Angelika Klüssendorf: April

Hier diskutieren wir über belletristische Bücher.
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Erna
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Angelika Klüssendorf: April

Beitrag von Erna »

Am 15. März fangen wir mit dem Buch "April" an. So viele Literaturtalks und Rezensionen und Besprechungen wie bei diesem Buch, habe ich noch nicht erlebt, dabei ist es erst vor ca 4 Wochen erschienen. Man weiß nicht einmal genau wie der Titel ausgesprochen wird: April wie unser Monat oder englisch, als Epril, da sich das Mädchen diesen Namen nach einem
englischen Song gegeben hat. Es ist direkt lustig, wenn die Hälfte der Teilnehmer einer Runde die eine und die andere Hälfte die andere Sprechweise benutzt. Das Buch ist ein Bildungsroman, spielt in leipzig und ist die Fortsetzung des Buches Mädchen.
Viel Spaß beim Lesen
Erna
Marlis Beutel
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Re: Angelika Klüssendorf: April

Beitrag von Marlis Beutel »

Liebe Mitlesende,

zuerst einmal habe ich das Buch "Das Mädchen" von Angelika Klüssendorf gelesen. Es ist auf erschreckende Weise einleuchtend und mitreißend: Eine unberechenbare prügelnde Mutter, ein selten anwesender Alkoholiker als Vater des Mädchens, nicht ihres Bruders. Die beiden Kinder reagieren sehr unterschiedlich auf eine Lebenssituation, in der es keine Geborgenheit gibt, auch keine Sicherheit. Aber sie überleben!
Was werden sie weitergeben an die nächste Generation? Wie kommen sie selber zurecht?

Grüße von der Bergstraße,
Marlis
Marlis Beutel
HildegardN
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Re: Angelika Klüssendorf: April

Beitrag von HildegardN »

Liebe Literatur- und Lesefreunde,
heute habe ich Angelika Klüssendorfs Roman „April“ , den mir die Stadtbibliothek Bad Homburg zur Verfügung gestellt hat, zuende gelesen. Den in den Medien schon oft besprochenen und einigen Teilnehmern unseres Lesekreises bereits bekannten Roman „Das Mädchen“, von Angelika Klüssendorf, der die Kindheit und frühe Jugend der Protagonistin April“ behandelt, habe ich bisher nicht gelesen.
Angelika Klüssendorf schreibt schlicht, klar und schnörkellos, und iIch habe ihren neuen Roman, der manchmal auch als Fortsetzungsroman bezeichnet wird, sehr schnell gelesen. Zudem war ich sehr interessiert zu erfahren, wie der jungen April der Weg in das Erwachsensein und damit auch in die von ihr erstrebte Selbständigkeit gelingt.
Doch anders als ich es mir vorgestellt und gewünscht hatte, widmet sie sich ihren Möglichkeiten und Aufgaben nicht mit all ihrer Kraft, sondern lässt sich - oft scheinbar ziellos - einfach treiben.
Die Autorin schildert das junge Mädchen wie ein Blatt im Wind, das ihrer eigenen Stimmung und Befindlichkeit unterworfen, seinen Weg nimmt. „Die April, die macht was sie will“ schreibt ein Rezensent in einer Beurteilung, in der sie u.a. als Rebellin, Hochstablerin, Trinkerin, aber auch als Träumerin bezeichnet wird. -- Ich sehe sie vor allem ihren oft belastenden Träumen ausgesetzt, die sie immer wieder in ihrer Befindlichkeit, aber auch in ihrem Wollen und Tun beeinflussen.
Nach immer wieder – zuweilen fast chaotisch eingeschlagenen Wegstrecken – zeichnet sich das Ende des hier beschriebenes Weges für die inzwischen junge Frau und Mutter, und damit vielleicht eine neue Chance für ihre einst erträumte Lebensgestaltung ab. Wird sie sie nutzen? Der Roman ist zuende, bevor wir darauf eine Antwort erhalten können.
Mit herzlichen Grüßen aus Bad Homburg
Hildegard
Erna
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Re: Angelika Klüssendorf: April

