Heimat – was ist das?

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helmutf-berlin
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Heimat – was ist das?

Beitrag von helmutf-berlin »

Heimat - was ist das?
Heimat allgemein betrachtet, ist sicherlich für die meisten Menschen der Geburtsort dort, die Region in der er aufgewachsen ist. Wo Eltern, Freunde und Bekannte leben bzw. lebten und wohin man gerne wieder zurückkehrt. Von hier stammen erste soziale und kulturelle Prägungen. Zu einem solchen Ort besteht zumeist auch eine enge emotionale Bindung. Viele Menschen werden wahrscheinlich die meiste Zeit ihres Daseins in einem bestimmten Radius um den Geburts-/Heimatort ihr Leben verbringen.
Erst in der Folge zweier Weltkriege hat sich diese Situation wesentlich verändert. Vertreibung und Evakuierung zwangen viele Menschen sich einen anderen Wohnort, eine neue Heimat zu suchen.
In den letzten Jahrzehnten ist ein neues Phänomen hinzugekommen; im Beruf wird eine immer grössere Flexibilität erwartet, und dies ist in den meisten Fällen mit einem Ortswechsel verbunden. Hat sich dadurch das Verhältnis zur „Heimat“ verändert?
Zieht die Heimat bei einem Ortswechsel mit um?

Um eine Diskussion hier im Forum in Gang zu bringen einige Fragen zum Thema
Heimat – was ist das?
Ist Heimat dort, wo wir geboren sind, oder ist es unser derzeitiger Lebensmittelpunkt, wo wir mit unserer Familie leben?
Benutzen wir den Begriff Heimat im Ausland anders als im Geburtsland/im Inland?
Ist Heimat ein Ort oder das Land/Staat, in dem ich lebe?
Heimat, Zuhause, Vaterland wo liegt der Unterschied?
Ist der Begriff Heimat auch einem Bedeutungswandel unterworfen?
Wurde „Heimat“ vor 100 oder 150 Jahren anders benutzt als heute?
Kann man Heimat rein rational betrachten oder schwingen immer Gefühle mit?

Erhält das Wort Heimat einen Zusatz, ändert sich die Bedeutung. Einige Beispiele:
geistige Heimat
Heimatgefühle
Heimweh
Wahlheimat
zweite Heimat
politische Heimat
heimatlos
Recht auf Heimat.

Ist der Eindruck falsch, dass das Wort, der Begriff „Heimat“ heute weniger benutzt, gebraucht wird als vor 10 oder 20 Jahren? Heute fährt man, zumeist jedenfalls, nicht mehr zurück in die Heimat, man fährt nach Hause.
Fahre ich, wenn ich im Ausland war, wieder zurück in meine Heimat oder zurück nach Deutschland?
Gibt es eventuell eine gewisse Scheu das Wort Heimat zu benutzen?
Wird es von den Generationen unterschiedlich benutzt?
Spielt die Region, das Bundesland für den Gebrauch des Wortes Heimat eine Rolle?
Die Verbundenheit mit der Heimat und somit die Deutung des Begriff Heimat ist im ländlichen Raum wahrscheinlich anders als in einer Großstadt.
Brigitte Höfer
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Re: Heimat – was ist das?

Beitrag von Brigitte Höfer »

Lieber Helmut,
du packst ein heißes Eisen an. Ich glaube, dieses Thema ist nie ausdiskutiert, z. B. wem gehört die Heimat?
Anstelle einer persönlichen Antwort möchte ich hier einen kleinen Aufsatz von Elfriede Jelinek einstellen, der auch auf ihrer homepage http://www.elfriedejelinek.com auf der ersten Seite unter "Vermischtes" (weit herunterscrollen!) als 10. Aufsatz zu finden ist. Er heißt:

