Der Bekanntheitsgrad von Hospiz und Sitzwache Ulm

Vorurteile gegenüber der Hospizarbeit - Ergebnisse von sechs Befragungen

Ausgangspunkt unseres hier vorgestellten Befragungsprojektes waren eine Reihe von Aussagen, die die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Hospizes nicht selten von Besuchern des Hospizes zu hören bekamen: jene zeigten sich erstaunt darüber, dass die Atmosphäre im Hospiz oft alles andere als traurig sei; sie hätten erwartet, sagten sie, dass dort, wo es um Sterben und Tod ginge, nur Trauer herrsche. Manche Besucher hatten geglaubt, dass im Hospiz ausschließlich Menschen lägen, die den Verstand verloren hätten und rund um die Uhr Pflege bräuchten. Häufig bekamen die Hospizmitarbeiterinnen von den Besuchern gesagt, dass ihre Arbeit doch eine große Belastung für sie sein müsse.

Unter dem Eindruck, dass es im Hinblick auf die Hospizarbeit viele Voreingenommenheiten in der Bevölkerung gibt, die bisweilen den Charakter eines Vorurteils annehmen, wurde ein gemeinsames Projekt von Hospiz und Sitzwache Ulm, Arbeitskreis Ethik in der Medizin und AG Forsche Human (Universität Ulm) entworfen. Wir wollten herausfinden, wie stark ausgeprägt solche Meinungen in der Bevölkerung sind, ob es Unterschiede zwischen den Geschlechtern oder zwischen Altersgruppen gibt, und wo am ehesten mit einer Aufklärung über die Arbeit von Hospiz und Sitzwache anzusetzen sein könnte, um solchen Vorurteilen entgegenzutreten. Als erster Schritt dazu fand im Sommer 2004 ein Workshop mit Mitarbeiterinnen von Hospiz und Sitzwache Ulm statt, der eine Sammlung von solchen Aussagen zum Ziel hatte, die sie immer wieder zu hören bekamen. Ein Teil dieser Aussagen wurde gemeinsam in mehreren Schritten so aufgearbeitet, dass am Ende leicht verständliche, kurze Sätze standen, die die Vorurteile und Meinungen zufriedenstellend wiedergaben.

Zwischen September 2004 und September 2005 wurde in sechs Befragungen ein zweiseitiger Fragebogen eingesetzt, der 15 dieser Vorurteile und Meinungen enthielt. Zustimmung oder Ablehnung konnte auf einer 5-teiligen Skala ("trifft voll zu" bis "trifft gar nicht zu") signalisiert werden. Neben dem Geschlecht, Geburtsjahr und Postleitzahl des Wohnortes sollten die Befragten auch angeben, ob sie das Ulmer Hospiz kennen, und ob sie eine Patientenverfügung haben. Über die Basisdaten der sechs befragten Gruppen gibt Tabelle 1 Auskunft. Erste Ergebnisse wurden bereits im Hospiz-Rundbrief 13/2005 vorgestellt.

Befragungsgruppe Frauen Männer Gesamt Alter (Jahre)
ZAWIW 202 89 291 67
Landfrauen 632 0 632 56
Stadthaus 97 69 166 54
Pflegende Angehörige 77 23 100 64
Seniorenrat 23 10 33 65
Fortbildung 7 7 14 k. A.
Gesamt 1038 198 1236 60

Tabelle 1: Basisdaten der sechs befragten Gruppen

Da die sechs Gruppen sehr unterschiedlich sind, werden sie hier kurz vorgestellt: die Befragten der Gruppe "ZAWIW" waren Teilnehmende der Herbstakademie 2004 des ZAWIW an der Universität Ulm (290 Bögen entsprechen einem Rücklauf von über 40 Prozent). Die 632 "Landfrauen" sind Mitglieder der Landfrauen-Vereinigungen Ulms und des Alb-Donau-Kreises. Die Befragten in der Gruppe "Stadthaus" wurden an einem Samstag im September 2005 beim Besuch des Ulmer Stadthauses von Mitarbeitern der AG Forsche Human angesprochen. Während der Festveranstaltung am 21.10.2005 im Haus der Begegnung für "Pflegende Angehörige" waren ebenfalls Mitarbeiter der AG Forsche Human anwesend, um Fragebögen zu verteilen. Wir konnten während dieser beiden direkten Befragungen feststellen, dass das Interesse an der Hospizarbeit insgesamt recht groß ist, jedoch auch deutlicher Informationsbedarf herrscht. Die Ulmer "Seniorenrat"-Mitglieder wurden von einer Mitarbeiterin zur Mithilfe eingeladen. Die Befragten der Gruppe "Fortbildung" wurden während eines Seminars der Georg-von-Vollmar-Akademie in Kochel am See um Rückmeldung gebeten; da dies nur 14 Personen ohne Altersangabe sind, wurde diese Gruppe bei den gruppenspezifischen Auswertungen nicht berücksichtigt. Die Zusammenstellung dieser sechs Gruppen macht deutlich, warum über 80 Prozent aller Befragten Frauen sind, und warum das Durchschnittsalter von 60 Jahren weit über dem Altersdurchschnitt der Bevölkerung liegt.

