Michela Murgia: Accabadora

Hier werden alle Bücher einsortiert, deren Diskussion beendet ist.
Erna
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Michela Murgia: Accabadora

Beitrag von Erna »

Der verabredete Leseanfang ist zwar erst der 15.09.10, aber warum soll nicht auch schon einmal etwas eher im Netz stehen.
Damit eröffne ich also die Diskussion über das oben stehende Buch. Nach den gelesenen Rezensionen scheint es ein sehr interessantes Buch zu sein, das in einer Gegend spielt, von der wir noch nichts gelesen haben und vielleicht auch wenig wissen.
Ich wünsche Euch allen ein gutes Lesevergnügen.
Gruß aus Frankfurt
Erna
Erna
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Re: Michela Murgia: Accabadora

Beitrag von Erna »

Ich habe bereits mit Accabadora begonnen und muss sagen, dass ich es bisher sehr schön fand. Eine geraliniege Handlung, bisher nur auf drei Personen beschränkt und doch gibt sie mir die Atmosphäre wieder, die ich beim Besuch von Sardinien empfand.
Erna
Brigitte Höfer
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Re: Michela Murgia: Accabadora

Beitrag von Brigitte Höfer »

Ich habe das Buch in einem Rutsch zu Ende gelesen. Es hat mich sehr nachdenklich gemacht, denn das Thema Sterbehilfe, obwohl es derzeit durch die Presse geht, ist ein heikles Thema. In unserer Familie wird nicht darüber gesprochen.
Unsere Mutter ist in einem Hospiz gestorben. Sie wurde 94 Jahre alt und litt die letzten Jahre unter großen Schmerzen, weil die implantierten Hüftgelenke in den von ihrer Osteoporose zerfressenen Knochen nicht mehr hielten.
Sie konnte den Aufnahmeantrag noch selbst unterschreiben, - allerdings weiß ich nicht, ob sie sich darüber im Klaren war, dass dies die letzte Station ihres Lebens war.
Im Hospiz selbst hat sie noch Freundschaften geschlossen. Allerdings hat sie darunter gelitten, dass eine Freundin nach der anderen wegstarb.
Sie hatte eine Zeit des Hochgefühls, weil sie seit Jahrzehnten das erste Mal ohne Schmerzen leben konnte.
In diesem Hochgefühl hat sie sich sogar vom Friseur ihre Haare kurz schneiden lassen: nie hatte sie ihre Haare, die ihr als Jugendliche bis zu den Hüften gingen, abschneiden lassen. Sie trug sie immer hochgesteckt, auch wenn sie mit der Zeit dünner wurden.
"Glaubst Du wirklich, dass die Dinge, die geschehen sollen, im richtigen Moment von allein geschehen?" Dieser Satz steht auf dem Cover des Buches von Michela Murgia.
Ich schließe die Frage an: "Wir brauchen Hilfe im Leben. Brauchen wir nicht auch Hilfe im Sterben?"
Brigitte
HildegardN
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Re: Michela Murgia: Accabadora

Beitrag von HildegardN »

Liebe Brigitte,
natürlich würde ich es begrüßen, Hilfe beim Sterben zu erhalten, wenn denn eine solche Hilfe erreichbar oder verfügbar und ohne Schwierigkeiten für die Hilfeleistenden durchführbar wäre. Inwieweit sind wohl die Hospize hier engagiert?
Ich habe "Accabadora" noch nicht gelesen, freue mich jedoch schon auf die so positiv beurteilte Lektüre und habe vor, noch vor unserem Treffen einige Stunden hiermit zuzubringen.
Gruß aus Bad Homburg, Hildegard
Erna
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Re: Michela Murgia: Accabadora

Beitrag von Erna »

Die Hälfte des Buches habe ich bereits gelesen. Es ist ein ungemein spannendes Buch und erzeugt trotz seiner kargen Sprache eine dichte Atmosphäre. Es führt in die Gebräuche und Gesetze der sardischen Dorfbevölkerung ein, ich meine immer dieses Dorf und vor allem die einzelenen Personen direkt vor mir zu sehen.
Erna
Marlis Beutel
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Re: Michela Murgia: Accabadora