"Fahrt nach Anina

Ich bin mit meiner Mutter, deren Mutter (also meine Großmutter mütterlicherseits) aus Steierdorf stammt (später ungarisch: Stajerlak, dann, rumänisch: Anina, Jud Caras Severin), in diese Gegend gefahren, mit dem Auto sogar (ich fahre längst nicht mehr Auto), sie, meine Mutter, wollte gern das Dorf ihrer Kindheit wiedersehen. Ihre Mutter war eins der Kinder eines Schmieds und Dorfschulzen (in der Monarchie war die Gegend ja ein ziemlich bekannter Luftkurort, dann hat Ceauşescu das ganze Gebirge umwühlen und zu einem Stahlkombinat umbauen lassen und alles zerstört). Als wir dorthin gefahren sind, es muß 1970 oder 71 gewesen sein, haben von der Familie noch zwei Cousinen gelebt, ihre Männer auch, einer war Rumäne (und ein Jugendfreund Ceauşescus, er war dessen Vorgesetzter bei der Bahn), der andre auch Deutscher. Die Familie (wie überhaupt fast alle Leute dort, zumindest die Alten, die ja drei Nationalitäten hatten, hintereinander) hat Deutsch, Ungarisch und Rumänisch gesprochen, was mich sehr beeindruckt hat. Diese Vielsprachigkeit, die ich dort überall angetroffen habe, allerdings auch mit einem starken Drall zum Deutschnationalismus, was wohl dem Minderheitenstatus als Deutsche geschuldet war, hat mir eine Art Kultiviertheit und Weltoffenheit gezeigt, die man heute nur noch selten findet. Es werden heute andre Sprachen gelehrt und gelernt (außerdem konnte ich mich auch noch auf Französisch mit meinem Onkel Ticu verständigen! Allerdings wiederum nicht auf Deutsch). Herta Müller hat das ja so wunderbar und immer wieder beschrieben, das Leben als Mitglied der deutschen Minderheit in diesen Dörfern. Ich habe die Gegend als sehr arm und trostlos in Erinnerung, ein einziger aufgewühlter Erdhaufen mit kleinen Häuschen dazwischen, davor Hühner und Kettenhunde. Es war das erste und letzte Mal, daß ich meine Verwandten aus Rumänien getroffen habe. Inzwischen sind sie alle tot. Eine meiner Cousinen ist aber noch jahrelang hinuntergefahren. Ich erinnere mich, daß ich quer durch Jugoslawien gefahren bin, wo ich die einzige Frau am Steuer war, und in Rumänien habe ich (damals) so gut wie überhaupt keine Autos mehr gesehen, und mein kleiner Opel Kadett war die Attraktion, um die sich die Menschen geschart haben wie um ein Marienwunder. Ich erinnere mich an die riesigen Schafweiden, die wilden Hütehunde, und daß ich in einem der Schafställe eine junge Frau getroffen habe, die dort ihren Großvater besucht hat, und in einem medizinischen Lehrbuch für ein Rigorosum gelernt hat. Das hat mich sehr beeindruckt. Es gab auch Wolfsspuren am Boden.

Meine Mutter ist aber noch als sehr kleines Kind nach Wien gekommen und dort aufgewachsen. Meine Großmutter, die Tochter dieses Dorfschulzen und Schmiedes, hat dort, als Kurgast offenbar, meinen damals sehr wohlhabenden Großvater (den Sohn eines großen Seidenfabrikanten) kennengelernt. Sie hat ihn gefragt: „Können Sie mir ein besseres Leben bieten?“, und da sie sehr schön war, hat der Großvater gleich ja gesagt, sie geheiratet und mitgenommen. Meine Großmutter hat er gewollt, der Großvater, die Seidenfabriken nicht, er war geschäftlich offenbar unfähig, und so ist alles den Bach runtergegangen, wie man so schön sagt. Durch Kriegsanleihen ist das Vermögen hinterher geschwommen. Und so ist nur die Familienvilla (inzwischen, aber erst in letzter Zeit verkauft), die Familiengruft auf dem Kalksburger Friedhof (neben der Hugo v. Hofmannsthals, meine Großmutter durfte dort aber nicht hinein) sind übriggeblieben. Meine Großmutter wurde in Wien von den hochnäsigen Verwandten als „Ausländerin“ geschnitten und verachtet, was sie psychisch ziemlich zerbrochen hat. Darunter haben wieder meine Mutter und in der Folge habe ich sehr gelitten, denn Wut, Haß und Frustration werden immer weitergegeben, von Generation zu Generation. Ich war (über einen halsbrecherischen Bergpfad bei Reschiţa-Reschitz) damals in diese wilde Gegend gekommen, die einst schön gewesen sein muß, aber man hat davon nichts mehr bemerkt, ich habe nur nasse Erde und nasse erdgraue Häuser in Erinnerung, ich war damals selbst überrascht von meinen rallyereifen Autofahrkünsten (ich bin ja über Hühnerpfade und ähnliches gefahren!) und dann noch bis Temeschwar gekommen, wo eine der Tanten ein Häuschen hatte. Jetzt sind sie, wie gesagt, alle tot. Zuerst sind ihre Männer gestorben, dann die Frauen. Und jetzt ist nichts mehr von uns dort übrig.

