Die Unwirtlichkeit unserer Städte
                              von Lore Wagener
Denkt man an unwirtliche Städte, hat man in der Regel den sozialen Wohnungsbau vor Augen oder verödete Innenstädte. An Villenvororte denkt man dabei eigentlich nicht. Doch auch die „Einfamilienweiden" ernten in dem Buch von Alexander Mitscherlich harsche Kritik.

Die „Einfamilienweiden"

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Jubiläumsausgabe

Der Autor schreibt, dass er durch Villenvororte in verschiedenen Ländern Europas gegangen sei, in Deutschland, Italien, Holland oder England. Seine Eindrücke fasst er so zusammen: „Durchstreift man diese oft reichen Einfamilienweiden, so ist man überwältigt von dem Komfortgräuel, den unsere technischen Mittel hervorzubringen erlauben. Deutschland und Italien bilden dabei eine echte Achse der rücksichtslosen Demonstration von pekuniärer Potenz und dem Geschmacksniveau von Devotionalienhändlern". Und weiter: „Natürlich hat es immer Epochen des Protzertums gegeben. Darum geht es jetzt aber gar nicht, sondern darum, dass die, wie man in der Schweiz sagt, vermöglichen Leute aus den Städten ausgezogen sind und in den Vororten ... jeden Rest von städtischer Würde ... verloren haben." Der Autor räumt ein, dass sich dies sarkastisch anhöre, aber er fragt sich und die Leser, ob man unter diesen Umständen tatsächlich noch Heimat finden könne.

Sozialer Wohnungsbau
Im sozialen Wohnungsbau findet man die Heimat sicher auch nicht. Unter diesem Aspekt beschreibt der Autor die „Bimsblock-Tristesse, die sich um jedes einigermaßen stadtnahe Dorf legt bis zu den geplanten Slums, die man gemeinhin sozialen Wohnungsbau nennt und die einem in ihrer Monotonie an den Ausfallstraßen der Großstädte die Lektion erteilen, dass alles noch viel schlimmer ist, als man sich einreden möchte." Und an anderer Stelle :"Wenn ich an die giebeldächigen Wohnblocks denke, zu denen einem das alte Wort Kaserne und sonst nichts einfällt - aber Kasernen sollen heute freundlicher als diese Häuser sein, vielleicht weil Soldaten knapp sind, nicht aber Wohnungssuchende - wenn ich also diese Wohnblocks betrachte, dann erscheinen sie mir wie der Inbegriff der Kapitulation vor der hohen Kopfzahl."

Ein Pamphlet?
Diese Leseproben aus dem vorliegenden Buch sind noch immer aktuell, obwohl sie schon vor mehr als 40 Jahren, - also in den wilden Sechzigern - geschrieben wurden. Das Buch wurde 1965 zu einem Klassiker mit jetzt 25 Auflagen und über 200.000 verkauften Exemplaren. Es hat die Städtebauer beschäftigt, Architekten angeleitet, Studenten auf die Straße getrieben. Der Autor selbst bezeichnet seine Schrift als Pamphlet. Es ist eine Art Anklageschrift, die unsere städtebaulichen Nachkriegsleistungen aus der Sicht des Psychoanalytikers Mitscherlich kritisch betrachtet und den Hausbesitzern gewidmet ist. Das Buch soll aufrütteln. Der dritte Teil heißt denn auch „Anstiftung zum Unfrieden". Aber geändert hat sich bisher in der Praxis nur wenig. Auch Mitscherlich bietet keine zündenden Gedanken zu Problemlösungen an. Das wusste er selbst. Aber von einer Anklageschrift erwartet man ja auch eher das Aufzeigen als das Lösen von Problemen.

Städtebauliche Kernprobleme
Mitscherlich beklagt, dass im zerstörten Nachkriegsdeutschland die Chance auf einen städtebaulichen Neuanfang vertan worden sei. Er zeigt in seinem Essay fünf Kernprobleme auf:
1. Man ist nicht mit der Bevölkerungsexplosion in den städtischen Ballungsräumen, die durch den technischen Fortschritt verursacht wurde, fertig geworden.
2. Der Gegensatz von Stadt und Natur ist nicht gelöst.
3. Die städtischen Eigentumsverhältnisse an Grund und Boden bedürften nach Ansicht des Autors der Reform.
4. Die Probleme der Kinder und Jugendlichen in unseren Städten haben sich verschlimmert.
5. Die Möglichkeiten des nachbarschaftlichen Zusammenlebens sind nicht gefördert worden.

