung mit Hanna schildert. Diese Begegnung findet vor einem Haus statt, in dem Hanna wohnt.
Es ist vor allem dieses Haus, das Michael zunächst nachhaltig beeindruckt. Es taucht in seinen Gedanken und Träumen auf, erscheint ihm im Traum an unterschiedlichen Orten, in unterschiedlichen Ländern.
Seitdem beschäftigt mich die Frage: "Welche Bedeutung mögen diese Träume eines Fünfzehnjährigen haben und welcher Einfluss kann ihnen zugeschrieben werden"?
Hildegard
Erna
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Re: Bernhard Link: Der Vorleser

Beitrag von Erna »

Dieser Aspekt ist mir gar nicht aufgefallen. Könnte man annehmen, dass er so etwas wie "Schicksal" für den Jugendlichen bedeutet?
Erna
Marlis Beutel
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Re: Bernhard Link: Der Vorleser

Beitrag von Marlis Beutel »

Liebe Erna und liebe Lesegruppe,
ja, das Buch liest sich leicht dank seiner Klarheit. Ich las es schon vor Jahren, lese es aber gern von neuem. Was mir dieses Mal besonders auffällt, sind die Probleme, mit denen sich pubertierende Jugendliche auseinandersetzen müssen. Michael wird zielstrebiger und selbstsicherer durch die Beziehung zu Hanna, die ihm ganz und gar nicht bewusst dabei hilft. Erst viel später wird er die Rätsel lösen können, die ihm Hannas Verhalten auch aufgibt. Was sich Michael nicht erklären kann, macht aber auch das Buch spannend. Der Leser kann erwarten, dass der Fünfzehnjährige irgendwann mehr über Hanna herausfinden wird.

Viele Grüße von der Bergstraße, Marlis
Marlis Beutel
HildegardN
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Re: Bernhard Link: Der Vorleser

Beitrag von HildegardN »

"Michael wird zielstrebiger und selbstsicherer durch die Beziehung zu Hanna", schreibt Marlis in ihrem Beitrag. Das habe ich auch festgestellt, und es entpricht auch der Erfahrung, dass die Jugend nicht nur gefördert, sondern gefordert werden muss, um Leistungen zu erbringen.

"Ich bleibe sowieso sitzen", sagt Michael zu Hanna (S.36) und erzählt ihr, dass er die Schule schwämzt. Hanna reagiert darauf rigoros: "Raus aus meinem Bett, und komm nicht wieder, wenn du nicht deine Arbeit machst". Michael hat begriffen und durch intensives Arbeiten sein Klassenziel und damit seine Versetzung in die Obersekunda erreicht.

Adventliche Grüße aus Bad Homburg
Hildegard
Marlis Beutel
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Re: Bernhard Link: Der Vorleser

Beitrag von Marlis Beutel »

Liebe Hildegard,

Dein Beitrag hat mir sehr gefallen. Hanna gibt dem Schulschwänzer einen tüchtigen Schubs! Offen gestanden, ich lese immer abends vor dem Einschlafen und erinnere mich am nächsten Tag nicht mehr so genau. Jetzt wird mir klar, dass das keine allzu gute Idee ist. Überhaupt ist das Buch im zweiten und dritten Teil nicht mehr so mühelos zu verstehen; ich muss es noch einmal durchdenken.

Herzliche Grüße, Marlis
Marlis Beutel
Erna
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Re: Bernhard Link: Der Vorleser

Beitrag von Erna »

Hallo, liebe Schreiberinnen,
ich freue mich immer, wenn ins Forum geschrieben wird. Ich bin im zweiten Teil des Buches angekommen und frage mich, was läßt Hanna so stutzen, als Michael auf ihre Frage danach, sie mit einem Pferd vergleicht. Aber noch interessanter ist, warum verschwindet sie danach? Den Zustand von Michael nach dem Verschwinden von Hanna beschreibt der Autor ausgezeichnet. Es gab in meinem Leben viele Trennungen, schon im Kindesalter, aber der Zustand nach einer Trennung im Alter von 16 Jahren entsprach sehr dem, den Schlink beschreibt. Vielleicht kommt es durch die Gleichaltrigkeit? Auf jeden Fall rief die Beschreibung das Geschehen, das ich längst vergessen glaubte, wieder ins Bewußtsein zurück.
Erna
HildegardN
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Re: Bernhard Link: Der Vorleser

Beitrag von HildegardN »