Beitrag von Erna »

Vergangene Woche habe ich auch endlich Zeit gefunden, um mit dem Buch zu beginnen. Dabei musste ich feststellen, dass sich das Buch gut liest. Die Sprache ist schlicht, vielleicht dem Bild der jugendlichen April angepasst. Wie Hildegard schon schrieb, ist April ein Mädchen oder eine junge Frau, die ihr selbstbestimmtes Leben nach allem Heimaufenthalt erst einmal "genießen" möchte. Allerdings sind die Umstände nicht so, dass sie die Möglichkeit dazu hat. Weder die Unterkunft noch ihre Arbeit helfen ihr dabei. Ein weiteres Hindernis ist außerdem, dass sie ncht nein sagen kann, wenn sie etwas nicht möchte.
Grüße aus Frankfurt
Erna
Eleonore Zorn
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Re: Angelika Klüssendorf: April

Beitrag von Eleonore Zorn »

[quote="HildegardN"]

"Doch anders als ich es mir vorgestellt und gewünscht hatte, widmet sie sich ihren Möglichkeiten und Aufgaben nicht mit all ihrer Kraft, sondern lässt sich - oft scheinbar ziellos - einfach treiben."

Liebe Literatur- und Lesefreunde,
Ich habe zuerst das Buch "Das Mädchen" gelesen, in der Hoffnung, das Folgebuch "April" besser zu verstehen. Obwohl das Buch sehr realistisch, manchmal überdeutlich im Ausdruck ist, fiel es mir schwer, zu begreifen, warum "April" die Chancen nicht ergreift, die sich ihr doch immer wieder in der einen oder anderen Situation bieten. Manchmal tut sie es zwar, dann aber zerstört sie das Erreichte von einem Moment zum anderen wieder. Nachdem ich "Das Mädchen" ja nun gelesen habe, verstehe ich zwar, dass die Ursache in der chaotischen Kindheit und in der physischen und psychischen Gewalt begründet ist, die sie erlebt hat, kann mich aber an die anscheinende Auswegslosigkeit nicht gewöhnen.
Es wurden ihr ja inzwischen von Seiten der Behörden und auch einiger wohlmeinender Menschen Hilfen angeboten, die sie teils angenommen, dann aber sabotiert hat. Ich weiß zwar, dass das häufig der Fall ist, lese es aber nicht so gern, da es mich ratlos macht. Der Gedanke, dass ein Mädchen weiterhin auf diese Weise durch ihr Leben und das Leben ihrer Mitmenschen gehen wird, ist beängstigend. Von einer befreundeten Leiterin eines Kinderheimes in Sachsen weiß ich leider, dass es gelegentlich solche Fälle gibt. Ich weiß aber auch, dass die Verhältnisse in diesen Heimen nicht mehr so sind, wie sie von Angelika Klüssendorf geschildert werden. Wahr ist, dass besonders "April" die Menschen so wahrnimmt, wie die Autorin es beschreibt. Ein anderer Mensch würde aber nicht automatisch in dieser ablehnenden Weise auf die Hilfsangebote reagieren, glücklicherweise.
Es ist tröstlich, dass am Ende des Buches nach einem Aufenthalt in Italien ein Hoffnungsschimmer auf das zukünftige Leben des verstörten Mädchens fällt. Sie scheint allmählich "aufzutauen" und aus ihrer Erstarrung herauszufallen, die ihr den Blick auf die sogenannte Normalität und auf das Wohlwollen ihrer Mitmenschen verstellt hat. Leider bin ich etwas befangen beim Lesen des Buches, da ich Geschichten und Heim-Erfahrungen aus Berichten von Heimerziehern (nicht aus eigenem Erleben) kenne.
Ich hatte vor Jahren selbst für drei Wochen ein Mädchen aus einem Heim aufgenommen, um ihm eine Ausbildungsstelle hier zu beschaffen. Das gelang. Es hatte eine ähnliche Kindheit wie "April" hinter sich. Die junge Frau hat sich inzwischen sehr gut entwickelt, wenn auch nicht ohne kleine, aber verständliche Umwege. Sie geht vor allem mit ihrem Kind liebevoll um und kann inzwischen Hilfe annehmen, z.B. von ihrem Ehemann, dem Vater des Kindes. Das Mädchen hatte allerdings anfangs (während sie bei uns wohnte) Ansichten über das Leben, über ihr Umfeld, über sich selbst, die sehr erstaunlich und manchmal auch sehr skurril waren. Nach und nach hat sie gelernt, ihre eigenen Vorurteile zu überprüfen, so wie sie die Vorurteile anderer verstehen lernen musste.

