Literatur trifft Web 2.0
                                     von Ursula Fritzle
Seit Anfang des Jahres verbindet das Internet Neuerscheinungen und deren Autoren, z.B. Jonathan Littell und Martin Walser mit Literaturkritikern und Redakteuren. Aber es kommt noch besser: Wir, die Leser, dürfen ebenfalls mitreden.

Im Frankfurter Allgemeine Lesesaal

IllustrationHat die F.A.Z. wirklich einen Raum, in dem man Littell und Walser treffen kann? Dazu Literaturkritiker und Zeitungsleser? Wohl eher nicht. Im weitesten Sinne vorstellbar, Herr Walser und Herr Littell wollten in den Archiven der F.A.Z. recherchieren. Aber nein, das ist nicht plausibel, dazu haben sie keine Zeit. Schon wegen der TV-Auftritte, Lesereisen und Buchmessentermine. Das jüngste Werk muss vorgestellt werden.

Neue Wege
Die Verlage wachsen über sich selbst hinaus. Sie erlauben nicht nur wie gehabt den Vorabdruck ihrer Neuerscheinungen in der F.A.Z., sondern gestatten sogar die Teilhabe an ihren Autoren und deren Bücher im Lesesaal der Tageszeitung. In den virtuellen Regalen des Internet-Raumes stehen zum Beispiel das hochpolitische Buch von Jonathan Littell: „Die Wohlgesinnten“ und Martin Walsers Goetheroman „Ein liebender Mann“.

Geräusche erlaubt
Bis vor kurzem hieß das neue Gebilde
noch „Frankfurter Allgemeine Reading Room“. Trotz guter Kritiken war aber die deutsch-englische Mischung des Namens von Anfang an heftig umstritten. Jedenfalls wollten viele Leser hierzulande den Raum in ihrer Muttersprache benannt sehen. Die F.A.Z. hat sich dem Leserwillen gebeugt. Was mir besonders gut gefällt: man kann an diesem neuen virtuellen Ort sogar hören, und zwar neben Sprache auch Musik. Wo doch in den heiligen Bücherhallen der realen Welt höchstens einmal geflüstert werden darf. Allerdings gibt es heutzutage auch geräuschvollere Etablissements.

Zum Bestand gehört Walsers Goethe-Roman

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Screenshot aus der Website

Im Lesesaal kann natürlich gelesen werden: 40 Folgen des Romans „Ein liebender Mann“ von Martin Walser. Felicitas von Lovenberg schreibt unter dem Titel „Augenkraft, die nichts verbergen kann“ eine Romaneinführung.

Martin Walser antwortet am Telefon
FAZ-Redakteure stellen in der Rubrik „Martin Walser antwortet am Telefon“ Fragen an den Autor, nicht nur hochliterarische, sondern auch: „Was sagt Ihre Frau zu dem Buch?“ oder „Waren Sie überrascht, als Elke Heidenreich Ihr Buch gelobt hat?“. Etwas fassungslos machen mich seine Ausführungen zu: „Ist Ihnen der Vergleich mit Kehlmanns ‚Vermessung der Welt’ lieber als der mit ‚Lotte in Weimar’?“ Walsers Anwort lautet sinngemäß, er kenne Kehlmanns Roman nicht und könne dem Vergleich nichts abgewinnen. Eine der Fragen muss wohl eine sehr dringliche gewesen sein, denn Walser hat sie via Handy von einem Flughafen aus beantwortet, die Stimme eines großen Schriftstellers, eingebettet in Flughafengeräusche. Es gibt Antworten, die können einfach nicht warten.

Texte von und über Walser
Eine Rubrik stellt Bücher von Martin Walser in der F.A.Z.-Kritik vor, eine weitere Texte, die er für die F.A.Z .geschrieben hat.

Forum
Die F.A.Z. hat das Lesesaal-Forum geschickt eingefädelt: Uwe Ebbinghaus und Felicitas von Lovenberg, beide von der F.A.Z.-Redaktion, moderieren es. Sie eröffnen die Diskussion mit einer Frage, die zunächst von Literaturwissenschaftlern, Schriftstellern und Historikern beantwortet wird. Hierzu können sich dann die Leser zu Wort melden und – nach vorheriger Registrierung – selbst einen Beitrag schreiben.

„Brauchen wir mehr Altersradikalität?"
So lautet das Thema einer im April 2008 begonnenen lebhaften Diskussion.
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Screenshot aus der Website

Darüber können wir Ältere einmal gründlich nachdenken, oder am Besten gleich allen Besuchern unsere Meinung kundtun, auf Neudeutsch „posten“. Anfang April schreibt der Literaturkritiker Terence James Reed über die „recycled teenagers“, eine neue Ehrenbezeichnung für aktivere Senioren. Was man in einem Forum
alles aufschnappen kann. Wie hätte Goethe das wohl genannt? Wieder verwertbare Jugend?

