Philip Roth: Nemesis

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Erna
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Philip Roth: Nemesis

Beitrag von Erna »

Vor ungefähr einem Jahr haben wir schon einmal ein Buch von Ph. Roth gelesen: Der menschliche Makel. Es hat uns, trotz seiner immensen Seitenzahl, sehr gut gefallen, so dass wir neuerlich zu einem Buch des Autors greifen.
In den verschiedenen Rezensionen, sei es in der Süddeutschen, der Allgemeinen oder welchem Printmedium auch immer, wird dieses Buch sehr gelobt. Ich nehme an, dass uns daher ein außergewöhnliches Lesevergnügen bevor steht.
Erna
Annemarie Werning
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Re: Philip Roth: Nemesis

Beitrag von Annemarie Werning »

Ich habe das Buch heute zu Ende gelesen. Es hat mich sehr beeindruckt. Das Thema im ersten Teil ist, was ist das für ein Gott, der Kinder sterben oder durch die Polio zu Krüppeln werden läßt.
Es kann kein liebender Gott sein. Es ist "die Vereinigung eines perversen Arschlochs mit einem bösartigen Genie" S. 207.

Der zweite Teil zeigt einen Menschen, der nicht Gott, sondern sich selbst für das anderen geschehene Unglück verantwortlich macht.

Warum Roth den Titel Nemesis gewählt hat, ist mir nicht klar. Denn Nemesis versinnbildlicht eine Rachegöttin oder rächende Gerechtigkeit. Die Hauptfigur sieht ihr Unglück aber doch nicht als Strafe an.
Euch allen liebe Grüße
Annemarie
Erna
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Re: Philip Roth: Nemesis

Beitrag von Erna »

Könnte es sein, dass Roth diesen Titel gewählt hat, weil der Protagonist sich durch seine Kurzsichtigkeit und der damit verbundenen Unfähigkeit den Militärdienst zu absolvieren, also Kriegsdienst zu leisten, ständig "schuldig" fühlt? Es war ihm ja auch peinlich, als 23jähriger im Zivilanzug durch die Straßen läufen zu müssen. So wird es am Anfang des Buches erzählt. Ebenso wird auch gesagt, dass er die Aufsicht über die Ferienaktivitäten aus diesem Schuldgefühl heraus übernommen hätte. Rächt sich also das Schicksal ?
Ich bin erst am Anfang. Schöne Grüße
Erna
Marlis Beutel
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Re: Philip Roth: Nemesis

Beitrag von Marlis Beutel »

Liebe Mitleserinnen,

das Buch liest sich sehr einleuchtend, und sein Thema ist keineswegs abwegig. Wir wissen nicht, ob irgendwann wieder solche gefährlichen Krankheiten auftreten können, denn wir gehen keineswegs sorgfältig mit Antibiotika um. Die Klimaerwärmung kann Krankheiten begünstigen, die uns bisher unbekannt waren. Und ein Kind zu verlieren, ist wahrscheinlich das schlimmste, das einem erwachsenen Menschen passieren kann.
Ich habe mich immer wieder gefragt, weshalb von Mr. Cantor die Rede war. Seine Freundin heißt z.B. Marcia und nicht Miss Steinberg. Erst auf S. 88 erscheint der fiktive Erzähler, Arnie Mesnikoff. Er muss einer von Cantors Schülern sein. Weiter bin ich noch nicht, aber dieses Mr. deutet sicher auch auf bestimmte Eigenschaften hin, die Roth seinem Geschöpf mitgegeben hat. Cantor ist ungemein korrekt und nimmt seine Aufgaben sehr ernst.
Sehr schön fand ich das Gesprach zwischen Dr. Steinberg, dem erfahrenen Arzt, und dem so jungen und noch völlig unerfahrenen Bucky Cantor. Auch Steinberg ist von Buckys Ernst und seiner Zuverlässigkeit überzeugt und hat nichts gegen eine Verlobung seiner Tochter mit diesem bis jetzt mittellosen Lehrer.