Liebe Mitleserinnen,
beeindruckt hat mich immer wieder die detaillierte Beschreibung, wenn der Autor dem Leser z.B. die Umgebung, Häuser und Räume vorstellt.
"Bernhard Schlink ist ein intensiver Beobachter..." heisst es in einer Rezension des Romans, "man liest und versteht". Ich möchte noch hinzufügen: "Man liest und sieht".
Besonders deutlich empfand ich dies bei der Beschreibung des Klassenzimmers (S.65). "Ich sehe das Klassenzimmer vor mir", lässt Michael den Leser wissen, "vorne rechts (ist) die Tür, an der rechten Wand die Holzleiste mit den Kleiderhaken, links Fenster an Fenster und dadurch der Blick auf den Heiligenberg".
Ich sah deutlich das Klasenzimmer vor mir, ging mit Michael hinein und konnte dem geschilderten Unterricht beiwohnen.
Mit vielen Grüßen aus Bad Homburg
Hildegard
Erna
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Re: Bernhard Link: Der Vorleser

Beitrag von Erna »

Für mich, als zur Tätergeneration zählend, obwohl ich nie gewählt habe und aus einer Familie komme, die immer "Zentrum" gewählt hat, erinnern manche Passagen in diesem Buch an Gespräche mit meinen Kindern: "Wir alle verurteilten unsere Eltern zu Scham, und wenn wir sie nur anklagen konnten, die Täter nach 1945 bei sich, unter sich geduldet zu haben ." ..Und die Antwort des Richters auf Hannas Frage: "Was hätten Sie denn gemacht?" "Es gibt Sachen, auf die man sich einfach nicht einlassen darf und von denen man sich, wenn es einen nicht Leib und Leben kostet, absetzen muss".
Wer weiß denn, wann dieser Zeitpunkt gekommen ist?
Ich erinnere mich noch an den Ausspruch von Bundeskanzler Kohl von "der Gnade der späten Geburt" über den sich viele so aufregten. Vielleicht waren die Studenten nach der Verhandlung der gleichen Meinung?
Davon abgesehen sollten Verbrechen geahndet werden.
Erna
HildegardN
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Re: Bernhard Link: Der Vorleser

Beitrag von HildegardN »

Der Autor konfrontiert den Leser mit Aspekten, die auch heute noch als stark belastend empfunden werden. Es ist dies die Massenvernichtung von Millionen unschuldiger Menschen in den Konzentrationslagern.
Auf S. 115/116 beschreibt Bernhard Schlink anhand des Manuskripts einer Betroffenen einige ihrer Erlebnisse während ihrer Inhaftierung in Auschwitz und Krakau, "das Elend bei der Auflösung des Lagers" sowie bei dem Aufbruch der Gefangenen nach Westen, der einem Todesmarsch gleichkam. Hier bestätigte sich auch, was Michael bereits bei Hannas Prozess und ihrer Verurteilung erfahren hatte: wer Hanna war.
Es sind zeitgeschichtliche Aspekte, die der Autor in seinen Roman hat einfliessen lassen, er hat damit nicht nur informiert, sondern darüber hinaus zum Nachdenken angeregt, vielleicht auch manche Aufarbeitung unterstützt.
Was hat ihn dazu bewogen? War das wohl seine Absicht, also geplant, als er das Konzept für den Roman entwarf oder entwickelte sich dies erst später im Verlaufe der Handlung? Diese Frage stellte sich mir, nachdem ich das Buch zuende gelesen hatte. Was meint Ihr?
Mit herzlichem Gruß, Hildegard
Marlis Beutel
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Re: Bernhard Link: Der Vorleser

Beitrag von Marlis Beutel »

Liebe Erna, liebe Hildegard und liebe Mitleserinnen,

nachdem ich das Buch zu Ende gelesen hatte einfach nur wegen des Inhalts, begann ich den Roman erneut zu lesen und finde ihn ganz ausgezeichnet. Ich denke, der Autor wollte von vornherein einen solchen Roman schreiben, bei dem es um Aufarbeitung des Unglaublichen geht.
Hanna hat eine ganze Menge Schaden auch bei ihrem jungen Freund angerichtet, der zwar zunächst selbstsicherer wurde, aber später mit anderen Frauen Probleme hatte. Soweit ich mich erinnere, spricht nur die Jüdin in den USA das Thema an. Interessant ist dabei, dass Hanna ja glaubte, der Junge sei zwei Jahre älter als er wirklich war. Sie hinterfragt nicht. Das tat sie vermutlich auch im Konzentrationslager nicht. Sie konnte nicht einmal lesen, war also erstaunlich primitiv. Aber sie macht durch den "Vorleser" eine Entwicklung durch, die sie befähigt, im Gefängnis Lesen zu lernen. Sie versucht, wieder gutzumachen, indem sie ihr Geld spart, das aber nicht angenommen wird. Man wird an die Wiedergutmachungszahlungen erinnert, die auch keine wirkliche Wiedergutmachung bewirkten.
In diesem Roman wird gezeigt, wie stark sich die Verbrechen auch für nachfolgende Generationen noch auswirken. Man wird an ein Bibelwort erinnert, dass Gott Vergehen bestraft bis ins soundsovielte Glied (ich habe den Wortlaut vergessen).

