Katja Petrowskaja: Vielleicht Esther

Hier diskutieren wir über belletristische Bücher.
Eleonore Zorn
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Katja Petrowskaja: Vielleicht Esther

Beitrag von Eleonore Zorn »

Biografie:
Die 1970 in Kiew geborene Autorin hat an der sowjetischen Universität Tartu in Estland Literaturwissenschaft studiert und wurde 1988 in Moskau promoviert. Sie lebt seit 15 Jahren mit ihrem deutschen Mann in Berlin und arbeitet als Journalistin für deutsche und russische Print-Medien. Katja Petrowskaja hat für diese „Geschichten“ 2013 den Ingeborg-Bachmann-Preis erhalten.

Inhaltsangabe:
Deutsch lernte sie aus eigenem Entschluss, als ihr Bruder begann, Hebräisch zu lernen. Sie schreibt diese Reise in die Vergangenheit ihrer weit verzweigten Familie mit jüdischen Wurzeln in Deutsch und sagt darüber: „Dieses Deutsch war mir eine Wünschelrute auf der Suche nach den Meinigen.“
Es kommt dieser Recherche-Reise zu Gute, dass die Autorin in der russischen wie in der deutschen Sprache beheimatet ist, denn der Bilderreichtum beider Sprachen macht dieses Buch sehr anschaulich und lebendig. Die Großmutter Rosa zum Beispiel sang im Alter mehr und mehr „in einem obdachlosen Moll.“ Die Suche nach den Wurzeln der Familie in Wien, Warschau, Moskau, Kiew, Paris ist eine Reise in eine über lange Strecken von Krieg und Verwüstung gezeichnete Vergangenheit, die an den Gräbern von Babij Jar nicht endet, sondern in immer neue Verzweigungen mündet. Die Lücken im Kreise der Überlebenden der Familie bekommen Namen und Gesichter. An Hand von Dokumenten findet Katja Petrowskaja ihre Erinnerungen bestätigt, dass die meisten ihrer Vorfahren als Lehrer für taubstumme Kinder tätig waren und in ganz Europa viele Schulen für Gehörlose gründeten. Vieles kann die Autorin klären, vieles bleibt in der Schwebe, so auch die Frage, wie die Urgroßmutter hieß, die 1941 in Kiew zurückbleiben musste, da sie nicht transportfähig war. Sie wurde dort „mit nachlässiger Routine“ von deutschen Soldaten erschossen. Vielleicht war ihr Name Esther? Alle nannten sie einfach nur Babuschka.
Zuletzt geändert von Eleonore Zorn am Samstag 31. Mai 2014, 18:56, insgesamt 1-mal geändert.
Eleonore Zorn
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Re: Katja Petrowskaja: Vielleicht Esther

Beitrag von Eleonore Zorn »

Liebe Lesefreundinnen, liebe Lesefreunde,
da beschlossen wurde, dass wir ab Juni das Buch „Vielleicht Esther“ von Katja Petrowskaja lesen werden, habe ich in Absprache mit Erna die Biografie der Autorin und eine Inhaltsangabe eingestellt. Das Buch ist eine „fiktive Biografie“, denn die Autorin besaß zu Beginn ihrer Recherche nur wenige eigene Dokumente neben vielen Fragmenten zu Ereignissen ihrer Kindheit und zur Geschichte ihrer Vorfahren. So wird der Band zu einem Buch über die Frage, wie man mit Erinnerungen umgehen soll. Die Antwort könnte sein „unbefangen“, denn Gewissheiten gibt es selten und in der Familie von Katja Petrowskaja schon gar nicht.
Interessant für uns ist, dass die Autorin ausdrücklich die hilfreiche Rolle erwähnt, die dabei das Internet (und auch Ebay) spielt, denn so manche Spur hätte sie niemals ohne das World Wide Web gefunden und schon gar nicht so schnell.
Ich glaube, das kann ein mitreißendes Lese-Erlebnis werden und ich freue mich darauf.
HildegardN
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Re: Katja Petrowskaja: Vielleicht Esther

