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[Werner Toporski: Die ersten Engländer]

Werner Toporski

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Kriegsende

Es war die Nacht vom 15. auf den 16. April 1945, wenige Wochen vor Kriegsende. Ich war fast elf Jahre alt, und wir wohnten in einer kleinen Stadt, Fürstenwalde, etwa fünfzig Kilometer östlich von Berlin. Man hatte mich geweckt, und jetzt hörten wir, Vater, Mutter, Schwester, Großmutter und ich versammelt im Esszimmer jenes Geräusch. Es klang wie ein Motor, vielleicht mehr dröhnend, wie ein andauerndes Donnern, nicht einmal laut. Und dann sagte mein Vater: Trommelfeuer! – Ich hatte Mühe zu begreifen, dass das mich betraf. Dass jetzt, genau in diesem Moment, unser aller Leben eine radikale Wendung nehmen würde, dass nichts, aber auch gar nichts so bleiben würde, wie es war, das war noch fern von mir.

Der nächste Tag, begann nicht ungewöhnlich. Das Geräusch war verstummt und man vernahm wenig von der vierzig Kilometer entfernten Front. Aber dann gab es Großalarm. Unaufhörlich heulten die Sirenen auf- und abschwellend, vermittelten durchdringend die Größe der Gefahr. Wie so oft schon bei Luftangriffen auf Berlin gingen wir in den Keller. Und dann, anders als sonst, wo Fürstenwalde niemals direkt angegriffen worden war, die ersten Detonationen. Nicht nah, noch galten sie nicht uns. Nah genug aber, um zu spüren, dass jetzt der Krieg uns ganz persönlich erfasst hatte, wir mitten in ihn hinein geraten waren. Die Detonationen hörten nicht auf, aber merkwürdigerweise blieb alles in der Ferne, kam nicht näher. Nach und nach traute sich der eine oder andere hinaus, und irgendwann kam jemand mit der Nachricht, an der Bahn flöge ein Munitionszug in die Luft. Nach Stunden ebbte es ab und wir verließen den Keller.

Und dann der Abend. Und jetzt bricht es wirklich über uns herein, ohne Vorwarnung. Bomben krachen herab, jagen uns die Treppe hinab, in den Schutzraum hinein. Ich weiß nur noch die Angst, sehe mich nur noch mit einem Kissen über dem Kopf in einem Korbsessel sitzen, verspüre das Schwanken des Bodens, das Krachen der Detonationen, nah, näher, ganz nah. Ich weiß nicht, ob jemand schrie, ob jemand weinte, weiß nicht, was ich selber tat, weiß nichts von einem Zeitablauf. Die Zeit ist im Augenblick höchsten Schreckens angehalten worden und bleibt jetzt dort stehen. Die Gefahr überwältigt einen, man ist unfähig, etwas anderes zu tun, als in Angst zu verharren, unfähig zu beurteilen, was wirklich geschieht: Steht das Haus noch? Ist es getroffen? Ist es zerstört? Brennt es? - Man weiß es nicht. Man kann auch nicht darüber nachdenken, man kann überhaupt nicht denken, denn was einem da geschieht, entzieht sich jedem Gedanken, jeder Vernunft, ist außerhalb aller Vorstellung. Es ist Chaos. Die Hölle als ein Ort immerwährenden Schreckens muss Ähnliches bereit halten.

Erst als die Explosionen nachlassen, schließlich aufhören, beginnt wieder Zeit.

Die Treppe hinauf, ins Freie, es riecht nach Rauch. Aber das Haus steht. Rot flackert der Himmel von Bränden, die Straße übersät von Schutt, dem Haus gegenüber fehlt der Giebel. Die Zimmer oben voll Staub und Scherben, die Fensterrahmen leer. Auch diese Nacht schlafe ich, trotz allem, wenn auch im Keller, auf zwei zusammengeschobenen Sesseln.

