_
  [ Online-Journal "LernCafe" ] [ZAWiW] [ SoLiLL ] [ Chat ]
_ _ _
  Dreieck nach obenGemeinsamLernen  
_ _ _
  Dreieck nach obenLerngruppen Logo ZAWiW
_ _
  Dreieck nach obenGemeinsam Lesen
_ _ _
    Dreieck nach obenWebseiten  
_ _ _ _
    Dreieck nach obenLeserunden  
_ _ _ _
    Dreieck nach obenAlte Leserunden  
_ _ _ _
    Dreieck nach obenLeserunde 5 - 2  
_ _ _ _
    Dreieck nach obenArbeitsraum  
_ _ _ _
    _Andrzej Stasiuk  
_ _ _ _
_
_  
_
_ Zurück - Inhalt
_ _
_ _
_ _
_ _ Biographisches
_ _
_ Hintergrundwissen
_ _
_ _ Interview
_ _
_ _ Weitere Werke
_ _
_ _
_

Der weiße Rabe

"Der weiße Rabe" erschien 1995 in Polen, 1998 bei Rowohlt auf Deutsch.

Sie sind voll von verkrachten Existenzen, von Menschen am Rande der Gesellschaft, die nicht dazugehören oder nicht dazugehören wollen.
Dem Autor eilt der Ruf eines "Machos" voraus; darauf angesprochen lächelt er verschmitzt ein Lächeln, das überhaupt nichts Machohaftes an sich hat und meint, es seien nur die Medien, die ihm diese Eigenschaft angedichtet hätten. Und er macht gar nicht den Eindruck, als ob die Medien dabei Recht hätten. Auf die Frage nach der Frauenfeindlichkeit seiner Bücher antwortet er - völlig zu Recht -, man könne sie auch als männerfeindlich betrachten, alle männliche Gestalten in seinen Texten seien ebenfalls kaputt.
Wenn man jedoch die Literatur nach Geschlecht unterscheiden kann, handelt es sich bei den Büchern von Stasiuk zweifellos um Männerliteratur. Frauen treten dort nur am Rande auf und nur aus der Perspektive der männlichen Helden. "Männerliteratur" - weil sie Männerwelten schafft, weil sie von Männern handelt, aber sicherlich nicht nur für männliche Leser interessant ist.

Eine Kurzbeschreibung:
"Wer hat nicht schon mit dem Gedanken gespielt, wenigstens für zwei Wochen aus der Welt zu verschwinden? Fünf Jugendfreunde im postkommunistischen Warschau, 'gut dreißig, Nachkommenschaft auf dem Hals', brechen ins Ungewisse auf.Ihres Alltags überdrüssig, lassen sie sich von Wasyl Bandurko, dem gescheiterten Pianisten, zu einem Abenteuer überreden, das sie in das wilde, spärlich besiedelte Gebiet an der polnisch-slowakischen Grenze führt. Nicht alle kennen den Zweck des Ausflugs: Bandurko will seinen eigenen Tod inszenieren."
(Quelle: AMAZON.DE)

"Mein armes, mein stolzes, mein wundervolles Polen"

Andrzej Stasiuk äußert sich in diesem Beitrag über die aktuelle Situation, in der sich sein Heimatland befindet:

"08. Mai 2003 Seit Stunden will ich mich an diesen Text machen, aber ich habe Probleme, den richtigen Ton zu finden. Das Thema ist zweifellos von internationaler, vielleicht weltweiter Dimension, also sollte ich zweifellos ernst bleiben. Ich bin jedoch kein Experte in Sachen Politik, ich bin nur Bürger meines Landes. Seit über vierzig Jahren lebe ich in Polen, und ich hatte bisher den Eindruck, wir hätten das Schlimmste hinter uns, das Groteske und das Absurde seien in die Vergangenheit abgetreten und für immer in Slawomir Mrozeks Stücken konserviert. Ich habe mein Land unterschätzt und bitte um Verzeihung.