Die weit überwiegende Mehrheit der Befragten - über 85 Prozent - gab Ulm und Umgebung (50 km Radius) als Wohnort an. Von den direkt in Ulm und Neu-Ulm Wohnenden (440 Fragebögen) kennen 82 Prozent das Ulmer Hospiz, von den außerhalb Wohnenden (796 Fragebögen) kennen es lediglich 51 Prozent.

1.213 der 1.236 zurückerhaltenen Fragebögen enthielten Angaben zum Geburtsjahr. Der Bekanntheitsgrad des Ulmer Hospizes steigt deutlich mit zunehmendem Alter an: von den 26- bis 35-Jährigen kennt nicht einmal jeder fünfte das Hospiz, während in der Altersgruppe der 76- bis 85-Jährigen fast vier Fünftel das Hospiz kennen. Nur jeder vierte der Befragten gibt an, eine Patientenverfügung zu besitzen. Die Verteilung über die Altersgruppen ist dabei ebenfalls sehr unterschiedlich, und selbst in der Altersgruppe der 76- bis 85-Jährigen hat nur etwa jeder zweite eine solche. Tabelle 2 zeigt die Verteilung der Fragebögen auf die Altersgruppen, den Anteil in jeder Gruppe, der das Ulmer Hospiz kennt und den Anteil derer, die eine Patientenverfügung (PV) besitzen. Die Gruppen der unter 16- und über 85-Jährigen enthalten lediglich 2 bzw. 7 Personen und werden im Weiteren nicht berücksichtigt.

Altersgruppe 16-25 26-35 36-45 46-55 56-65 66-75 76-85
Anzahl Fragebögen 22 37 120 204 310 391 120
Anteil Hospiz bekannt 5 % 19 % 44 % 53 % 65 % 70 % 78 %
PV vorhanden 0 % 3 % 9 % 14 % 23 % 32 % 53 %

Tabelle 2: Altersgruppen, Bekanntheitsgrad des Hospizes und Patientenverfügungen

Der bedeutendste Teil der Befragung betraf die zu Beginn des Projektes gesammelten Voreingenommenheiten und Meinungen gegenüber der Hospizarbeit. Die Zahl der verwertbaren Fragebögen lag je nach Aussage zwischen 1180 und 1225. Abb. 1 stellt den Grad der Zustimmung zum jeweiligen Vorurteil grafisch dar: Zustimmung zum Vorurteil wird durch den linken Teil des Balkens signalisiert; dieser Teil des Balkens bildet jenen Anteil der Antwortenden ab, die "trifft voll zu" oder "trifft eher zu" angekreuzt hatten. Ablehnung des Vorurteils wird durch den rechten Teil des Balkens dargestellt ("trifft eher nicht zu" oder "trifft gar nicht zu" angekreuzt); die unentschiedenen Antworten liegen dazwischen. Die Gesamtlänge des Balkens beträgt jeweils 100 Prozent. Die Antworten sind gepolt, d.h. die Ablehnung einer negativen Aussage gilt als Zustimmung zum Vorurteil. Die Aussagen sind in der Abbildung nach dem Grad der Ablehnung des Vorurteils sortiert: ganz oben steht die Aussage, die von den Befragten am häufigsten angezweifelt wurde; ganz unten steht das Vorurteil, dem am meisten zugestimmt wurde.


Abb. 1: Prozentualer Anteil von Zustimmung (linker Balkenteil) und Ablehnung (rechter Balkenteil) der Aussagen; unentschieden: mittlerer Balkenanteil.

Die Aussage "Mit Sterben und Tod sollte man sich nicht erst als alter Mensch beschäftigen" (in der Abbildung: "Sterben und Tod") wird von 80 Prozent aller Antwortenden bejaht, 16 Prozent stimmen ihr nicht zu.

