Heimat – was ist das?

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helmutf-berlin
Beiträge: 799
Registriert: Mittwoch 28. Juli 2010, 13:24

Habe ich eine Heimat?

Beitrag von helmutf-berlin »

Liebe Freundinnen, liebe Freunde.
Wenn ich Heimat unbedingt definieren soll, kann ich nur sagen, dort wo mein derzeitiger Lebensmittelpunkt ist. Die ersten elf Jahre meines Lebens habe ich bedingt durch die Kriegs- und Nachkriegszeit, an vier verschiedenen Orten zugebracht. Etwa 45 Jahre später wollte meine Mutter zwei dieser Orte noch einmal besuchen und bat mich mit ihr dorthin zu reisen. Es handelt sich um zwei kleine Dörfer, die jeweils per Auto in einem Tag hin und zurück bequem zu besuchen sind. Für meine Mutter war es ein schönes Ereignis; für mich eine Enttäuschung, denn ich hatte diese Orte aus meinen Kindertagen ganz anders in Erinnerung. Für mich bestand zu diesen Orten keine Verbindung mehr, obwohl ich mich damals sehr wohl dort Gefühlt habe. Von 1947 – 1958 lebte ich in Kassel. 1961 ging dann die Reise, jetzt mit Familie, weiter. In den nächsten elf Jahren sind wir dann berufsbedingt, wieder viermal umgezogen, und zwar durch die halbe Bundesrepublik. Danach wurden wir dann über 30 Jahre sesshaft in Verden/Aller. Tja und nun leben wir, auf unsere alten Tage, seit vier Jahren in Berlin, was uns ausnehmend gut gefällt. Auch hier bin ich nun wieder zu Hause. Heimat aber wo ist meine Heimat. Irgendwie habe ich zu dem Begriff Heimat keine richtige Beziehung und komme ganz gut ohne aus, ohne heimatlos zu sein.
Helmut.
ekoch
Beiträge: 2
Registriert: Donnerstag 19. Mai 2011, 00:29

Re: Heimat – was ist das?

Beitrag von ekoch »

Liebe Marlies,

es ist eigenartig, es ist eine große Sehnsucht, dorthin zu gehen, wo ich geboren bin, trotz der schlimmen Erinnerungen, welche mich mit diesem Ort verbinden. Die überstürzte Flucht, die Familie auseinandergerissen, die Verwandtschaft in alle Winde zerstreut, die Freunde weg, dies wird in den Hintergrund gedrängt. Die schönen Erinnerungen überwiegen. Es war sicherlich nicht immer alles nur schön und gut, doch in meiner Erinnerung habe ich das Negative weitgehend ausgeblendet. Geblieben sind die schönen Erinnerungen, die Geborgenheit in der Familie, dem Elternhaus, das Eingebettet sein in den großen Kreis der Verwandten, die Dorfgemeinschaft, die Sprache, angenommen sein, einfach das Dazugehören, das bedeutet für mich Heimat.
Das Wort “Heimat‘“ wird heutzutage selten ausgesprochen. Wenn ich nach Ungarn fahre, dann fahre ich „heim“. Ich würde nie sagen: Ich fahre in meine Heimat. Und wenn ich von Ungarn wieder zurück fahre, dann fahre ich ebenfalls „heim“.

Ob ich freiwillig den Ort meiner Kindheit verlasse, oder vertrieben wurde oder flüchten musste, ist in den Heimatgefühlen sicherlich ein großer Unterschied. Meine Mutter hatte, solange sie lebte, immer großes Heimweh. Sie hat schwer darunter gelitten, vor allem auch, da sie bei unserer Flucht eine Tochter in Ungarn zurücklassen musste und sie erst nach 18 Jahren wieder besuchen konnte. Es verging kaum ein Tag, an dem meine Mutter nicht von „daheim“ gesprochen hat. Wenn damals die Möglichkeit bestanden hätte, nach Mariakemend zurück zu kehren, hätte sie es, trotz wesentlich schlechterer Lebensbedingungen, sofort getan.

Mich bereichern die beinahe jährlichen Reisen nach Mariakemend sehr. Für immer zurückkehren könnte und möchte ich jetzt jedoch nicht mehr, denn auch die Sprache bedeutet „Heimat“ und die beherrsche ich leider nicht. Im ganzen Ort wurde in meiner Kinderzeit nur deutsch gesprochen. Auch in der Schule wurde nur deutsch gelehrt, erst in den höheren Klassen stand ungarisch als Fremdsprache auf dem Stundenplan.

Heute ist es immer noch möglich, in Mariakemend Menschen zu treffen, die deutsch sprechen. Ob dies in zehn oder zwanzig Jahren noch so ist, das wage ich zu bezweifeln, denn selbst in den wenigen deutschstämmigen Familien ist die Umgangssprache ungarisch.

Ich hoffe, ich konnte meine Gefühle und meine Verbundenheit zu meinem Geburtsort Mariakemend in die richtigen Worte fassen

und schick dir liebe Grüße
Elsa
Marlis Beutel
Beiträge: 364
Registriert: Mittwoch 5. April 2006, 18:54
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Re: Heimat – was ist das?

Beitrag von Marlis Beutel »

Liebe Elsa,

was Du schreibst, kann ich gut nachvollziehen, und die schlimmen Erinnerungen gehören eigentlich gar nicht zur Heimat, sondern kamen sozusagen von außen, durch den Krieg, der so viel Hass erzeugte.
Was Du von Deinem Heimatort schreibst (Verwandte, deutsche Sprache), bekam ich von der Heimat meines Mannes (Tschechien) genauso mit. Die jungen Menschen konnten sich relativ bald hier einleben, aber der älteren Generation gelang es womöglich nie. Eine Vertreibung aus der Heimat muss sehr schlimm sein, hinzu kommt, dass die Vertriebenen nicht unbedingt freudig im Gastland aufgenommen werden.
Leider gibt es diese schlimmen Probleme noch immer.