24.12.2006
Fahrt nach Anina © 2006 Elfriede Jelinek"
Auf der Homepage gibt es auch noch zwei Fotos zu sehen.
zur Startseite von http://www.elfriedejelinek.com

Warum ich das hier schreibe, ist, weil ViLE in Ulm ja alle zwei Jahre das Donaufest ausrichtet und dabei der Menschen gedenkt, die mit der Ulmer Schachtel die Donau hinunter sind, also ihre Heimat verlassen haben, um sich eine neue Heimat zu suchen. Tagtäglich müssen Menschen ihre Heimat verlassen, weltweit sind mehr als 45 Millionen Flüchtlinge unterwegs <http://www.spiegel.de/politik/ausland/u ... 06653.html>.

Was Heimat ist und inwieweit sie mit Einkommen zu tun hat, kann der Wikipedia-Artikel besser erklären als ich: <http://de.wikipedia.org/wiki/Heimat> und die Trilogie aus dem Hunsrück von Edgar Reitz haben bestimmt auch schon viele gesehen: <http://de.wikipedia.org/wiki/Heimat_(Filmreihe)>.

Zurück zu Elfriede Jelinek: die Heimatlosigkeit ihrer Mutter (und Großmutter) hat auch auf sie abgefärbt. Sie wusste lange nicht, dass ihre Großeltern aus Rumänien waren. Sie hat sich immer "fremd" gefühlt. Vielleicht sollten wir auch neben dem Begriff von "Heimat" die "Fremdheit" diskutieren. Im Donauschwäbischen Zentralmuseum in Ulm ist der Ort Anina vermerkt als ein Ort mit vielen deutschen Bewohner, aber einen Hinweis auf die berühmte Nobelpreisträgerin gibt es nicht.

Genug für heute. Liebe Grüße, Brigitte
Zuletzt geändert von Brigitte Höfer am Montag 17. Februar 2014, 17:32, insgesamt 2-mal geändert.
bheinze
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Re: Heimat – was ist das?

Beitrag von bheinze »

Lieber Helmut,
Du hast wunderbare Vorgaben gemacht - vielen Dank für Deine Ideensammlung. Nachdem Brigitte den Film von Edgar Reitz erwähnt hat, möchte ich mich ebenfalls auf den Film Heimat beziehen: Ich bin im Saarland aufgewachsen, aber es hatte mich beruflich nach München verschlagen, was ja auch kein schlechter Ort zum Leben und Arbeiten ist. In München nun habe ich Heimat 1 gesehen. Ich bin richtig "süchtig" geworden danach, diesen Film noch einmal zu sehen. Der Hunsrück-Dialekt ist ja ein wenig anders, als der saarländische Dialekt, aber es hat mich dennoch zutiefst berührt. Und soooo lange war ich eigentlich nicht aus dem Saarland weg (etwa 6 Jahre), dennoch habe ich heute noch die Erinnerung an die Gefühle damals, im "Bauch" und im "Herzen". Die Mentalität der Leute und Lebensweise, es erinnerte mich sooo stark an meine Kindheit, obwohl es damals, ein Jahrzehnt nach dem zweiten Weltkrieg gar nicht so "rosig" war. Wenn ich also Heimat aus meiner Sicht definieren würde, dann sind es wohl Sprache, Menschen, Landschaft, die uns zunächst geprägt haben, und es muss dabei nicht die allerschönste Erinnerung sein. Vielleicht kommt auch noch dazu, dass man sich an die Heimat bewusster erinnert, wenn sie einem verloren gegangen ist, bzw. wenn man weiss, dass man dasselbe nicht mehr so wiederfinden wird, sei es wegen der Vertreibung, Flucht oder anderer Gründe. Das sind also so meine ersten Gedanken dabei.
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Carmen Stadelhofer
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Re: Heimat – was ist das?