Viele Grüße von der Bergstraße, Marlis Beutel
Marlis Beutel
HildegardN
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Re: Philip Roth: Nemesis

Beitrag von HildegardN »

Ich habe das Buch bereits zuende gelesen und es hat mich nachhaltig beeindruckt. Da tritt ein junger Mann ins Leben, der, vom Autor fast idealistisch geschildert, mit bedeutenden Vorzügen und Charaktereigenschaften ausgestattet ist, wenn auch seine Sehschwäche ihn stark belastet, weil er nicht wie seine Freunde in den Krieg ziehen kann.
Im ersten Teil des Buches habe ich mich an dem engagierten Einsatz des jungen Sportlehrers erfreut, der nicht nur Kraft und Geschicklichkeit verkörpert, Verantwortungsbewusstsein zeigt, sondern auch entsprechend handelt.
Es hätte in vielerlei Hinsicht ein Traumsommer für Bucky Cantor sein können, habe ich in einer Besprechung gelesen, und wir als Leser hätten daran teilnehmen, diesen miterleben können. Doch die sich ausbreitende Polioerkrankung änderte alles, vor allem das Leben des aufstrebenden Sportlehrers. Und da ist die Sinnfrage, die bald auch das Verhältnis der beiden Verlobten belastet, und die Anschuldigungen, die sich an den Lehrer als Betreuer der erkrankten Kinder richten. Sie lösen seine Flucht in das Feriencamp aus, beseitigen aber keineswegs die Selbstzweifel des jungen Mannes, die durch die kommenden Ereignisse noch verschärft werden. -
Wenn ich meinen Bericht hier abbreche, dann geschieht dies mit Rücksicht auf die z.Zt. noch aktiv Lesenden, denen ich nicht vorgreifen möchte. Der Schluss des Buches, der mich überrascht hat, beschäftigt mich noch heute, und ich komme später darauf zurück.
Mit späten Sonntagsgrüßen aus Bad Homburg
Hildegard
Marlis Beutel
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Re: Philip Roth: Nemesis

Beitrag von Marlis Beutel »

Warum haben wir dieses Buch gelesen, warum hat es der Autor geschrieben?
Der Protagonist erscheint starr, unbeugsam, stolz, unfähig zu Phantasie und geistigen Höhenflügen, aber auch stark und konsequent.
Mir fällt zu diesem Roman ein Goethegedicht aus der Schulzeit ein, "Lied des Harfensängers", wenn ich mich richtig entsinne:

"Wer nie sein Brot mit Tränen aß,
wer nie die kummervollen Nächte
auf seinem Bette weinend saß,
der kennt euch nicht, ihr himmlischen Mächte.

Ihr führt ins Leben uns hinein,
ihr lasst den Armen schuldig werden,
dann überlasst ihr ihn der Pein,
denn alle Schuld rächt sich auf Erden."

Bei Goethe allerdings werden die "himmlischen Mächte" nicht hinterfragt, sie werden als enorm starke Kräfte wahrgenommen.

Viele Grüße, Marlis
Marlis Beutel
HildegardN
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Re: Philip Roth: Nemesis

Beitrag von HildegardN »

