Homepage > Themen > Thema F > Beiträge

Themenkomplex F
Heimat und Globalisierung
 


Beiträge zum Themenkomplex

Die auf dieser Seite gesammelten Beiträge beziehen sich auf den Themenkomplex F. Sie können jedoch auch Gedanken und Feststellungen zu anderen Themenkomplexen enthalten. Ebenso ist es möglich, dass sich in Beiträgen, die anderen Themenkomplexen zugeordnet wurden, Informationen mit Relevanz für diesen Komplex finden.
In Ausnahmefällen wird auf wichtige Beiträge in anderen Themenkomplexen am Ende der nachfolgenden Liste verwiesen.

  • F01   Stefan Pöhl, 31.08.2000, Heimat und Cyberspace
  • F02   Peter Joksch, 14.08.2001, Heimat und Globalisierung
  • F03   Dieter Böckmann, 18.09.2001, Der "blaue Planet" als Heimat
  • F04   Peter Joksch, 07.10.2001, Stellen wir uns vor, ...
  • F05   Maria Burkard, 17.10.2001, Kein Widerspruch sondern eine Chance und
              Bereicherung
  • F06   Angenita Stock-de Jong, 25.10.2001, Globalisierung und Heimat
  • F07   Madeleine Dauteuille, 31.10.2001, G wie "Globalisierung" ... G wie "Geliebte
              Heimat, Ade!" ?
  • F08   Peter Joksch, 05.11.2001, G wie "Globalisierung" ... G wie ...
  • F09   Volkmar Gimpel, 02.12.2001, Zu G wie "Globalisierung" ...
  • F10   Madeleine Dauteuille, 02.12.2001, Antwort: Zu G wie "Globalisierung" ...
  • F11   Dieter Böckmann, 06.12.2001, Heimat und Globalisierung
  • F12   Volkmar Gimpel, 16.12.2001, Nationalstaat
  • F13   Dieter Böckmann, 22.01.2002, Heimat im Zeitalter der Globalisierung

  • Zum Diskussionsforum



F01   Stefan Pöhl schrieb am 31.08.2000:

Heimat und Cyberspace

Zitate aus:
HUBER, Andreas: Heimat in der Postmoderne. Zürich (Seismo Verlag) 1999.
Kapitel 1. Zum Begriff Heimat: Heimat und Cyberspace
    Nach dieser überblicksartigen Darstellung der Begriffsgeschichte von Heimat will ich in diesem Abschnitt der Frage nachgehen, was Heimat heute noch bedeuten kann, im Zeitalter der „telematischen Kultur", die gekennzeichnet ist vom „Verschwinden jeglicher Ferne" (Seite 53)
    Laut Flusser müsste die telematische Kultur "eine Kultur sein, die darauf ausgerichtet ist, uns das Ferne nachezubringen, uns Fremde vertraut zu machen, damit die Welt nicht mehr befremdlich ist und wir ihr nicht mehr entfremdet gegenüberstehen". [FLUSSER] Bei eingehender Betrachtung ist es genau diese Sehnsucht nach der "heilen Welt", von nach Harmonie erfüllter Utopie, die die Menschen meinen, wenn sie von Telematik reden. (Seite 53f)
    Flussers Thema ist nicht die Heimat, doch kann nicht die heile Welt, von der er spricht, als Synonym für Heimat verstanden werden? Dann wäre der Zweck, den Flusser der Telematik mit all ihren Techniken gerne zuschreiben würde nichts anderes, als Heimat zu stiften. Der Cyberspace als potentielle ubiquitäre Heimat von morgen? (Seite 54)

top  Seitenanfang      back  Zurück (Seite wird geschlossen)       Forum  Zum Diskussionsforum



F02   Peter Joksch schrieb am 14.08.2001:

Heimat und Globalisierung

Kann man Heimat "globalisieren" wie ein Industrieunternehmen?
Ein Heimatempfinden könnte dahin gehen, dass man die Erde, den Globus, als seine Heimat ansieht. Vorwiegend wird dies bei Astro- und Kosmonauten der Fall sein. Sich in der Weite des Alls bewegend, welches ihnen bestimmt unheimlich und fremd vorkommt, sind sie gewiss glücklich, wieder auf ihrem Heimatplaneten gelandet zu sein. Aber welcher Normalsterbliche hat dieses Erlebnis schon? Ilija Trojanow schrieb in der Woche v. 10. 8. etwas Ähnliches.
Eine globale Heimat und Weltbürgertum und dazu unsere heutigen politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse. Ist es ein Ideal, eine Vision oder doch eher Utopie?
Noch ein Gedanke. Mein Gefühl für Heimat ändert sich doch je nachdem wo ich bin. Bin ich im All, ist die Erde meine Heimat. Bin ich auf der Erde ist es wahrscheinlich das Land wo ich geboren bin oder lebe. Und dort ist es eine Landschaft oder Stadt. Also ist Heimat auch eine Frage der Entfernung.
Wir sprechen doch auch von einer engeren und einer weiteren Heimat. Ich weiß, es sind eigentlich nur Fragen und keine Antworten. Vielleicht hat jemand welche.

top  Seitenanfang      back  Zurück (Seite wird geschlossen)       Forum  Zum Diskussionsforum




top  Seitenanfang      back  Zurück (Seite wird geschlossen)       Forum  Zum Diskussionsforum



F04   Peter Joksch schrieb am 07.10.2001:

Stellen wir uns vor, ...

Stellen wir uns vor, Science Fiction würde wahr.
Stellen wir uns vor, wir leben nicht im 21. sondern im 25. Jahrhundert.
Stellen wir uns vor, wir haben Kontakte zu Bewohnern anderer Planeten.
Stellen wir uns vor, wir besuchen sie und sie uns.
Stellen wir uns vor, gemeinsam erforschen wir den Weltraum, um weitere Planeten zu entdecken und zu besiedeln.
Stellen wir uns vor, bei einer solchen Expedition fragen wir uns gegenseitig nach unserer Heimat.
Die Antwort wird doch lauten: ich komme von der Erde, dem Planeten X, dem Planeten Y.

Also: meine Heimat wird umso "größer", je weiter ich mich von ihr entfernt habe. Sie ist "zunächst" einmal global, wenn ich mich außerhalb meines Planeten befinde. Auf der Erde in Australien würde ich nicht Buxtehude sondern Deutschland als meine Heimat bezeichnen usw. usf.
Es kommt bei meiner Antwort also darauf an, wo ich bin und wer mich nach meiner Heimat fragt.

Gedanken an einem frühen Sonntagmorgen von Peter

top  Seitenanfang      back  Zurück (Seite wird geschlossen)       Forum  Zum Diskussionsforum



F05   Maria Burkard schrieb am 17.10.2001:

Kein Widerspruch sondern eine Chance und Bereicherung

Dieser Beitrag beruht nicht auf Recherchen, sondern gibt einige persönliche Überlegungen wieder. Es liegt in der Natur der Sache, dass sie subjektiv und daher auch anfechtbar sind. Ich möchte auch nicht auf den recht vielschichtigen wirtschaftlichen Aspekt der Globalisierung eingehen, sondern durch Beispiele drei Gedanken näher erläutern.

1. Heimat ist heute nicht mehr in erster Linie an einen Ort gebunden. Unsere Untersuchungen haben gezeigt, dass dieser Begriff für die meisten Menschen mit der Erinnerung an die Kindheit, mit der Geborgenheit in der Familie oder in einer Gruppe verbunden ist. Diese wiederum kann ganz verschieden sein, kann sich durch Sprache, durch soziale, kulturelle oder religiöse Gemeinsamkeiten ergeben, kurz: Heimat hat etwas mit Gefühlen zu tun und kann sehr unterschiedlich empfunden werden. Gerade dadurch ergeben sich Möglichkeiten der Veränderung.
2. Die Globalisierung ist eine Entwicklung, die sich nicht aufhalten lässt und die wir mit allen ihren Vor- und auch Nachteilen akzeptieren müssen. (s. Zusammenfassung von Volkmar Gimpel)
3. Wir können durchaus einiges tun, um Ängste abzubauen, um beides, Heimat und Globalisierung in unserem Leben zu verbinden. Ich sehe hier keinen Widerspruch, sondern eher eine Bereicherung.