Beitrag von Carmen Stadelhofer »

Das ist wirklich ein interessantes, facettenreiches Thema!

Ich möchte darauf aufmerksam machen, dass im ZAWiW-Modellprojekt "Gemeinsam lernen übers Netz", das ja zur Gründung von ViLE geführt hat, im Rahmen des von Senior/-innen selbstgesteuerten Lernprojekts"Heimat und Fremde" sehr interessante Beiträge und Diskussionen entstanden sind.
Zum Projekt:
http://www.gemeinsamlernen.de/lerngrupp ... remde.html

Zur projekteigenen Website:
http://www.gemeinsamlernen.de/laufend/heimat/index.htm

Das Thema"Hemat" stand auch im Mittelpunkt des virtuellen Alt-Jung-Leseprojektes "Kalte Zeiten", an dem mehrere Senior/-innen teilnahmen, die durch Krieg, Flucht und Vertreibung ihre "Heimat" verloren haben, und Schüler/-innen, die in Deutschland geboren sind, aber deren Eltern aus anderen Ländern/Ethnien stammen und die daher manchmal das Gefühl haben, sich zwischen "zwei Heimaten" entscheiden zu müssen, ohne dies zu wollen oder zu können. Die lebhaft geführte Diskussion zeigte dass die Älteren gelernt haben, mit "zwei Heimaten" gut zu leben, der unvergeßlichen "alten" der Kindheit und der "neuen", in der sie ihr Erwachsenenleben bis heute verbringen. Zu hören, dass man durchaus "zwei Heimaten" haben kann, war für etliche Schüler/-innen sehr entlastend-
Erna
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Re: Heimat – was ist das?

Beitrag von Erna »

Im Stern vom 15.12.2004 stand folgendes Zitat und dann eine längere Abhandlung:
Heimat ist mehr. Mehr als Heim, mehr als Heimstatt, mehr als Heimatstadt, mehr als Heimatland. Heimat ist eigen, konturlos, verschwimmend in Farben und Formen, ausufernd und ungreifbar wie ein Traum.
Wir haben übrigens schon ein LC über Heimat gemacht.
Schöne Grüße
Erna
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helmutf-berlin
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Re: Heimat – was ist das?

Beitrag von helmutf-berlin »

Hat der Begriff „nach Hause“ den Begriff „Heimat“ in unserem Sprachgebrauch weitgehend abgelöst?
Wer einen Anderen neu kennenlernt und wissen möchte, wo dieser herkommt, wird im Allgemeinen Frage, wo kommst du hehr, wo bist du zu Hause aber wahrscheinlich nur noch ganz selten wo ist deine Heimat. Woran mag es liegen, dass das Wort „Heimat“ immer weniger in Gebrauch ist, oder ist dies nur mein ganz subjektiver Eindruck?
Würde zum Beispiel mich jemand im Ausland oder auch im Inland fragen, wo ist deine Heimat, wäre die Antwort Deutschland, mein zu Hause aber wäre Berlin.
Erna
Beiträge: 878
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Re: Heimat – was ist das?