Beitrag von Marlis Beutel »

Liebe Lesefreundinnen,

während ich "Liebe" zweimal lesen musste um die Personen der Handlung richtig einzuordnen, erscheint mir unser neues Buch einfacher. Man kann immer weiter lesen, wie Brigitte das ja auch getan hat.
Aber ich habe auch die Anregung ernst genommen, ein anderes Buch vorzustellen. Es ist das
erste, das Toni Morrison geschrieben hat und heißt: "Sehr blaue Augen". Die einzelnen Kapitel lesen sich wie spannende Kurzgeschichten. Der Roman ist erschütternd, aber ohne jede Sentimentalität. Ein farbiges Kind vermisst Liebe und Fürsorge in seinem Leben und denkt, wenn es blaue Augen hätte und nicht hässlich wäre, dann würde es geliebt wie die blauäugigen Puppen und die blonden Kinder. Die Lebensgeschichten der Eltern machen dem Leser klar, warum dieser so verständliche Wunsch nicht erfüllt werden kann. Das Buch ist aber - wie gesagt - ebenso anrührend wie spannend, gelegentlich auch amüsant, wenn
verschiedene Kinder und ihre Sicht des Erwachsenenlebens zu Wort kommen. Ich finde die Komposition dieses Buches sehr schön. Es beginnt und endet mit den Kindern, dazwischen liegen die Kapitel über die Erwachsenen, die ja ebenfalls zuerst Kinder waren.

Herzliche Grüße von der Bergstraße, Marlis
Marlis Beutel
Erna
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Re: Michela Murgia: Accabadora

Beitrag von Erna »

Liebe Marlis,
ich hatte mir vorgenommen Teerbaby oder Jazz zu lesen. Bisher habe ich es aber noch nicht geschafft.
Danke für Deinen Beitrag, ich lese ihn am Freitag vor.
Liebe Grüße
Erna
HildegardN
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Re: Michela Murgia: Accabadora

Beitrag von HildegardN »

Nun habe auch ich das Buch, sozusagen "in einem Zug" bis zum Ende gelesen - und ich bin beeindruckt. Die Sterbehelferin hat mich sehr nachdenklich gemacht. Ich sehe sie als eine Frau, die voll im Leben steht, sehr tüchtig und verständnisvoll und voller Liebe ist. Besonders kommt dies in ihrer Begegnung mit ihrem Adoptivkind zum Ausdruck.
Wie wird eine solche Frau mit ihrer Mission, Sterbehilfe zu leisten, fertig? Es liegt soviel Verantwortung darin, der die Accabadora sich m.E. bei ihren Handlungen durchaus bewusst ist, aber kann sie in jedem Falle ganz sicher sein, dass der Kranke, der Sterbenskranke auch noch am Ende zu seiner Entscheidung steht?
Wahrscheinlich muss man psychisch sehr stabil sein, wenn man eine solche Aufgabe übernimmt und auch ausführt, um eventuellen Zweifeln die Stirn bieten zu können.
Herzliche Grüße aus Bad Homburg
Hildegard
Marlis Beutel
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Re: Michela Murgia: Accabadora

Beitrag von Marlis Beutel »