Genuss pur: Martin Walser liest
„Bis er sie sah, hatte sie ihn schon gesehen“. Das ist der erste Satz im Walser-Buch „Ein liebender Mann“. Er ist schön zu lesen. Aber sobald man auf das Audio-Symbol klickt und Martin Walser diesen Satz in der für ihn typischen Diktion sprechen hört, ist der Genuss groß. Das gilt ebenso für mehrere Folgen, die der Autor liest. Die Audio-Streams stammen vom NDR-Kultur.

Second Life und nächstes Buch
Über den Schriftsteller erfährt man Einiges im Videointerview „Martin Walser im Porträt“, das Felicitas von Lovenberg mit ihm geführt hat. Im Gespräch sagt Walser, dass es in hundert Jahren eine Kultur der virtuellen Welt „Second Life“ geben wird, die wir uns heute noch gar nicht vorstellen können. Und dass es bereits seit Jahrtausenden ein erstes „Second Life“ gibt, nämlich unsere Bücher, in denen wir leben und weinen durch das Medium Sprache. Er verrät übrigens auch den Titel seines nächsten Buches: "Muttersohn".

Goethe multimedial
Eine schöne Idee im neuen Lesesaal ist „Goethe multimedial“ (in Text, Bild und Ton). Wir dürfen durch seine wichtigsten Lebensstationen und seine Zeit surfen und lernen dabei sogar authentische Zeugnisse aus seinem Kuraufenthalt kennen.

Zu Littells Roman der Geschichte

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Screenshot aus der Website

Vor Martin Walser konnten die Leser das Eröffnungsbuch des Literaturportals lesen, hören und diskutieren. Es ist von Jonathan Littell, heißt „Die Wohlgesinnten“, Ende Februar in deutscher Sprache erschienen. Die F.A.Z. druckte im Februar den Anfang des Buches ab. Martin Walser hat sich mit Leib und Seele in den alten Goethe hineinversetzt. Das war für Littell unmöglich. Denn es handelt sich in seinem Buch um die fiktive Lebensbeichte des SS-Mannes Max Aue.

Ein Versuch zu erklären, was nicht erklärt werden kann.
Jonathan Littell, 1967 geboren, ist ein französischer Schriftsteller amerikanischer Herkunft. Er stammt aus einer jüdischen Familie.
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Screenshot aus der Website

Sein über 1300 Seiten starkes Buch ist im August 2006 in Frankreich erschienen und mehr als 800 000 Mal verkauft worden. Es wurde in den höchsten Tönen gelobt, aber gleichzeitig hart angegriffen. Wie bei Walser kann man Teile des Buches lesen und hören. Frank Schirrmacher hat eine Werkeinführung geschrieben. Interessant ist folgende Gegenüberstellung, eine Kritik von Klaus Harpprecht, Jahrgang 1927: „Auf Führers Nase gefallen“, eine andere von Julia Voss, Jahrgang 1974: „Schule der Verrohung“. Littells Roman der Geschichte wird von Lesern und Literaturkritikern äußerst kontrovers diskutiert.

Multimedial und geglückt
Der Diskussionsraum namens „Frankfurter Allgemeine Lesesaal“ ist eine gute Plattform nicht nur für das gefühlvolle Walser-Buch, sondern ebenso für den durch seinen Inhalt umstrittenen Roman von Littell. Ein Forum für Leser und Experten, moderiert von Redakteuren. Der Raum begleitet die vorab gedruckten Fortsetzungsromane der F.A.Z. Er ist gut eingerichtet und wohnlich für alle, die Bücher lieben. Ich wünsche ihm noch viele gute Bücher und mitteilsame Autoren. Dazu  engagierte Leser, Redakteure und Literaturkritiker, die ohne dieses Angebot im Internet vermutlich nie miteinander diskutiert hätten.

Vor kurzem wurde der Lesesaal mit dem neuen Buch von Jutta Limbach : „Hat Deutsch eine Zukunft?“ bestückt und für den Grimme Online Award nominiert. Wir berichten darüber in unserer Rubrik Aktuelles.

Links
Auswahlseite Frankfurter Allgemeine Lesesaal
http://lesesaal.faz.net/
Startseite Martin Walser
http://lesesaal.faz.net/walser/
Startseite Jonathan Littell
http://lesesaal.faz.net/littell/

NDR Kultur
www.ndrkultur.de/programm/sendungen/
am_morgen_vorgelesen/amvliebender6.html

 
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