Beitrag von HildegardN »

Liebe Lesefreundinnen,
über Leonores ausgezeichneten Einführungsbeitrag habe ich mich gefreut und mich sogleich entschlossen, sobald es geht, im Forum mitzudiskutieren. Unsere umsichtige Stadtbibliothek nahm mein Vorhaben zur Kenntnis und stellte mir das gewünschte Buch schon vorzeitig zur Verfügung.
Zunächst fand ich es etwas schwierig, mich in das von der Autorin angekündigte Geschehen einzufinden. Der Weg zu Katja Petrowskajas Familienforschung erschien mir unwegsam und lang.
Als ich ihn schließlich entdeckte, trat auch sehr schnell die Großmutter Rosa ins Bild, und hier wurde ich sogleich mit der immer wieder bilderreichen Erzählkunst der Autorin konfrontiert, die meine Lesefreude weckte.
Das zweite Kapitel mit der Überschrift "Rosa und die Stummen" berichtet über das Engagement von Katja Petrowskajas Angehörigen aus den vorhergehenden sieben Generationen, die taubstumme Kinder unterrichteten, ihnen das Sprechen beibrachten und Schulen für sie gründeten. Und die Großmutter Rosa wird sehr beeindruckend beschrieben.
Ich bin gespannt, wie es weiter geht, und Spannung ist es, was nicht jedem Autor und auch nicht immer gelingt, aber den Leser immer wieder beflügelt...so auch diesmal mich.
Mit Grüßen aus Bad Homburg, Hildegard
Eleonore Zorn
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Re: Katja Petrowskaja: Vielleicht Esther

Beitrag von Eleonore Zorn »

Liebe Hildegard,
ja, ich finde auch, dass es ein bisschen Eingewöhnung braucht, bis man mit den Assoziationen der Autorin klarkommt. Sie wird von den Erinnerungen, den Vermutungen und den Ergebnissen der eigenen Recherche anscheinend oft total überflutet und schreibt dann spontan ihre momentanen Empfindungen nieder. Das wirkt anfangs etwas unruhig. Da Katja Petrowskaya aber in anderen Kapiteln immer wieder die Fäden aufnimmt, stellt sie die Zusammenhänge wieder her.
Das gibt dem Buch die Lebendigkeit und das Tempo, so empfinde ich es. So überwältigt mag sie zeitweise gewesen sein, als sie sich aufmachte, um irgendwelchen Hinweisen, Bruchstücken von Erinnerungen und spärlicher Eintragungen und Namen aus Archivunterlagen nachzugehen. Es schlug ab und zu alles über ihr zusammen und musste mühsam entwirrt werden.
Da ihr das Entwirren aber gelingt, findet man den Faden beim Lesen auch wieder.
Jedenfalls ist es im Gegensatz zum Buch "Stoner" ein sehr emotional geschriebenes Buch und als Vergleich sehr interessant. Ich lese diese Art des Schreibens lieber als nur eine Auflistung von Jahreszahlen und Fakten.
HildegardN
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Re: Katja Petrowskaja: Vielleicht Esther

Beitrag von HildegardN »