Liebe Lesegruppe,

ganz fertig mit Lesen bin ich noch nicht, aber es reizt mich, an der Diskussion teilzunehmen.
Nach der Definition am Ende des Buches ist die Accabadora eine allegorische Figur, vielleicht ein Wunschbild, das in sardischen Legenden seinen Niederschlag gefunden hat. Im Roman allerdings ist sie eine wirkliche, geheimnisvolle Frau, die ihre heikle Mission souverän ausführt. Allerdings passiert das nachts und erst, nachdem alle christlichen Symbole entfernt sind.
Bei alten Kranken geht das meistens gut, in einem Fall verflucht sie die Familie (woher nimmt sie die Macht dazu?). Bei dem jungen Menschen Nicola ist sie sich ihres Auftrags keineswegs sicher, und ihre Mission wird schließlich hinterfragt, kommt also ans Licht.
Restlos gelungen erscheint mir die Rückblende auf ihre Jugend nicht. Was mich außerdem gestört hat, war, dass Andría sie beobachtet, während die Eltern keine Ahnung zu haben scheinen bzw. den Tod des Sohnes als Schicksalsschlag hinnehmen.
Wir haben bisher nicht über das sardische Dorf gesprochen, in dem bestimmte Regeln gelten, die es anderswo nicht gibt. Niemand hat die Polizei verständigt, weil der Nachbar die Grenze versetzt hat. Nicola muss zwar für seine Selbstjustiz bitter büßen, nicht aber der Schütze, der ja ebenfalls Selbstjustiz geübt hat. Es herrschen hier Zwänge und Vorurteile, machen das Leben eng. Mir fällt dazu ein, dass Nicola nur einmal das Meer gesehen hat, obwohl er auf einer Insel lebte. Maria wirkt dagegen erstaunlich souverän und reif, als sie den Heiratsantrag ablehnt und sich mit ihrer Pflegemutter auseinandersetzt, sie schließlich verlässt.
Das Buch ist spannend, die Gestalt der Accabadora hat uns alle angesprochen. Aber sie ist ein Wunschbild.

Herzliche Grüße von der Bergstraße, Marlis
Marlis Beutel
HildegardN
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Re: Michela Murgia: Accabadora

Beitrag von HildegardN »

Im Mittelpunkt des Romans stehen die Accabadora und ihre Adoptivtochter Maria.
Wie ich in einer Rezension gelesen habe, handelt es sich hier, anders als wir es heute kennen, um eine in Sardinien seit langem praktizierte Form der Adoption, die mit dem Einverständnis der beteiligten Familien - und ganz ohne behördliche Formalitäten - geschieht. Sie beruht allein auf Zuneigung. Eine kinderreiche Familie gibt z.B. eines ihrer Kinder an ein Paar, das keine Kinder hat. Das Kind bleibt aber in engem Kontakt zu seiner ursprünglichen Familie.
Dies erklärt m.E. Marias Verhalten, das mich während des Lesens beeindruckt hat. Maria wächst als (Adoptiv-)Tochter der Accabadora auf, bleibt aber ihrer bisherigen Familie weiter verbunden, und auch ihren Geschwistern, an deren Leben oder Erleben sie teilnimmt als gehörte sie noch dazu.
Maria hilft mit, feiert mit, und der Kontakt bricht auch nicht ab, als sie fortgeht.
Ich habe keine Eifersucht, vor allem auch seitens der Adoptivmutter bemerkt, sondern fast ein gegenseitiges Einvernehmen und Unterstützen der beiden Familien, wie beispielsweise, als Maria die Nachricht erhält, dass sie heimkommen und der Accabadora helfen bzw. Beistand leisten solle.
Sehe ich das zu idealistisch oder kann das eine Tradition, in der die Partner-Familien leben, bewirken?
Mit sonnigen Grüßen aus Bad Homburg, Hildegard
Marlis Beutel
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Re: Michela Murgia: Accabadora

Beitrag von Marlis Beutel »

Liebe Hildegard,

auf S. 46 unten und 47 oben wird allerdings gesagt, dass Bonaria Urrai keineswegs jedes Mal die Tochter zu ihrer Herkunftsfamilie gehen ließ. Sie wusste es auch zu verhindern.
Die leibliche Mutter kommt ziemlich schlecht in diesem Roman weg. Liegt das nur an der Armut?
Hat es vielleicht auch mit ihrer mangelhaften Bildung zu tun?
Die Accabadora bleibt bei den Schilderungen immer etwas geheimnisvoll. Zuletzt allerdings ist sie sehr, sehr lange krank und hilflos und kann erst sterben, nachdem Andría sie besucht hat.
Maria hat sich bei der Pflegemutter zu einer reifen Persönlichkeit entwickelt. Zu Hause war sie ja unerwünscht gewesen und passte auch nicht mehr so ganz zu Mutter und Schwestern.