Viele Grüße von der Bergstraße, Marlis
Marlis Beutel
Erna
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Re: Bernhard Schlink: Der Vorleser

Beitrag von Erna »

Zunächst einmal möchte ich mich dafür entschuldigen, dass im Forum, nur dort, wo wir unsere Beiträge hineinschreiben, beim neuen Thema der Autor Link anstatt Schlink heißt. Brigitte hat mich, leider erst jetzt, darauf aufmerksam gemacht. Ich wollte, sie hätte es eher getan. Vielleicht hat sie deswegen keinen Beitrag geschrieben?
Bei den vorangegangenen Beiträgen habe ich es nicht ändern können. Falls Ihr noch einmal etwas hineinschreibt, bitte verbessert den Fehler.
Die beiden vorherigen Beiträge finde ich sehr interessant. Das Liebesverhältnis mit Hanna, hat auf Michaels Leben ja eine ungeahnte Auswirkung gehabt. Für mich stellen sich noch zwei Fragen. Hanna hat sich im Gefängnis sehr entwickelt, sie liest ja auch sehr viel, nachdem sie es gelernt hat. KÖrperlich achtete sie immer sehr auf sich. Was ist der Grund, dass sie sich plötzlich so sehr vernachlässigt und was führt sie zum Selbstmord. Hatte sie angenommen, das vor einigen Jahrzehnten begonnene Verhältnis fortsetzen zu können?
Noch etwas zum Analphabetismus. Ich habe nur einen Analphabeten,einen Schüler, kennengelernt, als ich einmal Vertretung in einer Klasse machte. Ich habe sein Unvermögen nur festgestellt, als er etwas vorlesen sollte.
Schöne Adventgrüße
Erna
HildegardN
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Re: Bernhard Schlink: Der Vorleser

Beitrag von HildegardN »

Liebe Erna,
Deine beiden Fragen möchte ich wie folgt beantworten. Ich meine, Hanna hat sich aufgegeben. Darauf deutet schon die Vernachlässigung ihrer Körperpflege und ihrer Kleidung hin. Es ist ihr gleichgültig, wie sie aussieht. Und auch den Selbstmord führe ich auf ihre "Selbstaufgabe" zurück.
Herzlichen Gruß, Hildegard
Marlis Beutel
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Re: Bernhard Schlink: Der Vorleser

Beitrag von Marlis Beutel »

Liebe Lesegruppe,

Hanna hat sich ja auch im Gefängnis mit den Konzentrationslagern auseinandergesetzt, also auch mit ihrer persönlichen Schuld. Wie erträgt man so etwas? Und wie beginnt man ein neues Leben nach vielen Jahren Haft? Ich bezweifle nicht ihre Selbstaufgabe, denke nur, der Roman ist zu komplex als dass man einfache Antworten auf seine Fragen finden könnte. Michael hat ganz beträchtliche Schwierigkeiten am Hals. Auch das wird dem Leser sehr nahe gebracht.

Herzliche Grüße von der Bergstraße, Marlis
Marlis Beutel
Erna
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Re: Bernhard Schlink: Der Vorleser

Beitrag von Erna »

Wie erträgt man die Schuld, die man auf sich geladen hat? Anscheinend hat Hanna sie nicht ertragen, denn sie hat ja, als sie in die Freiheit kommen sollte, Suizid begangen.
Ich habe die letzten Kapitel des Buches noch einmal gelesen, weil ich wissen wollte, warum H. eines Tages begonnen hatte, nicht mehr auf sich zu achten und sich gehen zu lassen. Leider habe ich keinen Hinweis finden können. Sie war ja im Gefängnis auch als Autotität angesehen.
Sehr interessant fand ich das Kapitel 11. Beim Besuch bei der Tochter des Auschwitz-Opfers, stellt diese Michael die Frage, ob Hanna sich bewusst war, wie sie sein Leben negativ beeinflusst habe. Hat M. die Beziehung überhaupt als negativ empfunden?
Im letzten Kapitel schreibt M. , dass er erst nach zehn Jahren, wenn er sich der Ereignisse wieder erinnerte, nicht mehr nach Schuld, weder seiner noch Hannas gefragt hat.
Gruß aus dem tief verschneiten Frankfurt.
Erna
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