Es gelingt mir leider dieses Mal nicht, das Buch einfach so zu lesen und zu akzeptieren, wie man das sollte, nämlich unbefangen. Man liest ja auch vor dem Hintergrund eigener Erfahrung.

Eleonore
Erna
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Re: Angelika Klüssendorf: April

Beitrag von Erna »

Liebe Eleonore,
ich muss Dir in vielem zustimmen. Obwohl ich das Buch sehr zügig lese, bin ich fast immer wütend, dass April die Möglichkeiten, die ihr geboten werden, so schlecht nutzt. Ihr werden sowohl in der ehemaligen DDR, als auch im Westen, viele Möglichkeiten geboten, ich meine mehr als manchem anderen. Was sie davon annimmt, ist jedenfalls bis zur Ausreise fast null. Ein einziges Mal handelt sie sozial, als sie in der Psychatrie ist und sich um die anderen Patienten kümmert. Allerdings akzeptieren die Patienten sie nur so lange, wie sie auch Patientin ist. Als sie die Arbeit als "Mitarbeiterin" macht, lehnt man sich gegen sie auf. In den Literaturkreisen wurde das Buch als Entwicklungsroman bezeichnet. Ich habe zwar erst Zweidrittel davon gelesen, kann aber bisher keine Entwicklung erkennen. Und vernachlässigt sie ihr Kind nicht auch?
Ein schönes Wochenende
Erna
Eleonore Zorn
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Re: Angelika Klüssendorf: April

Beitrag von Eleonore Zorn »