Die „Entmischung" der Städte
Zum ersten Kernproblem beklagt der Autor unter anderem die „Entmischung" von Wohn- und Arbeitsgegend, die durch den technischen Fortschritt und die damit verbundenen Ballungsräume gefördert wurde. Er meint, dass die Zerstörung der mittelalterlichen ganzheitlichen Stadtstrukturen am wenigsten dem kritischen Verstand der Stadtbewohner bekommen sei. Der Städter sähe keine Bindung mehr und würde zum bloßen Bewohner einer wenig rühmenswerten Gegend verkommen. "Er wird so, wie die Stadt ihn macht und umgekehrt."
Im zweiten Punkt sieht der Psychoanalytiker die Stadt als Gegenpol zur Natur und stellt fest, dass der Mensch den Kontrast von Stadt und ursprünglicher Natur brauche. Der Landbewohner erlebe gerne mal die Stadt und der Städter kaufe sich, wenn er es sich leisten könne, ein Stück Natur, zäune es ein und baue sich das schon eingangs gerügte Einfamilienhaus. Mitscherlich beklagt, dass die Natur so rücksichtslos privatisiert und technisiert würde.

Die Eigentumsverhältnisse
Das dritte Problem, die Eigentumsverhältnisse am Grund und Boden in den Städten, ist für den Autor eines der Wurzeln der üblen Zustände. Er verspricht sich von einer Gemeinnutzung bessere Ergebnisse für die Allgemeinheit. Aber er weiß auch, dass die Eigentumsrechte nicht angetastet werden können und dass es von dieser Seite her keinen Lösungsansatz gibt.

Die Probleme der Stadtkinder
Das vierte Problem sind die Auswirkungen des Stadtlebens auf die Psyche der Kinder. Mitscherlich beklagt unter anderem das Fehlen von wohnungsnahen Arbeitsplätzen für Mütter von Kleinkindern. Er sieht auch mit Besorgnis, dass der Bewegungsdrang von Kindern und Heranwachsenden in kleinen Wohnungen dramatisch eingeengt ist. Hinzu kommt, dass die Wohnanlagen durch Verbotsschilder, wie „Betreten des Rasens verboten", ihren spärlichen Raum noch zusätzlich beschneiden. So muss sich das Kind viel zu früh anpassen. Daher würden schon früh „Durchschnitts-Angestellte konditioniert".
Sehr schlimm findet der Autor diejenigen Erwachsenen, die sich wegen nicht geglückter zwischenmenschlicher Kontakte in den „Wohn-Fetischismus" flüchten. Wo diese übertriebene Ordnungssucht sich auch in den Wohnanlagen fortsetzt, „braucht man sich nicht zu wundern, wenn sich bei den Heranwachsenden Frust aufstaut, der sich aggressiv in Form von Jugendkriminalität oder im Konsum von Drogen entlädt."

Nachbarschaft und Stadtfestigkeit
Das fünfte Problem sieht der Autor in den schwindenden nachbarschaftlichen Beziehungen. In den Wohnanlagen ist jeder vorrangig mit sich selbst beschäftigt und hat seine eigenen Probleme. Am Nachbarn ist man nicht interessiert. Man zäunt sich ein und kapselt sich ab. Nachbarschaftliche Beziehungen, die früher das Stadtleben zu einem großen Teil ausmachten, haben vielfach ausgedient. Hier sollten die Stadtplaner bessere Voraussetzungen schaffen, fordert Mitscherlich, macht aber selbst keine Vorschläge.
Trotz aller Unkenrufe findet der Psychoanalytiker zuletzt doch noch etwas Positives. Er schreibt: „Immerhin ist es doch eine bemerkenswerte Tatsache, wie zäh die Städter unserer Zeit zu ihren Städten gehalten haben, denn nach fast vollkommener Zerstörung haben sie ihre Städte nicht hinter sich gelassen und sind keineswegs aufs Land ausgewandert. Die Soziologen nennen diese katastrophalen Belastungen standhaltende Ausdauer im städtischen Milieu - Stadtfestigkeit -."

Der Autor
Alexander Harbord Mitscherlich lebte von 1908 bis 1982. Er war Arzt, Psychoanalytiker und Schriftsteller, dreimal verheiratet und hatte sieben Kinder. Sein Vater war Chemiker. Er studierte zunächst Geschichte, Kunstgeschichte und Philosophie in München und war dann Buchhändler in Berlin-Dahlem. Er emigrierte 1935 in die Schweiz und begann, Medizin zu studieren. 1941 promovierte er und arbeitete anschließend als Neurologe. 1946 war er Beobachter bei den NS-Ärzteprozessen und brauchte 20 Jahre, um dieses bedrückende Erlebnis in einem Buch zu verarbeiten. Er war ab 1949 an den Universitäten Heidelberg und Frankfurt am Main tätig. Außerdem war er Mitglied der 1961 begründeten Bürgerrechtsorganisation Humanistische Union. Das vorliegende Buch mit dem Untertitel  „Thesen zur Stadt der Zukunft" erschien erstmals 1965. Die letzte gebundene Ausgabe wurde im September 2008 aus Anlass seines 100.Geburtstages im Suhrkamp-Verlag aufgelegt. Sie kostet im Buchhandel 15 Euro.

Links
Eine Rezension von Dieter Wunderlich
Biographie von Alexander Mitscherlich