Der Tag ging herum, ich weiß nicht wie. Der Abend kam, und der Schrecken kam zurück. Von diesem zweiten Angriff weiß ich nur, dass er geschah, sonst nichts, die Angst hatte mein Gedächtnis zugeschnürt. Vielleicht sind die zwei Bombennächte auch in der Erinnerung zu einer einzigen verschmolzen, das Grauen jedenfalls war nicht kleiner, man gewöhnt sich da an nichts. Nur dass man am Ende sagte, die Innenstadt brenne, blieb mir haften. Und auch den folgenden Tag erlebte ich wie in Trance. Mittags aßen wir in einem Gasthaus gegenüber - ich habe keine Ahnung, wie in diesem Chaos ein Gasthaus noch Essen servieren konnte! - Ich höre noch ein Flugzeug, ein Maschinengewehr knattert, ein Geschoss fährt durch's Fenster und haarscharf am Kopf meiner Schwester vorbei. Und wieder das Erstaunen, dass das mich betraf!

Ich sehe mich Rad fahren, mit Mutter und Schwester. Strahlender Sonnenschein, das ist das einzige, an das ich mich erinnere. Wir haben unsere selbst verfertigten Rucksäcke mitgehabt, ich weiß es nicht mehr. Wir müssen uns von meiner Großmutter verabschiedet haben, ich weiß es nicht mehr. Ich habe sie dabei zum letzten Mal gesehen, ich erinnere mich nicht. Wir sind durch Gelände, übersät mit Bombentrichtern gefahren, ich habe sie kaum wahrgenommen. In ihnen sollen Leichen gelegen haben, und ich weiß es nicht. Ich weiß überhaupt nicht mehr, wie ich von Fürstenwalde nach dem zehn Kilometer entfernten Bad Saarow gekommen bin.

Später setzt meine Erinnerung wieder ein. Wir sind in einer alten Villa nicht weit vom Scharmützelsee, in der uns irgendein Bekannter meiner Eltern eine vorübergehende Bleibe eingeräumt hat. Im Garten sind Schützengräben ausgehoben. Das sei sicherer als ein Keller, heißt es, denn draußen könne man nicht verschüttet werden. Immer noch ist das Wetter schön. Haben wir Gefechtslärm gehört? - Tagsüber wohl weniger.

Abends. Es ist der neunzehnte April, Vorabend von "Führers Geburtstag", und an die Geburtstagsrede von Goebbels erinnere ich mich gut: "Deutschland wird auferstehen...", und an den bissigen Kommentar meiner Eltern: "Bleibt ihm ja auch nichts anderes übrig, so kaputt, wie es ist!" Dämmerung. Schießen ist zu hören, wir sind im Haus. Später brennt trübes Licht, und meine Eltern gehen unruhig hin und her. Ich weiß, wovon sie sprechen, wenn sie uns fern genug meinen: Sie sprechen von Gift, und sie sprechen von Erschießen, denn mein Vater hat eine Waffe. Ich weiß, dass sie sich mit beidem versehen haben, auch den Namen des Gifts kenne ich: Zyankali.

Sie hatten uns in den Wochen zuvor eingeweiht, so wie man Kindern ganz wichtige Dinge erklärt. Ich wusste, dass für die ganze Familie Gift bereit war. Ich fand nicht einmal etwas Ungewöhnliches daran. Die Angst vor den Russen war so groß, dass selbst dieses letzte Mittel, ihnen zu entkommen, logisch schien. Noch immer erinnere ich mich an das Gefühl der Grenzsituation, an das wahrhaft Gespenstische der Szene mit dem trüben Licht, den auf und ab gehenden Eltern, die schon entschieden hatten, anders entschieden, zögerten, hofften, unfähig zu rationaler Wahl des Handelns, weil alles sich dem Zugriff der Vernunft entzog. Dieser Ritt hart am Abgrund und mit dem Gefühl angsterfüllter Gespanntheit: Noch heute steht er mir plastisch vor Augen.