Liebe Erna,

ja, es ist ein Entwicklungsroman in dem Sinne, dass April inzwischen älter wird, auch einige nützliche Dinge dazulernt, nach mehreren Beziehungskisten einen Dauerpartner findet und mit ihm ein Kind hat. Dass sie Mutter geworden ist und das Kind nicht abgetrieben hat, sehe ich auch als Entwicklung an. Leider verliert sie relativ bald die Lust, sich selbst um das Kind zu kümmern und überlässt es dem Partner, der aber auch nicht ganz stabil im Leben steht. Trotzdem war diese Entscheidung richtig, da er insgesamt zuverlässiger gehandelt hat. Entwicklung findet hier auch in negativer Richtung statt. Man könnte verzweifeln beim Lesen.
Mir ist inzwischen eingefallen, dass vermutlich viel Zwang in der Heimerziehung herrschte oder zumindest eine strenge Ordnung.
Als ich 1990 zum ersten Mal dort war (in Sachsen) waren die Zimmer der Jugendlichen geradezu unheimlich "aufgeräumt". Als ob die Möbel gerade erst gekommen wären. Plüschtiere saßen in Reih und Glied auf Regalen (nicht auf den Betten). Sonst keine persönlichen Utensilien, keine Fotos von Eltern, Geschwistern oder Freunden. Natürlich keine Poster von Pop-Stars oder Schauspielern. Ich hoffte damals, dass vielleicht doch einige persönliche Dinge in die Schränke geräumt waren.
Es war auch so still im Haus, kein Lärm, wie man das in deutschen Heimen findet. Mit der Leiterin des Heimes war ich einige Wochen vorher in deutschen Heimen. Sie war hell entsetzt über das Chaos in den Zimmern, über den Lärm, über die Unhöflichkeit der Jugendlichen, die nicht aufstanden, wenn wir ins Zimmer kamen. So unterschiedlich war das damals. Und so hat es Klüssendorfs April wahrscheinlich erlebt, so wie es vor 1990 war und knapp nach der Wende auch noch.
Am schlimmsten fand ich, dass das Fach Psychologie in der Ausbildung der Erzieher nicht vorgesehen war. Selbst die (nach der Wende erst eingesetzte) Heimleiterin musste relativ bald Kurse besuchen, um das nachzuholen. Das mag vielleicht erklären, warum den Verhaltensauffälligkeiten der Jugendlichen in Heimen nicht verständnisvoll genug begegnet wurde.
Ich habe es bedauert, dass man in dem Buch leider nicht mehr viel über das Kind erfährt. Es hat jedenfalls bei einer Wiederbegegnung ziemlich stark "gefremdelt", als es seine Mutter auf den Arm nehmen wollte. Sie war ja eine Fremde für das Kind geworden. Trotzdem hat man den Eindruck, dass die kleine Familie zusammenbleiben wird. So lange der geduldige Partner April immer mal wieder Ausflüge in die Freiheit gestattet, kann es ja einigermaßen gut gehen. So habe ich das Gelesene jedenfalls für mich gedeutet. Obwohl das Buch in einfacher und direkter Sprache geschrieben ist, fand ich, dass es keine leichte Lektüre war.
Nach dem Aufenthalt in Italien hatte April vielleicht ein neues Ziel vor Augen, für das es sich lohnte, sich zu verändern.

Das hofft jedenfalls
Eleonore
Marlis Beutel
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Re: Angelika Klüssendorf: April

Beitrag von Marlis Beutel »

Liebe Lesefreunde,

die Autorin kann wirklich schreiben, aber sie lässt den Leser ratlos zurück.
Während "Das Mädchen" mich überzeugte, denn so kann eine Kindheit verlaufen, ist die Fortsetzung eher deprimierend.
April scheint alles mögliche auszuprobieren und entwickelt sich nicht zu der gefestigten Persönlichkeit, die ihr Kind eigentlich braucht. Das ist erschreckend. Muss man die Fehler seiner Eltern wiederholen? Gäbe es nicht auch die Möglichkeit, sich andere Vorbilder zu suchen?

Grüße von der Bergstraße,
Marlis
Marlis Beutel
HildegardN
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Re: Angelika Klüssendorf: April

Beitrag von HildegardN »

Liebe Marlis - und liebe Lesefreunde,
müssen Eltern immer zugleich auch Vorbilder ihrer Kinder sein? Ich meine, sie können es nur teilweise sein, denn wie oft entsprechen zum Beispiel die Zukunftserwartungen der Kinder nicht den Plänen und Vorstellungen ihrer Eltern, und in der heutigen Zeit der schnellen Veränderungen ist das auch oft nicht möglich.
Grüße aus Bad Homburg, Hildegard
Marlis Beutel
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Re: Angelika Klüssendorf: April

Beitrag von Marlis Beutel »

Liebe Lesefreunde,

letzte Woche erzählte mir jemand, er sei dreimal je 10 Jahre verheiratet gewesen. Er fand es ganz in Ordnung, sich wieder zu trennen, wenn man nicht mehr miteinander klar kommt. So ähnlich läuft es bei April ja auch. Man probiert alles aus, was sich bietet und wendet sich wieder ab, wenn man genug hat. Wird unsere Gesellschaft in Zukunft auf diese Weise funktionieren?
Was bedeutet es für die Kinder?