Herzliche Grüße von der Bergstraße,
Marlis
Marlis Beutel
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helmutf-berlin
Beiträge: 799
Registriert: Mittwoch 28. Juli 2010, 13:24

Re: Heimat – was ist das?

Beitrag von helmutf-berlin »

Liebe Marlis.
Eine problembeladene Kindheit ist doch wahrscheinlich in erster Linie familiär bedingt. Allerdings sind Probleme auch immer ortsgebunden. Orte in denen man schlechte Erfahrungen gemacht hat besucht man im Allgemeinen nicht gern, es sei denn, der Ort selbst ist auch mit angenehmen Erinnerungen verbunden, die die weniger schönen Dinge verblassen lassen.
Helmut.
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helmutf-berlin
Beiträge: 799
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Re: Heimat – was ist das?

Beitrag von helmutf-berlin »

Gibt es eine geistige Heimat.
Welche geistige Heimat jemand hat, ist daraus zu ersehen, wes Geistes Kind er ist. Und wes Geistes Kind er ist, kann wiederum daraus ersehen werden, wie er denkt, redet und handelt. Denn die geistige Herkunft eines Menschen weist sich in seinem Denken, Reden und Handeln aus. (Verfasser?)

Wahlheimat
- Die Gegend oder Stadt, in der jemand freiwillig lebt.
- Land, Ort, in dem sich jemand niedergelassen hat und sich zu Hause fühlt, ohne dort geboren oder aufgewachsen zu sein.
- Ein Platz/Ort, den ich mir selbst und freiwillig aussuche, um dort zu leben, zu arbeiten.

Die zweite Heimat
Ein fremdes Land, eine fremde Gegend, ein fremder Ort, wo man sich nach einiger Zeit sehr wohl fühlt.

Die Definitionen sind sicherlich hilfreich, müssen aber nicht unbedingt den Empfindungen und Einsichten des Einzelnen entsprechen.
Kann die Bedeutung dieser Begriffe noch erweitert werden?

Wahlheimat, zweite Heimat, welcher Begriff zeigt die Verbundenheit zur „neuen“ Heimat deutlicher an.
Helmut.
bheinze
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Re: Heimat – was ist das?

Beitrag von bheinze »

Das Thema "Heimat" ist offensichtlich politisch-gesellschaftlich "in": Am Sonntag, den 23.03.2014, findet in Ulm, im Haus der Begegnung ein "Frauensonntag" statt, organisiert von den "Evangelischen Frauen in Württemberg", mit einem - kirchlich orientierten- Thema: "Wie viel Heimat braucht der Mensch?" (http://www.frauen-efw.de). Der Flyer der Veranstaltung informiert über geplante workshops, die den Verlust der Heimat aus unterschiedlichen Blickwinkeln behandeln, mit den folgenden Titeln: WS1-Herausforderung Mobilität (berufsbedingte Ortswechsel, wie verändern sie uns, welchen Preis zahlen wir), WS2-Willkommenskultur (Flüchtlingsaufnahme, -Lebenssituation, Asylsuchende), WS3-Auf den Spuren von Heimatlosen (historische Frauen in Stein,Holz oder Glas, dargestellt im Ulmer-Münster, die ihre Heimat verlassen haben), WS4-Traumatische Erlebnisse, Entwurzelung (Psychotherapie, Psychotraumata), WS5-Heimatlose Seele (wie ist die eigene Biographie, wie geht das "nach hause" kommen).
Die Heimat oder das Gefühl, eine Heimat zu haben, das sind elementare Elemente der Lebensqualität - so stellt es sich hier da! Und so sehe ich es auch.
Marlis Beutel
Beiträge: 364
Registriert: Mittwoch 5. April 2006, 18:54
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Re: Heimat – was ist das?

Beitrag von Marlis Beutel »

Liebe Internet-Freunde,

heute steht auch in unserer Tageszeitung ein Interview mit der Psychologin Beate Mitzscherlich zum Thema Heimat. Sie schrieb das Buch "Heimat ist etwas, was ich mache". Ich zitiere einen Abschnitt: "Was man als Heimat empfindet, ist grundsätzlich erst einmal durch die Kindheit definiert. Die Umgebung, in der ich aufwachse, die Menschen, Dialekte und Landschaften prägen mein Bild von Heimat. Und das ist meistens positiv, wenn diese Grundsituation als Kind eine geborgene ist. Wenn ich früh die Erfahrung mache, nicht gewollt zu sein, erlebe ich die Umgebung trotzdem als vertraut, aber eben nicht als sicher. Dann wird die Heimatkonstruktion eher im Kontrast dazu entwickelt. Die Heimat wird dann etwas, das anders ist als das, woher ich komme." (Starkenburger Echo 18. März)

Viele Grüße von der Bergstraße,
Marlis
Marlis Beutel
Erna
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Registriert: Freitag 1. April 2005, 10:47

Re: Heimat – was ist das?

Beitrag von Erna »

Meine Meinung ist, dass man sich der Heimat auch öffnen muss, wenn man ein zunächst fremdes Land zur Heimat machen will. Wenn ich nur in Strukturen denke und handle, die dem Land und der Zeit entsprechen in der ich die Heimat, in die ich hineingeboren wurde, habe ich im Laufe der Zeit keine Heimat mehr. Das Land, das man verlassen hat, hat sich auch gewandelt und ist nicht in der Zeit stehen geblieben, in der es beim Verlassen war. Am Ende habe ich keine Heimat mehr. Vielleicht muss ich mich überhaupt um Heimat bemühen?
Erna
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