Mein Land besetzt den Irak. In den Zeitungen steht zwar, 'wir übernehmen die Führung in einer der Stabilisierungszonen', doch nach der neuesten Mode darf sich auch eine ganz gewöhnliche motorisierte Division 'Friedenstruppe' nennen. Der Einfachheit halber möchte ich aber lieber bei den alten, dem europäischen Ohr vertrauten Bezeichnungen bleiben. Polen besetzt also den Irak, weil es den Krieg gegen ihn gewonnen hat. Wie allgemein bekannt ist, war der Irak seit Jahrhunderten der größte Feind Polens, hatte es schon immer auf seine Freiheit, auf seine unermeßlichen Reichtümer und seine in der ganzen Welt bekannten strohblonden Frauen abgesehen.

Der Irak an unserer Grenze

Der größte Traum des Iraks (das weiß jedes Kind) war die Zerstörung unserer tausendjährigen Kultur und Zivilisation, die Einverleibung der Ergebnisse unserer fruchtbaren Arbeit, unserer eleganten Autos sowie die Kastration der gesamten männlichen Bevölkerung, um sie in den Harems von Bagdad als Eunuchen zu benutzen. Der Irak stand an unserer Grenze und raubte uns den Schlaf, wir schliefen mit Gewehren unterm Kopfkissen und Lebensmittelrationen in Reichweite. Eingedenk unserer tausendjährigen pazifistischen Tradition haben jedoch nicht wir den ersten Schritt getan. Schöpfen wir doch unseren nationalen Stolz daraus, daß wir nicht angreifen, sondern angegriffen werden.

Doch jetzt war das Maß voll. Als das heimtückische Babylon eingesehen hat, daß es mit uns nicht weiterkommt, weil wir wachsam und auf der Hut sind, hat es unseren besten und einzigen Freund jenseits des Ozeans angegriffen. Perfide, wie der Orient ist, hat es ihn zu allem Überfluß zuerst auf das eigene Territorium gelockt und dann hinterlistig zum Schlag ausgeholt.

Das konnten wir nicht durchgehen lassen. Nicht umsonst standen auf den historischen Fahnen, die wir in unseren heldenhaften Kriegen hochhielten, die Worte "Für unsere und eure Freiheit". Wir sandten also dreihundert tapfere Soldaten und ein mutiges Schiff, und Babylon fiel. Und jetzt besetzen wir es. Das heißt, wir stabilisieren es. So sieht die historische Gerechtigkeit aus, und wir können zum ersten Mal seit Jahrhunderten wieder ruhig schlafen. Nur Tropenhelme und Glasperlen zum Tauschen brauchen wir noch, die haben wir vergessen. Ich hoffe, daß der Geist Alfred Jarrys, des Verfassers des "König Ubu", sich im Jenseits tödlich langweilt und Zeit findet, einen Blick auf diese Szenerie zu werfen.

Ein anständiger Krieg

Nichts wirkt sich so positiv auf das Selbstwertgefühl aus wie ein anständiger Krieg und eine ordentliche Okkupation. Vor allem einige tausend Kilometer von zu Hause entfernt, vor allem an der Seite eines Größeren und Stärkeren. Man sendet einige hundert Soldaten und ein Schiff, und schon bahnt sich eine wundersame Wende des Schicksals an: Mein Land steigt von der verarmten Peripherie Europas zu einem Partner auf, der, wenn er die Karten auch noch nicht verteilt, sie immerhin schon mischt. So kommt es jedenfalls denjenigen vor, die - ohne jemanden nach seiner Meinung zu fragen - diese Soldaten geschickt haben.

Ja, mein Land ist ein Land voller Wunder: dramatische Arbeitslosigkeit, wirtschaftlicher Kollaps, eine korrupte, arrogante Regierung mit zweifelhafter Vergangenheit, eine geplagte Gesellschaft, die nur damit beschäftigt ist, ums Überleben zu kämpfen, eine Politik auf Mafia-Niveau, Armut, Frustration, demonstrativer Reichtum aus schmutzigen Quellen, Bettelei, ein Leben von einem Tag auf den anderen und absolut keine Idee, wie es weitergehen könnte...