Grüße von der Bergstraße,
Marlis
Marlis Beutel
Eleonore Zorn
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Re: Angelika Klüssendorf: April

Beitrag von Eleonore Zorn »

Liebe Hildegard,
Du fragst, ob Eltern immer Vorbild sein sollten. Das ist meiner Ansicht ganz sicher der Fall im Kleinkindalter, denn was sollte Erziehung sonst sein? Später, wenn die Kinder schon durch Beobachtung gelernt haben, dass es Gutes und Böses, Nützliches und Unnützes oder Schädliches gibt, dann sollen und können sie selbst entscheiden, was sie für sich in Anspruch nehmen wollen an dem, was die Umgebung ihnen vorlebt. Das gilt natürlich besonders für Jugendliche, die ja gerne das Gegenteil von dem tun, was Erwachsene von ihnen erhoffen. Sie sind im Laufe der Jahre ja dann auch schon selbst verantwortlich für das, was sie tun, dann sollen sie auch die Freiheit haben, Falsches zu tun in eigener Verantwortung. Das ist es wohl, was sie lernen müssen, sich für ihre Handlungen verantwortlich zu fühlen.
Genau das ist es, was mich im Verhalten von April irritiert. Sie bekommt wohlerwogene und wohlmeinende Hilfestellung von Menschen, die sie in ihrer verfahrenen Situation begleiten wollen. Sie nimmt die Hilfe nicht oder nur sporadisch an, beklagt sich aber hinterher darüber, dass "das Leben" ihr so übel mitspielt. Ich wünschte mir die ganze Zeit beim Lesen, dass April doch endlich begreifen möge, dass es normal ist, dass sie ihren Teil dazu beitragen muss, was manchmal auch heißt, ihr Mäntelchen nicht nach jedem Wind zu hängen, der gerade an ihr vorbeizieht und sie anzieht.
Die Autorin Angelika Klüssendorf scheint aber gerade dies berichten zu wollen, dass es nämlich Menschen gibt, die genau so und nicht anders handeln. Da hilft es nichts, es sich anders zu wünschen, das versuche ich mir auch klar zu machen.
Trotzdem hoffe ich im nächsten Buch ein bisschen auf mehr Vernunft der Protagonisten und sogar auf Anpassung an die Gegebenheiten, gerade um sie zu verändern, denn nicht immer heißt anpassen auch klein beigeben.

Herzlich grüßt
Eleonore
Erna
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Re: Angelika Klüssendorf: April

Beitrag von Erna »

Hildegard fragt, ob Eltern immer Vorbilder sein müssen. Sie müssen es nicht sein, sie sind es aber, wenigstens so lange, wie Kinder nicht entscheiden können, ob das, was Eltern tun, immer richtig ist und sie sich bewusst anders entscheiden.
April kann kritisch denken, sie macht es auch, nur wenn sie selber handelt, fällt sie in die gleichen oder wenigstens ähnlichen Verhaltensmuster wie ihre Eltern. Mich hat der Satz, dass sie ihren Sohn am meisten liebt, wenn er schläft, sehr verunsichert. Meiner Meinung nach kann sie sich von ihrer Vergangenheit nicht lösen, denn als sie schon in Berlin-West ist, zieht sie immer wieder die löchrige alte Jeans an, die sie als erste besessen hat, wenn sie die Bars besucht. Sie geht auch immer wieder an die Grenze, obwohl sie weiß, dass man sie nicht hinüber lassen wird. Das Buch ist irgend wie deprimierend, weil April sich nicht umorientiert. Ausgenommen ist dabei die Literatur.
Schöne Grüße aus Frankfurt
Erna
Annemarie Werning
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Re: Angelika Klüssendorf: April

Beitrag von Annemarie Werning »

