Die Forschungsgruppe Humangenetik an der Universität Ulm hat im Winter 2003 eine Befragung zur beruflichen Belastung von Ärztinnen und Ärzten durchgeführt. Jurkat und Reimer (2001) konnten in mehreren Studien Hinweise für die Vermutung finden, dass die Lebensqualität von Medizinern durch ihre berufliche Belastung deutlich beeinträchtigt ist. Für diese Beeinträchtigung wurde eine ganze Reihe von Faktoren ausgemacht, u.a. die zeitliche Inanspruchnahme durch die Tätigkeit und gesundheitspolitische Strukturen.
Ziel unserer Befragung war, herauszufinden, ob sich über die bereits untersuchten Faktoren hinaus noch andere finden ließen, die zu dem beschriebenen Stress des medizinischen Heilberufs beitragen könnten. Uns interessierte insbesondere, ob die Anspruchshaltung der Patientinnen und Patienten, ihre zunehmende ‚Aufklärung' durch Medien und die sich wandelnden ökonomischen Bedingungen in der Wahrnehmung der Befragten präsent sind. Um die Belastung der Mediziner durch Vermutungen von Behandlungsfehlern zu ermitteln, wurden Fragen zur Gutachterkommission für Fragen ärztlicher Haftpflicht mit einbezogen. Weiterhin wollten wir herausfinden, in welchen Belastungsfaktoren sich Hausärzte (praktische bzw. Allgemeinärzte) von anderen Fachärzten unterschieden.
Zu jedem der von uns angenommenen Einflussbereiche haben wir eine Reihe von Aussagen zur Bewertung oder Beantwortung ("trifft voll zu" bis "trifft gar nicht zu" bzw. ja/nein) formuliert und in einen einseitigen Fragebogen vereint. Dieser enthielt in seiner abschließenden Version neben den insgesamt zwölf Stellungnahmen und drei Fragen zwei Angaben zur Abfrage des Geschlechts und der Berufsgruppe. Er wurde zusammen mit einem Begleitschreiben und einem frankierten Rückumschlag an 255 niedergelassene Ärztinnen und Ärzte in der Stadt Ulm verschickt.
Wir erhielten 149 Fragebögen zurück, was einem Rücklauf von 58% entspricht - dies ist ein sehr gutes Ergebnis. Von diesen 149 Fragebögen ließen sich 145 zwei bestimmten Gruppe zuordnen: entweder zur Gruppe "praktischer/Allgemeinarzt" oder "anderer Facharzt". Auf einem der Bögen fehlte die Angabe des Geschlechts. In die Untersuchung gingen nur die eindeutig gekennzeichneten 144 Bögen ein. Über die Verteilung auf die Geschlechter und die Berufsgruppen gibt Tabelle 1 Auskunft. Die Geschlechterrelationen in beiden Gruppen sind nicht signifikant voneinander verschieden (Chiquadrat-Test; ?2 = 0.104). Zwischen den Geschlechtern gab es bei keiner einzigen Stellungnahme und keiner Frage einen signifikanten Unterschied.
Tabelle 1: Verteilung der 144 zurückerhaltenen und verwertbaren Bögen auf die Berufsgruppen und die Geschlechter.
Frauen | Männer | Gesamt | |
Hausärzte | 12 | 33 | 45 |
Fachärzte | 29 | 70 | 99 |
Gesamt | 41 | 103 | 144 |
Unterschiede im Antwortverhalten zwischen den Berufsgruppen wurden mit dem Mann-Whitney-U-Test auf Signifikanz geprüft, Unterschiede in der Häufigkeitsverteilung der nominalen Variablen (Geschlecht, Fragen zur Gutachterkommission) mit dem Chiquadrat-Test (Signifikanzniveaus: signifikant - p < 0.05; hoch signifikant - p < 0.01; sehr hoch signifikant - p < 0.001).
Zwischen den Berufsgruppen gab es mehrere, zum Teil sehr hoch signifikante Unterschiede. In der Mehrzahl der Antworten unterschieden sich beide Berufsgruppen jedoch nicht. Über die Antwortverteilungen zu einzelnen items geben Abb. 1 und 2 Auskunft. Für die Auswertung wurden die Aussagen "Trifft voll zu" und "Trifft eher zu" als Zustimmung gewertet, die Aussagen "Trifft eher nicht zu" und "Trifft gar nicht zu" als Ablehnung. Unentschiedene Antworten sind als solche aufgeführt.
Offensichtlich hat sich die Einkommenssituation der Mehrzahl der Antwortenden beider Gruppen in den letzten Jahren verschlechtert. Über ihre zukünftige Einkommenssituation macht sich ebenfalls die Mehrzahl der Antwortenden in beiden Gruppen Sorgen, die Fachärzte fürchten jedoch signifikant häufiger, dass ihre Einkommenssituation sich verschlechtert (p = 0.0123).