Liebe Literaturfreundinnen,
auf der Spurensuche in ihrer Familiengeschichte reist die aus Kiew stammende Autorin Katja Petrowskaja nach Polen. "Irgendwe wusste ich, dass meine Verwandten alle umgekommen waren", schreibt sie im dritten Kapitel (S. 109), das sie mit dem Titel "Mein schönes Polen" versehen hat. Diese Bezeichnung mag irritieren, wenn man bedenkt, dass viele ihrer Angehörigen und Verwandten dort ums Leben kamen.
Die Erklärung hierfür sehe ich in ihrer kurzen Einleitung (S. 91): "Als ich in Kiew aufwuchs, war Polen, unsere nächste Nachbarin, ein unerreichbares, schönes Ausland". Das kann ich nachvollziehen, denn ich wuchs im ehemaligen Freistaat Danzig auf, und die durch die Grenzen von mir getrennten Nachbarländer übten einen besonderen Reiz auf mich aus. Bei der Autorin kam noch die Liebe ihres Vaters zu seinem Nachbarland und dessen Kultur hinzu.
In diesem Kapitel werden die Leser mit einem der dunkelsten Geschehnisse der Geschichte des Zweiten Weltkriegs konfrontiert, die sich als "Warschauer Aufstand" und "Warschauer Ghetto" tief in unser Bewusstsein eingegraben haben.
Katja Petrowskajas Buch "Vielleicht Esther" ist nicht nur eine Dokumentation ihrer Erkenntnisse und erlebten Geschichten, mit denen sie bei der Erforschung der eigenen Familiengescichte konfrontiert wurde, sondern sie greift zugleich auch die Ereignisse und Folgen u n s e r a l l e r Geschichte, teils sogar "erlebter Geschichte" auf. Ich empfinde dies als Bereicherung.
Mit späten Pfingstgrüßen, Hildegard
Marlis Beutel
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Re: Katja Petrowskaja: Vielleicht Esther

Beitrag von Marlis Beutel »

Liebe Mitleserinnen,

1945 lernte ich einen serbischen Juristen kennen, der tadellos Deutsch sprach. Er hatte als Partisan gegen die Wehrmacht gekämpft und wurde dafür ins KZ gebracht. Später dachte ich oft, es sei unmöglich, in einer persönlichen Beziehung mit einem solchen Hintergrund klarzukommen. In den USA gewann ich einen ähnlichen Eindruck. Deshalb war ich völlig überrascht über Katja Petrowskajas Buch. Diese Autorin lernt als Erwachsene Deutsch und schreibt Geschichten über ihre Familie in deutscher Sprache!
Aber auch, wie diese Autorin schreibt, hat mich beeindruckt. Sie schafft es, ihr noch gar nicht ganz konkretes Suchen darzustellen und was sie dabei empfindet. S.30, 2. Absatz: "Als Lida, die ältere Schwester meiner Mutter, starb, habe ich begriffen, was das Wort Geschichte bedeutet." S.34 "Ich hatte sie nach nichts gefragt und frage mich nun, warum ich sie so vollständig verpasst habe..." Das kann man ohne weiteres nachvollziehen. Oder S.36/37 "Der kleinere Bruder von Will, mein Vater Miron, acht Jahre später geboren, trug den abgewandelten Namen des Großvaters Meir und hatte das Wort Jude im Pass stehen. Weil es für ihn kein Judentum mehr gab, wurde auch Miron zum Russen, Bürger einer Nation von Lesern. Auf seine Herkunft blickte er respektvoll und nachdenklich zurück, wenn auch bisweilen verwundert, was er damit zu tun haben sollte."

Grüße von der Bergstraße,
Marlis
Marlis Beutel
Eleonore Zorn
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Re: Katja Petrowskaja: Vielleicht Esther

Beitrag von Eleonore Zorn »

Liebe Marlis, liebe Mitleserinnen,

deine Überlegungen kann ich alle gut nachvollziehen. Besonders einleuchtend kommt mir dabei ebenfalls der Satz vor, den die Autorin in Bezug auf Miro äußert:
"Miro hatte das Wort Jude im Pass stehen. Weil es für ihn kein Judentum mehr gab, wurde auch Miron zum Russen, Bürger einer Nation von Lesern. Auf seine Herkunft blickte er respektvoll und nachdenklich zurück, wenn auch bisweilen verwundert, was er damit zu tun haben sollte."
So mag es vielen damals vertriebenen und ausgewanderten jüdischen Amerikanern, Russen usw. ergehen, besonders denen in der Nachfolge-Generation. Es ist gut, dass es das Buch von Katja Petrowskaja gibt, die sich stellvertretend für viele andere auf die Suche nach den Wurzeln gemacht hat.
Herzlich grüßt
Eleonore
HildegardN
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Re: Katja Petrowskaja: Vielleicht Esther