Ich habe noch kein Buch so widerwillig gelesen wie dieses. Es liest sich zwar leicht, man kann sich auch an der Sprache freuen, aber inhaltlich ist es recht deprimierend. Mitgenommen habe ich zwei Dinge: Anders als ich dachte, ist die DDR in diesem Buch erstaunlich gut mit der als psychisch krank eingestuften April umgegangen. Ihr wurde ein Reha - Platz im Museum zur Verfügung gestellt, sie hatte dabei viel Freiheiten und offensichtlich immer hinreichend Geld. In diesem Zustand hat sie mit großer Freiheit mehrere Jahre zugebracht. Mit unseren Psychiatriepatienten geht der Staat nicht so gut um. Außer den Werkstätten für Behinderte - die auch viele Schwachsinnige betreuen und deshalb für psychisch Kranke nicht atrraktiv sind - gibt es bei uns kaum Beschäftigungsprogramme, dabei ist Beschäftigung eigentlich das einzige, was helfen kann.
Das zweite war Ihr Erleben im Westen von Berlin: Total verloren, keiner hat sich gekümmert: "Die haben nicht auf uns gewartet". Hätte sie nicht so gut ausgesehen und dadurch immereinen Mann gefunden, der sich um sie gekümmert hat, hätte sie hier ein völlig trostloses Leben erwartet. Unsere FReiheit hier ist zwar schön, kann aber auch zur völligen Vereinsamung führen. So ist es kein Wunder, dass sie starkes Heimweh nach Leipzig hatte. Traurig hat mich auch die Geschichte des Vaters ihres Kindes gemacht: Während er in der DDR zuerst noch Träume über eine Laufbahn als Choreograph hatte, war er hier nur noch mit Broterwerb befasst.
Viele Grüße Euch Lesefrauen
Annemarie
Erna
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Re: Angelika Klüssendorf: April

Beitrag von Erna »

Mich hat das Ende etwas versöhnt. Also die Fahrt nach Italien und durch Italien. Da vermeine ich ein kleines bisschen Zuversicht und Lebensmut bei April zu verspüren.
Aber Du hast schon Recht, liebe Annemarie, Einsamkeit ist die andere Seite der Freiheit. Keiner m u s s noch etwas tun und sei es, sich um den anderen kümmern. Und die große soziale Kontrolle, die in der DDR geherrscht hat, hat auch ein Stück Sicherheit vermittelt.
Hans ist wirklich zu bewundern, denn er wird von April nur ausgenützt.
Schöne Grüße
Erna
Brigitte Höfer
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Re: Angelika Klüssendorf: April

Beitrag von Brigitte Höfer »