Die Sinnhaftigkeit des solidargemeinschaftlich finanzierten Gesundheitssystems wird von etwa 30 Prozent der Antwortenden bezweifelt, das kassenärztliche Abrechnungssystem wird sogar von knapp drei Vierteln nicht für sinnvoll gehalten.
Eindeutig fällt die Haltung der Mediziner zur medizinischen Versorgung aus: fast 90 Prozent der Antwortenden sind der Ansicht, Grund- und Wahlleistungen sollten getrennt werden. Fast genauso hoch ist die Zustimmung zur Forderung, dass alle Patienten über die Höhe ihrer Behandlungskosten informiert werden sollten. In der Gruppe der Fachärzte ist diese Meinung jedoch signifikant stärker ausgeprägt (p = 0.0135).
Dass die Vorstellung ihrer Patienten durch die Medien beeinflusst würden, glauben fast 85 Prozent der Antwortenden. Lediglich ein Drittel der Antwortenden meint, dass ihre Patienten unangemessen aufwändige Diagnostik verlangten, fast die Hälfte stimmt dem nicht zu. Auffällig ist bei dieser Stellungnahme der hohe Anteil an Unentschiedenen.
Hausärzte lassen sich hinsichtlich des Umfangs ihrer Diagnostik von den Wünschen ihrer Patienten sehr hoch signifikant stärker leiten als Fachärzte: fast die Hälfte der Hausärzte gibt dies zu, während der Anteil der beeinflussbaren Fachärzte lediglich etwas mehr als ein Viertel beträgt (p = 0.0006). Über die Hälfte der Fachärzte verneinte einen Einfluss der Patienten auf ihre Diagnostik.
Über 85 Prozent der Antwortenden lehnen unangemessene Forderungen ihrer Patienten ab. Dass als Folge solcher Ablehnungen ein Patient schon einmal zu einem anderen Arzt ging, wird von einer Mehrheit in beiden Berufsgruppen zugegeben: immerhin etwa 80 Prozent der Hausärzte und 70 Prozent der Fachärzte bestätigen dies. Haus- und Fachärzte unterscheiden sich in beiden Antwortverteilungen nicht voneinander.
In den Antworten auf die Fragen nach der Gutachterkommission gibt es ebenfalls Unterschiede. Von den 44 antwortenden Hausärzten wurde noch kein einziger in diese Kommission berufen, von den 92 antwortenden Fachärzten immerhin fünf. Letztere haben ihrerseits signifikant häufiger die Kommission in Anspruch genommen (14 von 97 im Vergleich zu 1 von 43; ?2 = 4,675) und wurden auch von ihren Patienten signifikant häufiger vor die Kommission gebeten im Vergleich zu den Hausärzten (26 von 93 im Vergleich zu 5 von 44; ?2 = 4,663). Die Sinnhaftigkeit dieser Kommission wird daher von den Fachärzten auch sehr hoch signifikant weniger bezweifelt als von den Hausärzten (p = 0.0004), wobei sie im Durchschnitt doch von den meisten der Befragten für sinnvoll gehalten wird.
Aus den Ergebnissen unserer Befragung leiten wir ab, dass es eine nicht geringe Anzahl von Einflussfaktoren gibt, die innerhalb des beschriebenen Dreiecks aus sich wandelnden ökonomischen Bedingungen, Anspruchshaltung der Patienten und Angst vor Behandlungsfehlern liegen und die zu einer erheblichen Verunsicherung niedergelassener Ärztinnen und Ärzte führen. Dazu zählen sicherlich an prominenter Stelle die Wahrnehmung sinkender Einkommen in der Vergangenheit und die Furcht vor weiteren Einbußen in der Zukunft, die insbesondere bei Fachärzten ausgeprägt ist.
Im Hinblick auf die Frage, ob ihre Patienten durch die Medien beeinflusst würden, ist der hohe Grad an Zustimmung von sowohl Haus- wie auch Fachärzten frappierend. Inwieweit mit solchen Medieneinflüssen bestimmte Forderungen von Seiten der Patienten direkt oder indirekt zusammenhängen, wäre eine weitere Nachforschung wert. Offensichtlich ist jedoch, dass unangemessene Forderungen von den meisten der befragten Ärzten abgelehnt werden. Dass als Folge solcher Ablehnungen Patienten einen Arztwechsel vornehmen, ist einer erheblichen Zahl von Ärzten bekannt, und es lässt sich durchaus vermuten, dass noch mehr Patienten dies tun, ohne dass es dem behandelnden Arzt je zur Kenntnis gelangt.