Beitrag von HildegardN »

Liebe Mitleserinnen,
Katja Petrowskaja beschreibt in ihrem Buch die Spurensuche nach Angehörigen und Verwandten, nach ihrer Familie, die auch ihre Leser mit in eine Vergangenheit führt, die allerdings nicht immer, und oft sogar wie bei der 1970 geborenen Autorin, die eigene erlebte Vergangenheit ist. Die Autorin entdeck t und erfährt auf ihrer Spurensuche von Schicksalen, vom Leben, Leiden und Sterben ihrer Angehörigen und Verwandten, vor allem in der Zeit des Zweiten Wweltkrieges. Sie beschreibt Ereignisse, Hintergründe und auch Abgründe, die vielen Lesern biser verborgen geblieben oder auch in dem geschilderten Ausmaß nicht bekannt geworden sind.
"Hitler hat die Leser getötet und Stalin die Schriftsteller, argumentierte einst Katja Petrowskajas Vater, als er das Verschwinden der jüdischen Sprache kommentierte und als Folge der Judenvernichtung bezeichnete:
Ich sehe die damalige Sitation und die Gewalt auslösenden Entscheidungen sowie Tod und Vernichtung auslösenden Maßnahmen der brutalen Gewaltherrscher als noch umfassender und weitreichender: Hitler verhinderte viele Informationen, noch bevor sie die Leser erreichen konnten, und Stalin verfolgte Autoren und Schriftsteller oft bereits, bevor sie ihm unliebsame oder die Leser aufklärende Informationen hätten veröffentlichen können.
Petra Petrowskajas Buch fordert durch ihre Berichte und Informationen die Leser zur Beschäftigung mit der Vergangenheit heraus; auch über die eigene Position in dieser Zeit.
Mit Grüßen aus dem Taunus; Hildegard
Marlis Beutel
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Re: Katja Petrowskaja: Vielleicht Esther

Beitrag von Marlis Beutel »

Liebe Mitleserinnen,

zur Zeit begreife ich nicht, wie man ein solches Buch lesen oder gar schreiben kann. Was da aufgeschrieben wurde, ist so ungeheuerlich, dass man ganz und gar nicht damit umgehen kann: Mutmaßungen über den Attentäter, den niemand wirklich versteht und der in der Familie totgeschwiegen wird und schließlich Babij Jar. Zugegeben, auch die täglichen Nachrichten sind selten wohltuend und hinterlassen Spuren. Aber die suchen wir uns nicht aus im Gegensatz zu Büchern.

Grüße von der Bergstraße,
Marlis
Marlis Beutel
Eleonore Zorn
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Re: Katja Petrowskaja: Vielleicht Esther

Beitrag von Eleonore Zorn »

Liebe Marlis,
gemessen an dem vielen unnützen Geschwätz über Fußball ist der Inhalt des Buches wirklich schwere Kost.
Ich sehe es aber so: Die Eltern und Großeltern waren nicht wirklich in der Lage, über das Unsägliche zu sprechen, es war aber trotzdem unbewusst in der Familie immer gegenwärtig und hat die Enkelgeneration auch noch belastet oder beunruhigt. Die Autorin hat sich auf den Weg gemacht, die unbekannten und halb bekannten Fakten ans Licht zu holen und "den Toten ein Gesicht zu geben" (wie sie selbst schreibt). Das war sicher nicht leicht. Nun haben wir uns die Aufgabe gestellt, das lesend zur Kenntnis zu nehmen, was Katja Petrowskaja über ihre Familie herausgefunden hat. Es ist auch ein Teil unserer Geschichte, da die Verfolgung der Juden ja hier ihren Anfang nahm.
Dass es auch in ihrer Familie so nebenbei schwarze und weiße Schafe gab, gibt dem Geschehen die Glaubwürdigkeit und die Nachvollziehbarkeit.
Vielleicht wäre es eher ein Buch für den November gewesen? Man wünscht sich im Sommer etwas "Leichtigkeit des Seins", wie Milan Kundera es ausdrückte. Das ist auch verständlich.
Ich gebe zu, dass ich das Buch auch noch nicht zu Ende gelesen habe, was bei mir eher die Ausnahme ist.
Mit nachdenklichen Grüßen,
Eleonore
HildegardN
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Re: Katja Petrowskaja: Vielleicht Esther