Ich habe das Buch „April“ von Angelika Klüssendorf genauso atemlos gelesen, wie es geschrieben ist. Beim Lesen ist viel in mir passiert, viele Gedanken und Gefühle konnte ich nachvollziehen und verstehen. Und ich hatte überhaupt keinen Widerwillen wie Annemarie, auch wenn sich Klüssendorfs Roman in den Randgebieten der Gesellschaft bewegt. Es gibt diese Kulturszenen, und sie sind meiner Meinung nach authentisch und präzise beschrieben. Eine große Leistung, in meinen Augen!
Und weil man ein Buch noch ein zweites Mal lesen soll, habe ich es getan, und hier kommt meine Würdigung:
Es werden sechs Jahre im Leben einer Jungen Frau beschrieben: mit 18 wird sie „ins Erwachsenenleben entlassen“. Vorher hat sie in verschiedenen Heimen gelebt. Nach einem halben Jahr macht sie einen Selbstmordversuch mit Gas (s. 40)und wird als Tagespatientin einer Klinik zugewiesen. Ein weiteres halbes Jahr später versucht sie es mit Alkohol (s. 69).
Sie ist 19, als sie Hans begegnet. Sie wird aus der Klinik entlassen und erhält einen Arbeitsplatz im Museum für Völkerkunde. Von ihrer Schwangerschaft erzählt sie Hans erst, als sie über den 3. Monat hinaus ist. „Sie werden das hinkriegen, gemeinsam.“ (S. 84). Sie besucht ihre Mutter und bereut es anschließend (S, 93).
Sie ist 20, als ihr Sohn Julius zur Welt kommt. „Sie hat geglaubt, wenn das Kind da ist, stelle sich die Mutterliebe ganz von selbst ein. Sie kommt sich betrogen vor, und sie weiß nicht, ob all die anderen Mütter sich etwas vorgaukeln oder ob nur sie fehlerhaft ist.“ (S. 97).
Ein Jahr später (April ist 21) bekommt Julius einen Krippenplatz und sie eine Stelle im Archiv des Museums. Durch den Museumsdirektor erfährt sie, dass sie zwei mal jährlich auf ihren Gesundheitszustand überprüft wird. Mit ihrem Kollegen Silvester führt sie Gespräche über Bücher und Psychologie. „Anfangs identifiziert sie sich mit jedem Krankheitsbild, erkennt sich manchmal als Borderlinerin, mal als Hysterikerin wieder, überlegt, ob sie infantil ist, narzisstisch, eine antisoziale Persönlichkeit. Doch dann lernt sie zu begrenzen: Je nach Konvention kann alles Mögliche als antisozial bezeichnet werden, Wenn sie Begriffe wie ‚frei flottierende Angst’ in ihren Schnellhefter überträgt, hat sie das Gefühl, etwas zu verstehen. April fühlt sich gemeint.“ (s. 114). Sehr schön der Absatz, der sich anschließt, und der ihre Konflikte mit Hans beschreibt.
Die Ehe ist nicht gut. (April ist 22/23). Sie hat Fieber von einer Eierstockentzündung und schreibt diese ihrer unglücklichen Ehe zu. Als der Vater von Hans stirbt, stellen Hans und sein Bruder einen Besuchsantrag, der abgelehnt wird; daraufhin stellen alle einen Ausreiseantrag. Die Anträge werden abgelehnt. April bekommt eine Einladung zu einer Aufnahmeprüfung in einem Literaturinstitut. Sie gibt nur leere Blätter ab.
April bekommt eine Kur in Karlsbad in der Tschechoslowakei verschrieben. Ehe sie sich dort einrichten kann, kommt der Anruf, dass die Ausreise genehmigt ist. Während sie ihre Sachen packen, trifft sie ihren Vater auf der Straße und begleitet ihn nach Hause. Sie vermeidet ein Gespräch über ihre Mutter und verschweigt ihm ihre Ausreise. Zu dritt fahren sie nach Berlin und ins Aufnahmelager. Nach zwei Monaten haben sie eine 3-Zi-Wohnung. April ist 24. Sie hat Heimweh, Sehnsucht, dreht durch. (Ich würde sagen, sie ist manisch-depressiv.) Auf einer Reise an den Gardasee sagt sie Hans, dass sie sich trennen will. Hans sucht sich eine Wohnung in der Nähe. Er kümmert sich weiter um Julius und will, dass sie zu ihm zurückkehrt.
April schreibt über einen alten Man und merkt, dass er ihrem Vater gleicht. Mit dem Text bewirbt sie sich um ein Literaturstipendium. (Sie ist 25). Mit ihrem neuen Freund Michael reist sie nach Sizilien und merkt, dass sie angesichts dieser südlichen Landschaft in Westberlin angekommen ist, denn ohne die Reisefreiheit hätte sie dieses Land nicht sehen können.
Klüssendorf hat angekündigt, dass es eine Fortsetzung geben wird. Darauf bin ich sehr gespannt, denn „April“ hat etwas von einem großen Entwicklungs- und Bildungsroman. Ich finde es spannend, dass man mitverfolgen kann, wie sich diese bindungs- und kommunikationsgestörte junge Frau durch Lesen und Schreiben die Fähigkeit aneignet, sich selbst aus dem Sumpf ihrer Gefühle heraus zu ziehen. Ich denke dann immer an Münchhausen, der sich auf seinem Pferd am eigenen Haarschopf aus dem Sumpf zieht...
Ich werde auf jeden Fall auch den ersten Teil: „Ein Mädchen“ lesen.
Brigitte
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