Toni Morrison: Liebe

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Marlis Beutel
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Re: Toni Morrison: Liebe

Beitrag von Marlis Beutel »

Liebe Mitleserinnen,

Junior wächst völlig ohne Erziehung und ohne Moral auf. Für mich steht sie jenseits von Gut und Böse. Sie ist schlau und gerissen, weil sie nur so hatte überleben können. Die "Onkels" - es waren ja mehrere (mit einem wäre sie vermutlich fertig geworden) überfahren ihren Fuß und verletzen sie schwer. Aber ihre Mutter tut so, als hätten sie das arme Mädchen gerettet. Der Anstaltsleiter bedrängt sie sexuell, und sie wehrt sich. Der Zeuge, der die offene Hose gesehen hat, sagt zugunsten des Verunglückten aus, und sie muss büßen. Junior lernt keine Gerechtigkeit kennen. Das Böse wird nicht beim Namen genannt und entsprechend gesühnt. Es fehlt überhaupt die Lebensbegleitung, nach der sich Junior sehnt. Deshalb spielt auch das Porträt von Mr. Cosey eine solche Rolle, denke ich.
Interessant ist schließlich das Gespräch zwischen Romen und dem (sehr vernünftigen) Großvater.
Romen wird durch Junior zum Mann. Aber im Gegensatz zu ihr verhält er sich verantwortungsbewusst und dürfte seinen Großvater verstanden haben (ab S. 218 und besonders S. 220 unten ff.).
Der Roman ist von einer unerhörten Dichte, und man muss als Leser wie ein Wanderer im Urwald verschlungenen Pfaden folgen, immer wieder neuen, bis man irgendwo ins Freie gelangt.

Viele Grüße von der Bergstraße; Marlis
Marlis Beutel
Marlis Beutel
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Re: Toni Morrison: Liebe

Beitrag von Marlis Beutel »

Liebe Mitleserinnen,

einmal im Monat treffe ich mich mit ehemaligen Kolleginnen, die um einiges jünger sind als ich.
(DIe älteren leben nicht mehr bzw. können nicht mehr teilnehmen.) Die Gespräche drehen sich dann um das, was diese jüngeren Kolleginnen beschäftigt. Es ergeht mir dabei so wie L in unserem Roman, ich könnte z.B. auch summen, das würde nicht besonders auffallen. Probiert habe ich es bisher nicht. Jedenfalls besitzt Frau Morrison eine Menge Menschenkenntnis bzw. gute Beobachtungsgabe. Das kam mir bei unserem letzten Treffen in den Sinn.

Viele Grüße von der Bergstraße; Marlis
Marlis Beutel
HildegardN
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Re: Toni Morrison: Liebe

Beitrag von HildegardN »

Liebe Mitleserinnen,
die Beiträge von Marlis motivieren mich immer wieder, mich an unserer Diskussion zu beteiligen, nicht nur, weil ich ihre Beurteilung fast immer teile, sondern weil sie mir darüber hinaus manches vermittelt, was ich so, wie sie es schildert, noch gar nicht gesehen oder sogar ganz übersehen habe.
Liebe Marlis, mit L, Junior und Roman haben wir uns in gleicher Weise unsere Ergebnisse um ausgetauscht.
Ich pflichte Dir bei, dass Romen verantwortungsvoll handelt und ich finde, es ist noch viel mehr, das ihn auszeichnet. Er wächst in einer sehr kritischen Situation gleichsam über sich hinaus, handelt schnell entschlossen, verantwortungsbewusst - und tut das Richtige. Ich meine, dass nicht allein die Lehren seines Großvaters dies bewirkt bzw. dazu beigetragen haben. Es steckt ein guter Kern in ihm, den wir bei den Jugendlichen heute gar nicht wahrnehmen bzw. nicht erkennen können, wenn sie nicht entsprechend herausgefordert werden.
Mit herzlichen Grüßen aus Bad Homburg
Hildegard
Erna
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Re: Toni Morrison: Liebe

Beitrag von Erna »

Ich habe nun auch das Buch beendet. Ganz formal:
Es hat eine Einleitung von L, der Köchin und ist in weitere neun Abschnitte eingeteilt, die immer eine Überschrift haben: Das Porträt, Der Freund, Der Fremde, Der Wohltäter, Der Liebhaber, Der Ehemann, Der Vater, Das Phantom. Unter diesen Überschriften wird jedes Mal der Protagonist in einer anderen Rolle beschrieben. L ist diejenige, die ihn wohl von allen Personen am genauesten kennt. Von ihr selber erfahren wir nichts, sie ist nur eine Stimme, während die anderen Personen eigentlich sehr genau beschrieben werden.
Während die Kapitelüberschriften auf den Inhalt hinweisen, tut dies der Titel des Buches m. Meinung nach nicht. Geht es nicht vielmehr um Sexualität? Liebe gibt es zwischen den beiden Frauen als sie noch Kinder sind und am Ende als sie sich im alten Hotel wieder versöhnen.
Erst einmal so viel.
Erna
Marlis Beutel
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Re: Toni Morrison: Liebe

Beitrag von Marlis Beutel »