Zurück im Schützengraben, der Lärm ist heftiger geworden. Die Dunkelheit ist hereingebrochen und über Fürstenwalde färbt sich der Himmel rot. Die Russen würden kommen. Und das letzte Bisschen Hoffnung bäumt sich auf: Gab es nicht vielleicht doch die Wunderwaffe, von der so viel geredet wurde? Hatte Hitler mit den V1 und V2-Raketen nicht gezeigt, dass Deutschland noch nicht am Ende war? Konnte es nicht doch sein, dass in letzter Minute...? Solche Gedanken gingen durch mehr Köpfe, als man heute glauben mag. Aber es waren keine Gedanken, es war keine Logik, es war die pure Verzweiflung, die sich weigerte, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen. Es ist ruhig im Garten, kein Hauch regt sich. Ein Wind streicht durch die Bäume, und in dieser Stille wirkt er unnatürlich, fremd. Und meine Mutter: "Ob das nicht vielleicht von der Wunderwaffe kommt...?"

Die Stunden verrinnen. Mein Vater ist nicht bei uns im Graben geblieben. Über ihn erreichen uns Informationen, Gerüchte: Am Bahnhof stünden Busse, die Frauen und Kinder aus der Gefahr bringen sollten. Es mag Mitternacht sein, als wir die Rucksäcke nehmen und uns aufmachen. Die Straßen menschenleer, am Bahnhof nichts. Enttäuscht gehen wir zurück, stehen unschlüssig am Gartentor. Da nähert sich ein Bus. Wir winken wie wild, er hält. Das Kennzeichen: SS. Wir fragen, ob er uns mitnimmt, der Fahrer bejaht, er brächte Frauen und Kinder aus der Kampfzone. Wir steigen ein, mein Vater mit uns, der Bus ist noch fast leer. An einem Bunker füllt er sich. Es ist Morgen inzwischen. Mein Vater kann - will! - keinem Kind, keiner Frau den Platz wegnehmen. Er steigt aus. Ich hatte ihn zum letzten Mal gesehen.

Dann Schlaglichter nur noch: Es sind zwei Busse inzwischen. Ein Ort, eine kleine Stadt, zu der man uns bringen wollte. Ein Platz, der Markt vielleicht, Leute, die uns sagen, hier würde schon hinein geschossen. Weiter! Eine Ausfallstraße von Berlin her, Baumstämme liegen schon als Panzersperre quer über der Straße, kein Durchkommen. Umdrehen! Irgendwo ist es doch gelungen, wir fahren. Am Straßenrand tote Pferde, ausgebrannte Autos, Wracks aller Arten, das Ergebnis von Tieffliegerangriffen. Angst: Der Bus ist voll bis zum Bersten, keiner käme bei einem Angriff hinaus. Ein paar Tage Ruhe auf einem Rittergut. Ein Teil von uns liegt in einem Gasthof des Nachbardorfs, eine Bombe fällt hinein, Tote. Meine Mutter backt einen "Ein-Ei-Kuchen". Am Abend geht es weiter. Nacht, die Straßen gestopft mit Heereslastern, alle voller Soldaten, alle Richtung Westen. Um zwölf Uhr beginnt mein elfter Geburtstag, man gratuliert, ich esse ein Stück Ein-Ei-Kuchen: fantastisch! Morgens in Bad Oldesloe, am Bahnhof brennt ein Ölwaggon, schwarze Rauchwolken. In Wakendorf werden wir in einem Gasthofsaal einquartiert. In einer Molkerei gibt es Käse, wir holen ein großes Stück, eine Woche lang essen wir Käse mit Butter, Brot haben wir nicht. Die Fahrer schrubben mit Sandpapier das SS-Zeichen vom Nummernschild und ersetzen es durch eine zivile Nummer. Im Radio hören wir: "Der Führer ist an der Spitze seiner Truppen im Kampf um Berlin gefallen..." Ich glaube es und trauere um ihn: ein Held! Dann hängen aus den Fenstern weiße Fahnen, die Engländer kommen.


Werner Toporski