Herzliche Grüße von der Bergstraße, Marlis
Marlis Beutel
Erna
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Re: Michela Murgia: Accabadora

Beitrag von Erna »

Gerade habe ich Eure beiden Einträge gelesen und eigentlich habt Ihr beide Recht. Ich finde es schon erstaunlich, dass man sein Kind weggibt und auch dass die Bonaria es oft nach Hause gehen lässt. Natürlich gibt es auch hin und wieder Gründe und Einwände warum sie es nicht erlaubt. In der Wirklichkeit wird es noch viel mehr Neid und Eifersucht geben. Die Mutter ist wahrlich nicht die beste und außerdem noch sehr auf das Geld aus. Ich denke, bei so später Adoptionen ist aber ein anderes Vorgehen gar nicht möglich.
Grüße an Euch Beide
Erna
HildegardN
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Re: Michela Murgia: Accabadora

Beitrag von HildegardN »

Liebe Marlis,
Erna gibt uns zwar beiden Recht, aber ich möchte Dir doch an dieser Stelle danken, dass Du meinen Diskussionsbeitrag ergänzt und damit meiner Beurteilung eine gute Portion Realität zugefügt hast. Ich habe zwar die von Dir beschriebenen Fakten zur Kenntnis genommen, doch hat dies meine insgesamt positive Bewertung nicht beeinflusst. Subjektive und realistische Einschätzungen weichen manchmal voneinander ab, und korrekter ist nun einmal Deine Beurteilung, weil sie entscheidende Fakten aufzeigt.

Dennoch - ich meine, dass es auch in einer normalen Familie nicht immer ganz harmonisch zugeht, auch wenn man sich in herzlicher Zuneigung verbunden ist. Und es wundert mich keineswegs, dass Marias Bildungsbestrebungen von ihrer Ursprungsfamilie nicht nachvollzogen werden können, und eine gewisse Eifersucht ist hier auch im Spiel.
Soweit für heute. Ich freue mich über unsere lebhafte Diskussion.
Mit noch sonnigen Grüßen aus Bad Homburg
Hildegard
Marlis Beutel
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Re: Michela Murgia: Accabadora

Beitrag von Marlis Beutel »

Liebe Lesefreundinnen,

bis jetzt hat, glaube ich, niemand erwähnt, dass die Autorin das Buch ihrer Mutter widmet und "allen beiden" hinzufügt. Wir können also annehmen, dass sie selbst in zwei Familien aufgewachsen ist (obwohl es auch andere Möglichkeiten gibt). Dann leuchtet allerdings nicht ein, dass die leibliche Mutter so schlecht wegkommt im Roman.
Mir fällt auf, dass wir bei anderen Romanen viel intensiver dikutiert und öfter die Diskussionen aufgerufen haben. Toni Morrison, von der ich das dritte Buch angefangen habe, schreibt viel dichter. Dort hat man das Gefühl, dass man beim ersten Lesen gar nicht alles mitbekommt.
Aber die sardinische Form der Adoption und die Idee der Accabadora waren interessant genug und haben uns angesprochen. Der Roman las sich auch leicht. Jetzt bin ich gespannt auf Herta Müller.

Herzliche Grüße von der Bergstraße, Marlis
Marlis Beutel
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Carmen Stadelhofer
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Re: Michela Murgia: Accabadora

Beitrag von Carmen Stadelhofer »

Wir haben das Buch in unserem Lesekreis letzte Woche besprochen, alle fühlten sich von dem Buch sehr angesprochen, sowohl vom Schreibstil wie vom Inhalt, der uns in verschiedenster Hinsicht zu sehr aktuellen Fragestellungen führte. Lange haben wir über die Rolle der Accabadora damals und Sterbehilfe und ethische Implikationen heute diskutiert, aber auch über das Thema "zwei Mütter" und die Bedeutung/ Chance von Wahlverwandtschaft heute, bei uns, in anderen Ländern. Wir beschäftigten uns auch mit der Frage, iob es früher in Deutschland in abgelegenen Gegenden ähnliche Bräuche gab.

Bei you toube gibt es übrigens ein paar interessante Videofilme-
z.B. Interview mit der Autorin (in Italienisch)
https://il.youtube.com/watch?v=ip_IIbuY ... re=related

und über den Brauch der S'Accabadora
https://il.youtube.com/watch?v=IUHRR8at ... re=related

Carmen
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