Beitrag von HildegardN »

Liebe Marlis,
ein Rückblick in unsere Vergangenheit ist oft nicht vergnüglich, sondern zeigt uns auch viel Grausamkeiten, Tod und Vernichtung. Es ist nicht leicht, sich dem zu stellen, wie z.B. als Leser dieses Buches. Auch die Autorin wird bei ihrer Spurensuche empfunden empfunden haben.
Wenn ich dieses Buch immer wieder auch mit persönlichem Interesse gelesen habe, so liegt dies wohl auch daran, weil ich ich mir bewusst ist, dass es auch meine Geschichte ist , von der ich viel zu wenig weiß, um manche der damaligen grausamen Handlungen und Geschehnisse beurteilen und ihre Folgen erkennen zu können. Wahrscheinlich bin ich härter bzw. robuster als Du, liebe Marlis, und kann mehr "verkraften".
Grüße aus Bad Homburg, Hildegard
Marlis Beutel
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Re: Katja Petrowskaja: Vielleicht Esther

Beitrag von Marlis Beutel »

Liebe Mitleserinnen,

danke für Euer Verständnis,

Marlis
Marlis Beutel
HildegardN
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Re: Katja Petrowskaja: Vielleicht Esther

Beitrag von HildegardN »

Liebe Mitleserinnen.
Soeben habe ich Katja Petrowskajas Buch, das ich mit steigendem Interesse gelesen habe, unserer Stadtbibliothek nach beendeter Leihfrist zurückgegeben. Besonders beeindruckt haben mich die darin beschriebenen Maßnahmen und Ereignisse aus dem Vorfeld und Verlauf des Zweiten Weltkrieges – geschildert aus der Sicht einer Angehörigen der Nachkriegsgeneration und einer anderen Nation - Trotzdem registrierte ich immer wieder eine persönliche Übereinstimmung.
Katja Petrowskajas Buch vermittelt den Lesern eine Begegnung mit unserer Geschichte. Sie informiert, erklärt und regt an. Mich hat sie angeregt, mich mit der eigenen oder mich berührenden Situationen und Ereignissen zu beschäftigen.
Hierzu gehörten auch die ständigen Bemühungen unserer Regierung, die deutschen Kriegsgefangenen heimzuführen und sie wieder in ein normales Leben zu integrieren.
Anders war es in der Sowjetunion, wie Katja Petrowskaja auf Seite 231 berichtet, als sie das Schicksal ihres Großvaters beschreibt, der nach vier Jahren deutscher Kriegsgefangenschaft erst 41 Jahre später zu seiner Familie zurückkehrte: „In Gefangenschaft zu geraten ist verboten, und wenn doch, ist es verboten zu überleben. Dies war eine der unausgesprochenen sowjetischen Kriegsaporien. Wer überlebt ist ein Verräter, und der Tod ist besser als Verrat. Deshalb ist, wer aus der Kriegsgefangenschaft zurückkehrt, ein Verräter und muss bestraft werden“
Den Wert eines Buches bzw. den Gewinn, den das Lesen eines Buches dem Leser vermittelt, kann er besten ermessen, wenn er es aufmerksam liest. Unsere Leserunde fördert dies und trägt durch laufende Diskussionen und einem regelmäßigen Austausch von Erkenntnissen, Meinungen und Beurteilungen des Gelesenen dazu bei.
Beim Lesen dieses Buch ist es oft nicht leicht, angesichts der beschriebenen mitunter sehr schrecklichen Geschehnisse „am Ball zu bleiben“. Aber ich bin der Meinung,ich musste es tun, um mehr zu wissen und z.B. auch die späteren Auswirkungen, die Spätfolgen besser erkennen und beurteilen zu können.
In diesem Sinne herzliche Grüße aus Bad Homburg, Hildegard
Erna
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Re: Katja Petrowskaja: Vielleicht Esther