Der Ansicht "Ich fürchte, dass im Hospiz nichts mehr für mich getan werden kann" ("Nichts mehr getan") sind 11 Prozent der Befragten, und 19 Prozent sind sich nicht sicher.

Dass im Hospiz nur alte, demente Menschen lägen, glauben 15 Prozent ("Demente Menschen"). Weitere 15 Prozent sind unsicher, und 70 Prozent lehnen dieses Vorurteil ab.

Dass es bei der Hospizarbeit immer nur traurig zugehe ("Arbeit traurig"), glauben acht Prozent der Befragten, weitere 23 Prozent sind sich unsicher.

Ähnlich fällt die Bewertung der Aussage "Wer ins Hospiz kommt, gibt seine Selbstbestimmung auf" ("Selbstbestimmung aufgeben") aus: 11 Prozent stimmen zu, 22 Prozent sind unsicher. Abgelehnt wird dieses Vorurteil von 68 Prozent der Befragten.

24 Prozent aller Befragten bejahen die Aussage "Wer einen Angehörigen ins Hospiz bringt, muss mit dem Vorwurf rechnen, ihn abzuschieben" ("Vorwurf Abschiebung"); weitere 20 Prozent sind unentschieden.

Fast die Hälfte der Befragten stimmt der Aussage "Die Hospizarbeit ist für die Mitarbeitenden sicher nur belastend" ("Arbeit belastend") zu oder ist sich unsicher. Lediglich 55 Prozent halten sie für unzutreffend.

"Kindern sollte man den Anblick von Toten ersparen" ("Kinder Tote ersparen") wird von 17 Prozent der Befragten zugestimmt, und knapp 30 Prozent sind unentschieden.

Für einen weiter führenden Vergleich zwischen den Altersgruppen konnte die Zustimmung zur Aussage "Die Arbeit der ambulanten Hospizdienste für die Begleitung Sterbender ist mir bekannt" als Vergleichsbasis herangezogen werden: am geringsten ist die Zustimmung in den ersten beiden Gruppen, alle anderen Altersgruppen zeigen einen ähnlichen hohen Zustimmungsgrad. (Abb. 2: Der Grad der Zustimmung entspricht dem Mittelwert aller Befragten innerhalb einer Altersgruppe, wobei 5 "trifft voll zu" und 1 "trifft gar nicht zu" bedeutet). Die Angaben der Befragten zum Angebot ganzheitlicher Betreuung und zur psychosozialen Unterstützung im Hospiz sowie der Bekanntheitsgrad der Aufnahmebedingungen für das stationäre Hospiz zeigen dabei sehr ähnliche Verteilungen im Vergleich der Altersgruppen; dies deutet darauf hin, dass die Befragten konsistent geantwortet haben, da mit diesen vier Stellungnahmen recht ähnliche Wissenselemente abgefragt wurden. Alle anderen, oben ausführlicher beschriebenen Meinungen und Voreingenommenheiten zur Hospizarbeit und zu Sterben und Tod zeigen jedoch gar keine oder keine so ausgeprägte Abhängigkeit vom Alter: in mehr oder weniger allen Altersgruppen ist hier die Zustimmung zur jeweiligen Aussage immer ähnlich hoch; Unterschiede bestehen nur zwischen den verschiedenen Aussagen.


Abb. 2: Zustimmungsgrad zur Aussage "Die Arbeit der ambulanten Hospizdienste für die Begleitung Sterbender ist mir bekannt"

Wenn man die Verteilung von Zustimmung und Ablehnung gegenüber diesen Vorurteilen und Meinungen ohne weitere Differenzierung betrachtet, kann das Fazit nicht anders lauten als: in den befragten Bevölkerungsgruppen sind unzutreffende Meinungen über die Hospizarbeit und Voreingenommenheiten gegenüber Sterben und Tod durchaus verbreitet. 30 Prozent der Befragten wissen nicht, dass im Hospiz auch junge Menschen liegen, die alles andere als dement sind. Ein Drittel der Befragten weiß nicht, dass die Selbstbestimmung des Gastes im Hospiz nicht nur geachtet wird, sondern ein absolut zentraler Wert für alle Beteiligten ist. Fast die Hälfte der Befragten kann sich nicht vorstellen, dass die Arbeit im Hospiz auch anders als belastend sein kann.