Die daraus resultierende Verunsicherung sollte, vor allem im Hinblick auf eine dadurch ausgelöste Verringerung des Widerstandes gegen unangemessene Forderungen bei weiter sinkenden Einkommen, keinesfalls unterschätzt werden. Die Verwirklichung des durchgängig geäußerten Wunsches einer Trennung von medizinischen Grund- und Wahlleistungen könnte weitere ärztliche Einkommensquellen erschließen, die außerhalb der solidargemeinschaftlichen Finanzierung liegen und somit keiner Kontrolle der Krankenkassen zugänglich wären.
Der statistisch hoch bedeutsame Unterschied zwischen Haus- und Fachärzten hinsichtlich des von Patientenwünschen beeinflussten diagnostischen Umfangs lässt sich im nachhinein leider nicht interpretieren. Innerhalb der je unterschiedlichen Spanne angemessener ärztlicher Diagnostik können die Wünsche der Patienten entweder zur Vermehrung oder zur Verringerung des vorgeschlagenen Umfangs beitragen. Der Wunsch nach diagnostischer Beschränkung im Rahmen des Angemessenen trägt sicherlich zu einer Verbesserung der Ressourcenlage im Gesundheitswesen bei, vermindert aber u.U. auch das ärztliche Einkommen. Die Expansion der Diagnostik, dann auch über das Sinnvolle hinaus, schadet am Ende jedoch allen.
Der Gang zur Gutachterkommission für Fragen ärztlicher Haftpflicht scheint für Fachärzte eher dazuzugehören als für Hausärzte. Die statistisch signifikante Differenz weist auch auf die Bedeutung dieses Umstandes als Unsicherheitsfaktor hin, mit dem spezialisierte Ärzte anscheinend leben müssen: jeder vierte der befragten Fachärzte wurde schon einmal von einem Patienten vor die Kommission gebeten, um zu klären, "...ob ein dem Arzt vorwerfbarer Behandlungsfehler festgestellt werden kann, durch den der Patient einen Gesundheitsschaden erlitten hat (oder erleiden wird)" [http://www.aerztekammer-bw.de/15/10behandlungsfehler/]. Für Fachärzte scheint der Umgang mit Fragen ärztlicher Haftpflicht nach den von uns erhobenen Daten eine nicht geringe Rolle zu spielen, was sicherlich als belastender Faktor zu werten ist. Wie stark er als solcher von den Ärzten selbst wahrgenommen wird, ist unbekannt.
Wir stellen nach Erhebung und Analyse der von uns erhobenen Daten fest, dass auf unsere Ärzte komplexe, systemimmanente Stressfaktoren einwirken. Die finanzielle Situation ist nur ein wichtiger Faktor, der durch die Anspruchshaltung der Patienten und ihre zunehmende ‚Informiertheit' durch die Medien ergänzt wird. Zwischen Haus- und Fachärzten gibt es bedeutende Unterschiede in der Bewertung dieser Faktoren. Wir schließen, dass bei politischen Erwägungen zur Sanierung unseres Gesundheitswesens das Wohlergehen der Patienten und der Ärzte unbedingt vor den Interessen Anderer (z.B. der Pharmazeutischen Industrie) gewahrt werden muss, um eine weitere Belastung der Mediziner zu vermeiden.
Jurkat H, Reimer C. Lebensqualität und Gesundheitsverhalten bei berufstätigen Ärztinnen im Vergleich zu Ärzten. Schweizerische Ärztezeitung 2001;32/33:1739-44 Jurkat H, Reimer C. Arbeitsbelastung und Lebenszufriedenheit bei berufstätigen Medizinern in Abhängigkeit von der Fachrichtung. Schweizerische Ärztezeitung 2001;32/33:1745-50
Die Forschungsgruppe Humangenetik (FOHU) ist eine Arbeitsgemeinschaft des Zentrums für Allgemeine Wissenschaftliche Weiterbildung und des Arbeitskreises Ethik in der Medizin an der Universität Ulm und hat sich in den vergangenen knapp zehn Jahren mit Themen aus verschiedenen Bereich der Medizin und der Humangenetik beschäftigt. Kontaktadresse: FOHU, Arbeitskreis Ethik in der Medizin, Universität Ulm, Albert-Einstein-Allee 47, 89069 Ulm.
Abb. 1: Bewertungen, in denen sich Hausärzte und Fachärzte nicht voneinander unterscheiden (Anzahl Antworten aus beiden Gruppen).
Abb. 2: Aussagen, in deren Bewertung sich Hausärzte und Fachärzte signifikant voneinander unterscheiden (prozentualer Anteil in beiden Gruppen).
„Ich fürchte, dass sich meine Einkommenssituation in den nächsten Jahren verschlechtert“ |
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„Ich finde, dass jeder Patient über die Höhe seiner Behandlungskosten informiert werden sollte“ |
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„Die Wünsche meiner Patienten haben einen Einfluss auf den Umfang meiner Diagnostik“ |