Mit Ausnahme des Krieges, den wir gewonnen haben, und der Okkupation - Seite an Seite mit Albion und der Weltmacht. Wir haben das Unsere getan, jetzt können wir nur noch warten, bis andere für uns das tun, was unsere Aufgabe wäre, das heißt, dieses Land in einen halbwegs anständigen Zustand zu bringen. Aber einen Krieg zu gewinnen ist einfacher, als sich regelmäßig zu waschen, nicht zu lügen, nicht zu stehlen, ehrliche Geschäfte zu machen, Neid und Haß im Zaum zu halten, statt des eigenen Vorteils ab und zu den Anstand zu wählen und auf der Straße nicht so laut zu fluchen.

Ausschau nach der Hintertür

Ja, mein Land besetzt den Irak, weil es in Europa seinen Platz nicht finden kann. Bevor es noch richtig in Europa angekommen ist, hält es schon Ausschau nach einem Seitenausgang, nach einer Hintertür, durch die man sich aus dem Staub machen kann, wenn die Pflichten zu beschwerlich werden, der Nutzen nicht den Erwartungen entspricht oder - o Graus! - womöglich der Stolz verletzt wird. Es ist einfacher, den Irak zu besetzen, pardon, zu stabilisieren, als - selbst im stillsten Kämmerchen - zuzugeben, daß man selbst eine europäische Stabilisierung bräuchte, die hier übrigens ebenfalls oft als Okkupation bezeichnet wird.

In den bauernschlauen Hirnen der Regierenden kann man alle polnischen Komplexe und Unarten wie in einem Spiegel betrachten: das ständige Bedürfnis, die Wirklichkeit zu überlisten, das "Kombinieren", daß es schon irgendwie klappen, daß man es irgendwie hinkriegen wird, das Verwechseln der eigenen Vorstellungen mit dem wirklichen Bild von der Welt, das ewige Mißtrauen des Schwächeren, daß er betrogen wird und sich absichern muß, die Angst, sich lächerlich zu machen, die verhindert, die eigene Dummheit wahrzunehmen, der fiese Glaube, man könne ein gutes Geschäft machen, indem man selbst rein gar nichts investiert und als Zugabe noch den Partner übers Ohr haut.

Slawischer Fatalismus

Doch einen Trost gibt es in dieser ganzen Geschichte: Eigentlich hat mein Land mit Krieg und Okkupation nichts am Hut. Der Irak geht die Polen einen feuchten Kehricht an. Die Regierung könnte ebensogut Burkina Faso oder den Kapverdischen Inseln den Krieg erklären oder die nächste Reform der staatlichen Finanzen verkünden. Der Effekt wäre ungefähr der gleiche, das heißt, so gut wie keiner. Das Volk übersteht all das mit dem ihm eigenen slawischen Fatalismus, beschäftigt mit seinen eigenen Dingen. Denn das Volk weiß genau, daß auch diese Regierung, wie alle vorhergehenden, einmal abgelöst werden wird. Und die nächste wird, wie das bei uns Tradition ist, ihren Vorgänger so radikal diskreditieren wollen, daß sie aller Wahrscheinlichkeit nach Amerika den Krieg erklären und ein Bündnis mit der Antarktis schließen wird.

Um meine Laune etwas zu heben, habe ich vorhin das Radio eingeschaltet. Und da sagte einer unserer Minister: "Unsere Anwesenheit im Irak ist von großer Bedeutung, denn wir haben enorme Erfahrung auf dem Gebiet der Transformation." Mit diesem optimistischen Akzent möchte ich mich von Ihnen verabschieden. Gute Nacht."

Quelle: Onlineangebot der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (bitte klicken): FAZ.NET