Beitrag von Erna »

Meiner Meinung nach fragt wirklich selten jemand nach HEIMAT. Meist nur, wo kommst Du her? Wahrscheinlich haben viele Sprachen auch gar nicht den Begriff. Im Türkischen gibt es ihn so viel ich weiß nicht. Ich meine auch, dass ich ihn nicht vom Französischen her kenne. Jetzt müsste ich recherchieren, habe aber lweider keine Zeit.
Grüße
Erna
Marlis Beutel
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Re: Heimat – was ist das?

Beitrag von Marlis Beutel »

Ich habe im Wörterbuch nachgesehen (Langenscheidt), da steht im Englischen "home", im Französischen "pays", im Italienischen und Spanischen "patria".
Als ich zum allerersten Mal mit meinem Mann in seiner Heimat (heutiges Tschechien) war, da lief er immer weiter, obwohl es bitterkalt war und der Wind uns den Dreck von der Straße ins Gesicht trieb. Er konnte gar nicht stehenbleiben, denn alles war noch so, wie er es in Erinnerung hatte. (Es war zu einem Zeitpunkt, wo sich dort noch nichts verändert hatte.)
Als ich nach Jahren in das amerikanische College zurückkehrte, wo ich nur zwei Semester verbracht hatte, erging es mir ganz genauso, ich konnte nicht stehenbleiben, musste immer weitergehen und mich erinnern.
Es war die beste Zeit meines Studiums gewesen und hatte mir viel für mein späteres Leben mitgegeben.
Hat nicht Heimat auch etwas damit zu tun, dass man sich in ihr "zu Hause" fühlt? Es gibt vermutlich Orte, in denen man wohnt, ohne sich einzuleben.
Marlis
Marlis Beutel
Erna
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Re: Heimat – was ist das?

Beitrag von Erna »

Liebe Marlis,
Du hast zwar Recht, dass man es so übersetzen kann, aber es gibt nicht das wieder, was Heimat bedeutet. Sowohl bei patria als auch bei pays kann ich ganz einfach Vaterland und Land sagen, das kannst Du aber nicht bei Heimat. Das merkst Du schon bei Deinen Gefühlen für die Universitätsstadt oder Universität. Das ist für mich Istanbul. Im späten Mittelalter war mit Heimat ganz stark der Geburtsort gemeint. Dort, wo man Heimatrecht hatte, musste man im Alter und bei Armutaufgenommen werden.
Erna
Marlis Beutel
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Re: Heimat – was ist das?

Beitrag von Marlis Beutel »

Liebe Erna,

Du erwähnst das Mittelalter. Wie war die Welt damals noch groß und dunkel! Ich frage mich, ob die Menschen eine andere Beziehung zur Heimat hatten als heute. Wenn jemand auswanderte, konnte er kaum mehr zurückkommen. Viele heutige Migranten haben das gleiche Problem.
Ist Heimat nicht ein Ort, der Geborgenheit gibt?

Viele Grüße,
Marlis
Marlis Beutel
Erna
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Re: Heimat – was ist das?

Beitrag von Erna »

Liebe Marlis,
aber Heimat ist mehr als der Ort, der Geborgenheit gibt. Heimat sind auch die Gefühle, Erinnerungen und oftmals gar nicht mehr der Ort, wo sie entstanden sind. Jedenfalls bei mir. Meine Kusine und ich wir fuhren auch in unsere "Heimat". Wir waren entsetzt über den realen Ort, wie er so gar nicht mehr unserem Bild entsprach. Keine von uns und auch schon meine Mutter, sind noch einmal dahin gefahren.Aber in unseren Gefühlen ist es trotzdem unsere Heimat geblieben mit Großmutter, Ereignissen ,Schulbeginn usw.
Ähnlich ging es mir mit Istanbul. Als mein Vater da arbeitete, war das, was ich als Heimat bezeichne, ein Dorf von ca 500 Einwohnern. Heute ist es ein Stadtteil Istanbuls von ungefähr 400.000 Einwohnern.Trotzdem empfand ich ein Gefühl von Heimat, wenn ich dahin fuhr.
Grüße an Dich
Erna
Horst Glameyer
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Re: Heimat – was ist das?

