Melinda Nadj Abonji: Tauben fliegen auf

Hier werden alle Bücher einsortiert, deren Diskussion beendet ist.
Brigitte Höfer
Beiträge: 440
Registriert: Donnerstag 9. Februar 2006, 17:51
Wohnort: 61440

Re: Melinda Nadj Abonji: Tauben fliegen auf

Beitrag von Brigitte Höfer »

Mich wundert, dass in den bisherigen Beiträgen die Jugoslawienkriege nicht erwähnt werden, obwohl doch der Krieg sozusagen die Hintergrundmusik von Melinda Nadj Abonjis Roman ist. Denn wenn irgendwo ein Schuss zu hören ist, flattern die Tauben auf... Zum Vergleich S. 145: "...ich, eine aufgeregt flatternde Taube, von menschlichen Schritten aufgescheucht."
Mich hat die Sicht der Autorin beeindruckt: Sie hat eine unglaublich genaue Beobachtungsgabe und beobachtet gleichzeitig auf mehreren Ebenen, nichts entgeht ihr. Aber wie das so ist mit dem Beobachterposten: Er führt dazu, dass man eine Fremde wird, im eigenen oder im fremden Land, das ist gleich: Siehe Elfriede Jelinek, die in ihrer eigenen Gesellschaft nicht heimisch wird. Insofern führt meines Erachtens die Diskussion um Integration, die hier geführt wird, am Thema des Buches vorbei.
Sehr nah geht mir die Perspektive der Unterlegenen, sogar einer doppelt Untergebenen: Unter der Fürsorge der Eltern wagt Ildikó keine Selbstverwirklichung, und unter den aufmerksamen Augen der schweizerischen Gesellschaft, die ihr ständig ein Etikett anhängen will, wagt sie keine Rebellion.
Für mich ein Buch, wie es nur eine Frau schreiben kann, und gleichzeitig ein Buch, in dem aufscheint, wie Kriegstraumata auch die Menschen erreichen, die selbst keine unmittelbaren Kriegserlebnisse haben.
Im übrigen finde ich, ist es eine Lektüre, die sehr viel mit unserem letzten Buch von Llosa 'Das Fest des Ziegenbocks' zu tun hat, denn Miklós flieht vor dem Diktator Tito und seinen Willkürakten.
Wer einen Blick auf das Geschehen in Sarajewo werfen mag, kann sich das hier ansehen: <http://www.youtube.com/watch?v=Zz8h3r3- ... re=related>.
Für heute liebe Grüße, Brigitte
Annemarie Werning
Beiträge: 126
Registriert: Sonntag 16. September 2007, 17:28
Wohnort: 61449 Steinbach

Re: Melinda Nadj Abonji: Tauben fliegen auf

Beitrag von Annemarie Werning »

Jetzt habe ich das Buch auch zu Ende gelesen. Das Buch schildert das Leben der heranwachsenden Protagonistin in zwei Ebenen. Zum einen geht es um ihre Beziehungen innerhalb der Großfamilie und zu den Eltern. Mich hat der Satz berührt, daß sie als Kind niemand gefragt hat, ob sie Serbien verlassen und zu den Eltern in die Schweiz ziehen wollte. Die Eltern haben das einfach bestimmt. Zu den Eltern bestand immer eine emotionale Distanz, die sie darauf zurückgeführt hat, daß sie in der frühen Kindheit nicht bei den Eltern, sondern bei der Großmutter aufgewachsen ist. Sie hat sich zwar in das Leben bei den Eltern eingefügt, bis sie sich schließlich vom Elternhaus gelöst hat und ausgezogen ist.
Zum anderen geht es um ihr Verhältnis zu den Schweizern. Trotz eines Freundeskreises hat sie sich vor ihrem Auszug nicht ganz zugehörig gefühlt. Das zeigt ihre Empfindlichkeit, wenn Gäste von Jugoslawien gesprochen haben. Die Toilettengeschichte hat sie zum einen als ausländerfeindlichen Akt verstanden, zum anderen hat es sie getroffen, daß es einer der "honorigen" Gäste gewesen sein mußte, der sich von ihnen hat bedienen lassen. Daß sie nicht weiter bedienen wollte, ist gut verständlich. Ich habe das Buch eher als Entwicklungsgeschichte einer jungen Frau verstanden.
Annemarie
Brigitte Höfer
Beiträge: 440
Registriert: Donnerstag 9. Februar 2006, 17:51
Wohnort: 61440

Re: Melinda Nadj Abonji: Tauben fliegen auf

Beitrag von Brigitte Höfer »

Annelie Bonn bat mich, ihren Beitrag ins Forum zu schreiben:
"Zu Beginn fand ich nur schwer in das Buch hinein. Ich dachte, das interessiert mich nicht. Vom zweiten Kapitel an kam die Geschichte in Fahrt.
Die Autorin macht immer wieder Schnitte- wie in einem Film. Sie behandelt sehr verschiedene Themen.
Es geht um das Leben von Emigranten in der Schweiz, die langen Wege und Hürden bis zur Erlangung der Schweizer Staatsbürgerschaft. Sie gibt Einblicke in das Leben in der alten Heimat, der Vojvodina, für die ungarische Minderheit dort, der sie angehört. Es geht auch um die Emanzipation der beiden Töchter, der Autorin selbst und ihrer jüngeren Schwester, die sich in der Schweiz anders vollzieht als in der Vojvodina. Trotz übergroßer Angepasstheit begegnet die Familie auch dem Fremdenhass. Nicht zuletzt spielt der Krieg in Bosnien eine Rolle.
Das Buch hat für mich einen versöhnlichen Schluss, obwohl die Erzählerin bei den Eltern ausgezogen ist und diese sich schwer damit abfinden können, besonders dem Vater fällt das schwer."
Gesperrt