Zwei Ergebnisse sind besonders auffällig: sehr niedrig ist die Ablehnung der Aussage, dass man Kindern den Anblick von Toten ersparen sollte; gerade etwas mehr als die Hälfte der Befragten ist der Meinung, dass man dies gerade nicht tun sollte. Und ein Viertel der Befragten stimmt der Aussage zu, dem Vorwurf der Abschiebung ausgesetzt zu sein, wenn ein Angehöriger ins Hospiz gebracht wird.

Schaut man auf die Verteilung von Zustimmung und Ablehnung in den einzelnen Befragungsgruppen, zeigen sich zum Teil erhebliche Unterschiede. Die größte Zustimmung - fast 40 Prozent - zum Vorwurf der Abschiebung zeigt die Gruppe der pflegenden Angehörigen, die geringste die Gruppe Seniorenrat (18 Prozent). Die Gruppe der pflegenden Angehörigen äußert auch die größte Zustimmung zur Aussage "Ich kann meine Angehörigen zuhause gut beim Sterben begleiten" (47 Prozent), gefolgt von der Gruppe der Landfrauen (45 Prozent), wohingegen in der ZAWIW-Gruppe nur 29 Prozent dem zustimmen.

Den Mitgliedern des Seniorenrates sind die Bedingungen für die Aufnahme ins stationäre Hospiz am ehesten bekannt (34 Prozent), während dies nur für 13 Prozent der Landfrauen zutrifft (Tab. 3). Im Gesamtdurchschnitt geben nicht einmal 18 Prozent aller Befragten an, die Aufnahmebedingungen ins stationäre Hospiz zu kennen. Dies ist beklagenswert vor allem unter dem Eindruck des insgesamt hohen Durchschnittsalters (60 Jahre), und weil 84 Prozent aller Befragten Frauen sind, denen in Deutschland die Hauptlast der Betreuung alter und kranker Menschen außerhalb von Einrichtungen zufällt.

Gruppe Seniorenrat ZAWIW Pfleg. Ang. Stadthaus Landfrauen
Aufnahmebed. bekannt 34 % 23 % 23 % 16 % 13 %

Tabelle 3: Bekanntheitsgrad der Aufnahmebedingungen in den fünf größeren Gruppen.

Wir konnten die Befragten auf Grund der Angaben ihres Wohnortes in die Gruppen "Ulm/Neu-Ulm" und "Außerhalb" einteilen. Hier zeigte sich, dass der große Anteil der Landfrauen - über die Hälfte der Befragten - einen deutlichen Einfluss auf die Unterschiede zwischen den Zustimmungsgraden der jeweiligen Vorurteile hat: dem Vorwurf der Abschiebung und der Aussage, Angehörige zuhause gut beim Sterben begleiten zu können stimmten die außerhalb Ulms Wohnenden viel stärker zu als die Ulmer/Neu-Ulmer. Den Aussagen zur Bekanntheit der Aufnahmebedingungen, zum ganzheitlichen Betreuungsangebot und zur Finanzierung durch Spenden wurden wie erwartet von den Ulmer/Neu-Ulmer Befragten deutlich höher zugestimmt als von den außerhalb Wohnenden.

Unsere Befragung hat gezeigt, dass viele Menschen, die im Einzugsgebiet von Hospiz und Sitzwache Ulm leben, diese Einrichtung und ihre allgemeinen Leistungen kennen. Es hat sich aber auch gezeigt, dass viele der Befragten über ungenügendes Wissen über die Hospizarbeit verfügen und Voreingenommenheiten zum Umgang mit Tod und Sterben haben. In Anbetracht des hohen Altersdurchschnitts der Befragten und weil die weit überwiegende Mehrheit Frauen sind, ist dies besonders beklagenswert.

Unterschiede gibt es vor allem zwischen den Altersgruppen, aber auch der die direkte Entfernung zwischen Wohnort und Hospiz spielt eine Rolle. Deutliche Unterschiede gibt es ebenfalls zwischen jenen Befragten, die das Hospiz kennen und jenen, die es nicht kennen. Diese Unterschiede betreffen gängige Voreingenommenheiten, aber auch einfache Wissenslücken im Hinblick auf die konkrete Hospizarbeit. Aus den Ergebnissen der Befragung können jene Bevölkerungsgruppen abgeleitet werden, die besonders von einer verstärkten Werbung für die Hospizarbeit profitieren können.


Für den AK Ethik in der Medizin:
Dr. Michael Gommel

Für die AG Forsche Human des ZAWIW:
Elfriede Dehlinger, Ursula Köber, Brigitte Dippel, Heinz Fischer, Ursula Vollmer, Ursula Köber, Ingeborg Bauser