Beitrag von Erna »

Hallo, liebe Diskutierende,
endlich konnte ich mit dem Buch beginnen, da ich es gestern erhalten habe. Da es ein sehr neues Buch ist, im März erschienen, konnte man sich nur auf die Besprechungen und Rezensionen verlassen, von denen es noch nicht allzu viele gibt,
So weit zur Auswahl. Dieses Jahr ist ja ein sehr politisches Jahr, 100 Jahre 1. Weltkrieg, 1200 Jahre Karl der Große usw. da sind es leicht politischere Themen, an die man geraten kann.
Mir persönlich, ich bin erst auf Seite 40, hat zunächst die Einführung sehr zugesagt, also wie sie Sam und seine Frau trifft. Dann habe ich das Gefühl, dass K.P. sich so ein bisschen selbst ironisch betrachtet mit ihrer Suche nach den Wurzeln. Meines Erachtens ist es bei allen, die ihre Heimat verlassen haben so ähnlich. Es gibt eine Zeit, in der man so viel zu tun hat, dass man gar nicht daran denkt und dann ist die Frage nach der Vergangenheit so intensiv, dass man sich oft damit beschäftigt. Mir geht es so, und meist ist dann niemand mehr da, den man fragen kann.
Im Augenblick ist der Gebrauch der englischen und russischen Redewendungen im Text noch sehr interessant und authentisch, ich hoffe allerdings, dass es nicht so bleibt, denn dann wirkt es ermüdend.
Alles Liebe
Erna
Eleonore Zorn
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Re: Katja Petrowskaja: Vielleicht Esther

Beitrag von Eleonore Zorn »

Liebe Hildegard,
ich danke Dir, dass Du auf diesen Absatz im Buch hingewiesen hast:
„In Gefangenschaft zu geraten ist verboten, und wenn doch, ist es verboten zu überleben. Dies war eine der unausgesprochenen sowjetischen Kriegsaporien. Wer überlebt ist ein Verräter, und der Tod ist besser als Verrat. Deshalb ist, wer aus der Kriegsgefangenschaft zurückkehrt, ein Verräter und muss bestraft werden“"
Da mein Vater erst 1947 aus russischer Kriegsgefangenschaft zurückgekommen ist, bin ich nachträglich noch froh, dass diese Auffassung hier in Deutschland offensichtlich nicht vorherrschte. Wie hätte mein Vater damit leben sollen? Endlich daheim bei der verloren gegangenen Familie, dann die Anstrengungen des Neuanfangs mit Nichts - und dann hätte er sich auch noch schämen sollen, überlebt zu haben? Das ist das Erschütternde an Katja Petrowkayas Buch: Dass sie uns diese Dinge vor Augen führt, die man ja bei uns so selten erfährt, obwohl natürlich einige Historiker sicher davon wissen und sicher auch darüber geschrieben haben.
Auch wegen dieser unmenschlichen Auffassung, wie sich ein Überlebender zu fühlen hat, ist das Leben und Überleben in der Sowjetunion für die Menschen so schwer gewesen. Es erklärt so manches, was uns vielleicht bisher etwas rätselhaft war. Die Autorin hat uns in vieler Hinsicht die Augen geöffnet, manchmal nur zwischen den Zeilen. Manchmal erschütternd deutlich.
Wie gesagt, kein Sommerbuch, aber ein lesenswertes Buch.

Eleonore
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