Liebe Marlis,
unabhängig von Deinen Ausführungen kam mir das folgende Zitat aus dem Faust in den Sinn: "Wer immer strebend sich bemüht, den werden wir erlösen". Ich sehe den Sportlehrer Bucky Cantor als einen sehr strebsamen, hilfsbereiten jungen Mann, der mit allen seinen Kräften seine Aufgaben erfüllen, aber sich auch für seine Mitmenschen einsetzen will, z.B. für seine Schüler und die Großmutter. Vielleicht hat er och keine Gelegnheit und auch kaum Zeit gefunden, geistige Interessen wahrzunehmen oder zu entwickeln. Und er ist ja noch so jung.
Hätte der Autor ihm nicht ein gutes, erfolgreiches Leben gestatten können, habe ich mich gefragt, nachdem ich das Buch zuende gelesen hatte? Schließlich hatte er sich bereits in einigen Situationen bewährt, und man häte danach eigentlich viel Positives erwarten können. Allerdings wiesen bereits seine aufkommenden Zweifel an Gott auf eine Wende hin. Cantors Zweifel an sich selbst, seine Selbstbezichtigungen, die belastenden Schuldgefühle, veränderten seine Position in Philip Roth`s Roman, aber auch in den Gedanken der Leser. Mit etwas Bangen erwartete ich den Schluss und war überrascht, ja auch sehr enttäuscht als dieser sich als Tragödie darstellte.
Weshalb, so frage ich mich, musste es dazu kommen? Hätte der Autor nicht eine andere, weniger grausame Lösung finden können? Sicher wäre das nicht schwer für ihn gewesen, aber ganz gewiss weniger eindrucksvoll für die Leser dieses Romans, der mich nicht nur beeindruckte, sondern gedanklich auch nachhaltig beschäftigt.
Mit herzlichen Wochenendgrüßen aus Bad Homburg
Hildegard
Marlis Beutel
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Re: Philip Roth: Nemesis

Beitrag von Marlis Beutel »

Liebe Hildegard,

ein anderer Autor als Philip Roth hätte vielleicht eine harmlose Geschichte erzählt (die wir allerdings kaum gelesen hätten). Diese Geschichte ist schon sehr deprimierend. Vermutlich fühlen wir uns alle nicht wohl, wenn Gott in einer solchen Weise dargestellt wird, zu dem wir von Kind auf Vertrauen haben sollten und wollten.
Bucky Cantor wächst mit erheblichen Belastungen auf. Ich denke an seine Eltern und die Großeltern, denen er wahrscheinlich zu früh Stütze sein muss. Er wächst auch in einem sehr eingeschränkten Umfeld auf mit geringen geistigen Ressourcen. Wie soll er mit einer so fürchterlichen Belastung wie Polio anders umgehen können? Er schafft es immerhin, ein freudloses Leben zu fristen. Offensichtlich ist er stark. Aber jeder Leser legt das Buch betroffen zur Seite, wenn er damit fertig ist. Ein zweites Mal möchte man sich nicht damit auseinandersetzen.

Viele Grüße, Marlis
Marlis Beutel
Marlis Beutel
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Re: Philip Roth: Nemesis

Beitrag von Marlis Beutel »

Liebe Hildegard,

inzwischen fiel mir ein, dass Dein Faustzitat nicht ganz richtig ist. Es muss heißen: "...den können wir erlösen." Goethe lässt also auch hier eine andere Möglichkeit offen.

Herzliche Grüße von der Bergstraße, Marlis
Marlis Beutel
Erna
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Re: Philip Roth: Nemesis

Beitrag von Erna »

Hallo, Ihr beiden fleißigen Diskutiererinnen, ich hatte die Handwerker und kam nicht zum Schreiben.
Der Ausgang des Buches, also dass Bucky sich schuldig an dem Ausbruch der Krankheit im Camp fühlt, kann ich gut verstehen. Wahrscheinlich hätte ich genau so gedacht. Denn wenn man aus einer verseuchten Gegend kommt, kann man leicht der Überträger werden. Heute würde man ihn gar nicht reisen lassen. Was ich nicht vermutet habe, ist, dass er jegliche Zuwendung zurückweist. Da frage ich mich, warum hat es P. Roth es so enden lassen? Eher hätte ich vermutet, dass Marcia sich abwendet. Die Arztfamilie ist derart ideal dargestellt, dass ich diese Haltung erwartet habe. Gut finde ich das Treffen zwischen Bucky und dem Jungen aus dem Camp, der trotz seine Behinderung glücklich wurde. Es macht Mut.
Erna
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