Beitrag von Horst Glameyer »

Die Vorstellung von einer Heimat, in die man zurückkehren möchte, kann lebensrettend sein.
Etwas anderes war für mich dagegen das Zuhause. Als Polizeibeamter wurde mein Vater in den 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts oft abgeordnet bzw. versetzt. Bevor ich in Kiel in den Kindergarten kam, waren meine Eltern schon dreimal mit mir umgezogen. Von Hamburg ging es zunächst in die Vororte Hausbruch und Neugraben und anschließend nach Kiel. Danach bin ich in Kassel eingeschult worden. In dieser Stadt haben wir nicht einmal Weihnachten gefeiert, sondern mussten nach Cuxhaven weiter ziehen. Schon damals war es nicht leicht, eine Wohnung zu finden. In Kiel wohnten wir längere Zeit bei einem Kapitän in zwei möblierten Zimmern zur Untermiete. In Kassel verbrachten wir etwa einen Monat in einem Hotel am Flughafen, und in Cuxhaven hausten wir auch zunächst einige Wochen zu Dritt in einem Zimmer zur Untermiete, bis wir eine Wohnung beziehen konnten. Außerdem musste ich noch im ersten Schuljahr die Schule wechseln. Aber wenn in der neuen Wohnung erst unsere vertrauten Möbel ihren Platz gefunden hatten, fühlte ich mich Zuhause. Ein Heimatgefühl konnte ich allerdings lange Zeit nicht entwickeln.
Nach dem Tode meiner Eltern kam ich vorerst bei meinem Onkel unter, dem Bruder meines Vaters. Er hatte den Bauernhof von meinen Großeltern übernommen, die zu jener Zeit bereits verstorben waren. Schon bald wurde mir klar, dass ich als Städter nicht für das Landleben geeignet war. Ich bemühte mich um einen Platz in einem Waisenhaus in Celle. Nur die Ferien verbrachte ich auf dem Bauernhof. Er lag in einer reizvollen Landschaft im Moor zwischen Geest und Marsch.
Da ich Lehrer werden wollte, bewarb ich mich nach meiner Konfirmation um die Aufnahme in eine Lehrerbildungsanstalt und wurde für die Anstalt in Stade angenommen. Mit 16 Jahren im Februar 1945 erhielt ich den Einberufungsbefehl. Fortan gehörte ich zur Reichsarbeitsdienstdivision zur besonderen Verwendung „Schlageter“ in Dinklage bei Vechta.Wenig später wurde sie nach Munster Lager in der Lüneburger Heide verlegt. Von dort marschierten wir Kindersoldaten zu Fuß bis nach Karow, irgendwo hinter Parchim in Mecklenburg, und übten zwischendurch Angriff mit Hurra-Geschrei. Im Mai1945 hieß es, Adolf Hitler sei im Kampf um Berlin gefallen. Der Krieg war beendet. Damit wir nicht in russische Gefangenschaft gerieten, wollten unsere Offiziere uns an der Elde bei Neustadt-Glewe in amerikanische Kriegsgefangenschaft führen.
Ich machte mich allein zu Fuß auf den Heimweg. Als Ziel und Heimat hatte ich dabei den großelterlichen Bauernhof vor Augen. Im Geiste sah ich die Birkenallee, die ins Moor führte. Auf ihr hatte ich in den Sommerferien die Kühe von den Moorweiden auf den Melkplatz getrieben. Alles erinnerte mich an das Gedicht „Der Knabe im Moor“ von Annette Droste von Hülshoff. Dieses Heimatgefühl hielt mich den weiten Weg von Mecklenburg bis fast nach Cuxhaven auf den Beinen, selbst wenn ich nahe daran war, den Marsch und mich aufzugeben. Wie sich herausstellte, als ich dort endlich anlangte, war es eine Illusion gewesen. Niemand erwartete mich, freute sich, dass ich heimgekommen war. Gewiss, es war spät geworden, und auf dem Lande geht man früh ins Bett, weil man frühmorgens aus den Federn muss. Man bot mir eine Scheibe Brot und ein Glas Milch an und sagte: „Du weißt ja, wo deine Kammer ist.“ Seither tue ich mich schwer mit dem Begriff „Heimat“. Aber der Gedanke an sie hat mir seinerzeit wohl das Leben gerettet.
Marlis Beutel
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Re: Heimat – was ist das?

