Im Büßerhemd nach Canossa
		Und noch ein Buch im Jubiläumsjahr über Canossa
		In diesem Jahr gibt es viele Ausstellungen zum Mittelalter. 
		Dementsprechend viele Ausstellungskataloge natürlich. Auch ein kleines 
		aber feines Buch über Canossa, den legendären Gang Heinrichs IV. nach 
		Canossa ist erschienen. Eine moderne Deutung dieses legendären Gangs für 
		Fachwissenschaftler und breite Leserkreise. Der Autor, Stefan Weinfurter 
		ist Historiker, Professor für Mittelalterliche Geschichte an der 
		Universität Heidelberg.
		
		Jahrestag
		Am 7. August diesen Jahres jährte sich nun also zum neunhundertsten 
		Mal der Todestag Heinrichs IV. Sein Name steht für einen epochalen, 
		dramatischen Konflikt zwischen dem römisch-deutschen Königtum bzw. 
		Kaisertum und dem Papsttum, bekannt natürlich auch unter dem Titel 
		Investiturstreit. Dieser Begriff, so wird am Ende dieses Buches klar 
		sein, ist eine unzureichende Bezeichnung für eine Auseinandersetzung, 
		die für eine langwährende und europäische Zäsur sorgen sollte. Eine 
		Auseinandersetzung, die anfangs noch recht begrenzt für Spannungen 
		sorgte, sich  dann aber doch recht schnell zu einer grundsätzlichen 
		Frage nach der rechten Zuordnung von weltlicher und geistlicher Gewalt 
		entwickelte.
		
		
		
		Das Thema
		Was war geschehen? Eine Antwort auf diese Frage gibt natürlich das 
		hier vorgestellte Buch. Entscheidend scheint mir aber, wie der Autor 
		versucht, weniger die politische Geschichte, als den gesellschaftlichen 
		Wandel der Zeit des Investiturstreits und die dahinter stehenden Ideen 
		zu beschreiben und dem Leser nahe zu bringen. Natürlich erfahren wir 
		auch, was zum Kirchenbann Heinrichs, zur Exkommunikation und zur 
		abenteuerlichen Reise nach Oberitalien, zur Burg Canossa im Winter 1077 
		führte. Ebenso erfahren wir, dass und wie der König wieder aufgenommen 
		wurde in die Gemeinschaft der Gläubigen und wie er auch wieder seine 
		Stellung im Reich stärken konnte. Es folgen drei Jahrzehnte sich 
		hinziehende wechselvolle Kämpfe. Jedoch, er wird unterliegen. Die 
		Einigung zwischen Reich und Kirche fand ohne ihn statt. Er starb, vom 
		eigenen Sohn aus der Herrschaft gedrängt und, wiederum, unter dem 
		Kirchenbann.
		
		Inhalt
		Das Thema wird eröffnet mit einer weit angelegten Darstellung über 
		die Ereignisse 1076/77. Sodann folgen 10 systematisch angelegte Kapitel. 
		Darin beschreibt der Autor die Entwicklung seit Heinrich III., die 
		zerbrechende Einheit unter Heinrich IV., dazu die Wandlungen in der 
		Gesellschafts- und Herrschaftsordnung, das Papsttum unter Gregor VII., 
		dessen Anspruch auf Gehorsam „im gesamten römischen Erdkreis“, das 
		Verhältnis zwischen Heinrich IV. und den Bischöfen, den Wertewandel und 
		das neue Königsideal, den Kampf der Könige und das Ende Gregors VII., 
		das Investiturproblem und seine Entwicklung und schließlich den Verrat 
		Heinrichs V. Es endet in der Schlussbemerkung mit der Aussage, dass 
		„Canossa“ nicht nur das Ereignis vom Januar 1077 bezeichnet, sondern 
		auch eine „historische Chiffre“.
		
		Entzauberung der Welt
		Wofür also steht Canossa 1077? Für eine Entzauberung der 
		frühmittelalterlichen Einheitswelt, für einen Prozess der zunehmenden 
		Differenzierung. War bis dahin Kirche und Staat, geistlich und weltlich 
		nahezu eine Einheit, so driftete mit Heinrich IV. und den durch ihn 
		provozierten Konflikt zwischen Königtum und Papsttum das Reich und 
		Europa in eine Trennung hinein, die im 12. Jahrhundert den dann 
		auszumachenden Realitätsschub hervorbringt. In dem Maße wie sich das 
		Papsttum genötigt sah seinen Anspruch auf die Weltherrschaft zu 
		formulieren, entsakralisiert sich das Königtum. So musste unweigerlich 
		eine neue gesellschaftliche Ordnung entstehen. Diese durch eine 
		Rationalisierung von Herrschaft veränderte Welt, lässt sich eben am 
		besten mit dem Begriff von einer Entzauberung der Welt im Sinne von Max 
		Weber beschreiben.
		
		Was auch nicht fehlt
		Das, so mag nun die geneigte Leserschaft befürchten, hört sich doch 
		sehr trocken an. Aber mitnichten! Es fehlt nicht an Details um die 
		Alpenüberquerung im frostklirrenden Januar 1077 vor die Burg Canossa, in 
		die sich der Papst vor dem König geflüchtet hat. Auch die Rituale des 
		reuigen Büßers zur Lösung vom päpstlichen Bann bekommen wir Leser auf 
		fesselnde Weise dargestellt, so dass allen am Ende klar wird – dies ist 
		eine erzwungene Vergebung, eine Erpressung, die beide Seiten erkennen 
		und akzeptieren. Ganz nebenbei erkennen die Leserinnen und Leser das 
		politische System der salischen Königsherrschaft  und den überzeitlichen 
		Konflikt zwischen geistlicher Macht und weltlicher Herrschaft. Dies war 
		letztlich das Ansinnen des Autors.
		
		Titelnachweis
		
		
		Stefan Weinfurter
		Canossa. Die Entzauberung der Welt
		C.H. Beck Verlag, München 2006, 19,90 €