Liebe Erna, liebe Hildegard und liebe Mitleserinnen,

nach dem zweiten Lesen denke ich, der Buchtitel "Liebe" bezieht sich auf die Liebe der beiden kleinen Mädchen Heed und Christine zueinander, die durch die Machenschaften und Interessen der Erwachsenen zerstört wird und erst ganz am Ende, nach dem "Unfall", wieder sichtbar wird.
Ich möchte das auch belegen: S. 271 unten "So schön. So wunderschön. Liebe. Da war sie da."
Und auf S. 277/278 "So geht es, wenn sich Kinder ineinander verlieben... Die Erwachsenen achten nicht sonderlich darauf, denn sie trauen einem Kind nichts zu, was großartiger wäre als sie selbst ...Wenn solche Kinder sich finden ... dann haben sie ein Gemenge aus Selbstaufgabe und Aufsässigkeit gefunden, ohne das sie nie mehr sein können. Heed und Christine machten diesen Fund." Am Ende des Romans finden Heed und Christine einander wieder, nachdem sie als erbitterte Rivalinnen gelebt hatten.
Das Buch macht es uns Lesern nicht leicht. Vieles wird nach Andeutungen vorausgesetzt, anderes wird sorgfältig beschrieben. Ich habe auch die Überschriften der einzelnen Kapitel noch keineswegs verstanden. Beziehen sie sich immer auf Mr. Cosey? Und zu wem wird er in Beziehung gesetzt?
Ich freue mich jedes Mal, wenn jemand von Euch etwas geschrieben hat, und dieses Buch ist eine harte Nuss, die wir vielleicht noch immer nicht ganz geknackt haben.
Herzliche Grüße von der Bergstraße, Marlis
Marlis Beutel
Marlis Beutel
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Re: Toni Morrison: Liebe

Beitrag von Marlis Beutel »

Etwas muss ich meinem letzten Beitrag noch hinzufügen.
Auf S. 138 wird Christine von ihrer Mutter aus ihrem Zimmer vertrieben und schließlich ganz weggeschickt ins Internat. Sie versteht nicht, warum.
Erst auf S. 267 ff erfährt der Leser die Ursache. Beide Mädchen werden völlig verstört durch Mr. Coseys Verhalten. Erst fasst er Heed an die Brust, dann onaniert er in Christines Zimmer. Christine übergibt sich und kann der Freundin nichts erklären. Heed fühlt sich schuldig, weil Mr. Cosey sie angefasst hat und kann ebenfalls nicht darüber sprechen. Das ist doch wohl Pädophilie. Die Erwachsenen überschreiten ihre Grenzen, die Kinder haben keine Möglichkeit, die Übergriffe zu verarbeiten. Das ist eine sehr bittere Erfahrung für beide.

Viele Grüße, Marlis
Marlis Beutel
Erna
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Re: Toni Morrison: Liebe

Beitrag von Erna »

Natürlich ist das Verhalten von Mr. Cosey nach unseren heutigen Maßstäben ein Verbrechen, nur war es das damals auch? In meiner Klasse war eine Schülerin (persische Jüdin), deren Mutter ihr erstes Kind mit 12 Jahren hatte. Ich habe bewußt persische und Jüdin geschrieben, denn dann war das Verhalten also weder bei Persern, das muss so um 1910 gewesen sein, noch bei Juden etwas Außergewöhnliches. Obwohl ich annehme, dass es schon selten vorkam, dass man mit 11 Jahren verheiratet wurde. Aber 13 und 14 war zu dieser Zeit im Orient schon normal.
Was ich aber als nicht normal empfinde ist, dass Heed ja noch nicht ihre Periode hatte. An einer Stelle sagt L dies und sie rechnet es Cosey hoch an, dass er in dieser Zeit Heed in Ruhe ließ.
Genau wie Marlis kann ich Liebe nur zwischen den beiden Mädchen sehen.
Erna
Marlis Beutel
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Re: Toni Morrison: Liebe

Beitrag von Marlis Beutel »

Liebe Erna,

wenn Du etwas von Deinen Erfahrungen berichtest. lese ich das immer besonders gern. Wir wissen natuerlich nicht, ob man den Orient mit den USA vergleichen kann. Toni Morrison ist 1931 geboren, ebenso Heed. An diesem Roman fällt auf, dass Bill Cosey und die Frauen sich nicht auf Augenhöhe begegnen. Sie sind keine Partnerinnen, eher Dienstboten und Gespielinnen.
Ihm gehört das Geld, also sind alle von ihm abhängig.
Auf S. 265 sagen die beiden Frauen: "Wir hätten unser Leben Hand in Hand verbringen können, statt überall nach dem großen Daddy zu suchen. Er war überall und nirgends. Von uns erfunden? Er hat sich selbst erfunden. Wir müssen mitgeholfen haben. ... Nur ein Teufel konnte sich ihn ausdenken. Und es gab einen...." Das ist ziemlich bitter. Aber die Kinderfreundschaft ist wieder da und versöhnt die beiden Frauen (und den Leser).

Viele Grüße, Marlis
Marlis Beutel
HildegardN
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Re: Toni Morrison: Liebe

Beitrag von HildegardN »

Liebe Marlis,
Bill Cosey starb 1971 im Alter von einundachtzig Jahren. Sein Verhalten entspricht m.E. den Einstellungen des Patriarchats. Hinzu kommt, dass die Emanzipation der Frauen sich damals - vielleicht auch nicht einmal ansatzweise - noch nicht durchgesetzt hatte. So kam es zu den geschilderten Abhängigkeiten in diesem Roman.
Mit herzlichen Grüßen aus Bad Homburg
Hildegard
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