Beitrag von Marlis Beutel »

Lieber Horst,

was für eine Kindheitsgeschichte! Danke, dass Du sie uns mitgeteilt hast. Ich hatte gar nicht gewusst, dass Polizeibeamte so oft umziehen mussten. Es muss schwierig sein, sich alle Orte zu merken, an denen man Zeit zugebracht hat, ohne sich zu Hause zu fühlen. Am Ende kamst Du an, ohne Dich willkommen zu fühlen. Immerhin hattest Du überlebt! Das war in jener Zeit schon großes Glück.

Herzliche Grüße von der Bergstraße,
Marlis
Marlis Beutel
ekoch
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Re: Heimat – was ist das?

Beitrag von ekoch »

Lieber Helmut,
lange habe ich mir überlegt ob ich mich mit diesem Thema nochmal beschäftigen soll, denn immer wenn ich „Heimat“ definieren will, ist mein erster Gedanke „Mariakemend“, mein Geburtsort in Südungarn. Und jedes Mal bekomme ich ein schlechtes Gewissen. Denn meine Heimat ist doch hier, wo mein Lebensmittelpunkt, meine Familie, meine Kinder, meine Enkelkinder sind, wo es mir gut geht, wo ich mich geborgen und wohl fühle, viele Freunde habe, rundum alles stimmt. Schon oft habe ich mir überlegt, weshalb ist immer der erste Gedanke bei dem Begriff „Heimat“ Mariakemend. Bis zu meinem neunten Lebensjahr habe ich in Mariakemend gelebt, hier lebe ich schon seit beinahe siebzig Jahren und ich möchte es auch nicht ändern. Nach Mariakemend würde ich mit meiner heutigen Lebenseinstellung, mit meinen Erwartungen, meinen wirtschaftlichen Ansprüchen nicht mehr passen. Vieles hat sich geändert. Mariakemend ist nicht mehr der Ort wie er in meinen kindlichen Erinnerungen noch vorhanden ist, wo ich bis zu unserer Flucht im November 1944 eine wunderbare Kindheit verbringen durfte. Mariakemend hat sich total verändert und doch zieht es mich immer wieder dort hin.
Beinahe jedes Jahr fahre ich nach Ungarn und jedes Mal führt mich mein erster Weg nach Mariakemend. Je näher ich dem Ort komme, beschleicht mich eine wohlige Wärme, eine innere Zufriedenheit, ein Glücksgefühl, eine Vertrautheit mit der Landschaft, der Mentalität der Menschen, ein Gefühl das ich nicht in Worte fassen kann. Es ist jedes Mal überwältigend. Ich bin daheim! Vor einiger Zeit habe ich mich mit einem Bekannten darüber unterhalten, der seine Kindheit in Serbien verbracht hat und den ähnliche Gefühle und Gedanken über den Begriff „Heimat“ beschäftigen. Er meinte: „Die Seele setzt Prioritäten und die liegen nun mal in der Kindheit“.
Mit dem Wort „Heimat“ verbinde ich meine Gefühle, hauptsächlich meine Gefühle aus der Kindheit, die tief in mir verwurzelt sind. So ist und bleibt Mariakemend meine „alte“ Heimat. Eine „neue“ Heimat habe ich hier, wo ich lebe, gefunden und ich bin für beide Heimaten dankbar.

Liebe Grüße
Elsa
Marlis Beutel
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Re: Heimat – was ist das?

Beitrag von Marlis Beutel »

Liebe Elsa und lieber Helmut,

wie sieht es aus, wenn man eine reichlich problembeladene Kindheit verbracht hat? Möchte man dann auch in diese Heimat zurückkehren? Blendet man das aus, was schlimm war?

Grüße von der Bergstraße,
Marlis
Marlis Beutel
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