Sehen wir uns die Reaktionen in Deutschland auf die Terroranschläge vom 11. September an. Warum kam es in vielen Städten zu spontanen Zeichen der Teilnahme? War das nur Mitleid, Mitfühlen? War es Ausdruck von Angst?
Ich glaube, hier hat sich mehr gezeigt. Es stand das Gefühl dahinter, dass wir alle zusammengehören, dass wir, trotz vieler Unterschiede, Menschen sind, die etwas gemeinsam haben, das bedroht ist. Es war plötzlich nicht mehr wichtig, wo dieses Gemeinsame verletzt wird, ob es im selben Dorf, in der selben Stadt, im selben Land oder in einem anderen Erdteil geschieht.
Ohne die modernen Kommunikationsmöglichkeiten wäre das alles undenkbar gewesen. Die Demonstrationen der Solidarität fanden an konkreten Orten statt, die Teilnehmer waren also eingebunden in ihre Umgebung, sie reagierten gemeinsam. Diese Reaktionen waren aber nur möglich, weil die Medien zeitliche und geografische Distanz aufgehoben und uns so unmittelbar berührt haben. Die Deutschen konnten die Ereignisse genau so verfolgen wie etwa die Amerikaner. Hier hat sich gezeigt, dass keinerlei Widerspruch bestand zwischen dem Heimatgefühl und dem Gedanken der Globalisierung, also der Überzeugung, dass wir Teil der großen Menschheit sind.

Ein anderes, einfacheres Beispiel.
Ich war in diesem Frühjahr fast einen Monat in Florenz, besuchte dort eine Sprachenschule und wohnte in einer Familie. Zunächst sah ich diese Stadt wie wohl jeder Tourist: Man staunt, ist begeistert, macht sich ein Programm und besichtigt, besichtigt... Nach einiger Zeit ändert sich der Blickwinkel, man lernt Menschen und ihre Gewohnheiten kennen, man erlebt jeden Morgen den vollen Bus, man freut sich auf das Abendessen und die Diskussionen in der Familie, kurz man fängt an, sich als "Einheimischer" zu fühlen. Man belächelt die Tagestouristen und gibt ab und zu sogar Ratschläge.
Was ist passiert? Man hat einen Schritt in Richtung auf etwas Fremdes getan und fühlt sich dabei wohl. Das soll nicht heißen, dass dieser kleine Schritt schon zur Globalisierung führt, aber es ist immerhin ein Schritt und jeder Weg besteht aus einzelnen Schritten. Wir müssen aber den Mut haben, sie zu tun. Das heißt also ganz konkret, offen sein gegenüber allem Fremden, reisen, Kontakte suchen, Sprachen lernen usw. Dass hierbei die Beziehung zur "alten" Heimat nicht leidet, versteht sich von selbst.

Ein letztes Beispiel, das vielleicht in die Zukunft weisen kann.
Die Projektgruppe "Heimat" hat sich in Urach zusammengefunden. Die wenigsten Mitglieder kannten sich, sie kamen aus ganz Deutschland und inzwischen sogar aus Frankreich. Über Mails und Foren wurden oft recht kontroverse Diskussionen geführt und Konzepte entwickelt. Bei gelegentlichen realen Treffen wurden die Kontakte vertieft. Einmal pro Woche trifft sich diese Gruppe in einem eigenen Chat. Jeder ist alleine und sitzt "daheim" vor seinem eigenen PC. Der Austausch über persönliche und sachliche Themen ist so lebhaft, dass man oft vergißt, dass das alles im virtuellen Raum stattfindet So schrieb neulich "unsere" Französin: Riecht denn hier keiner, dass meine Kartoffel anbrennen? Man sollte ein solches Beispiel nicht belächeln, sondern die Chancen sehen, die moderne Medien uns bieten. Wir können heute Heimat und Kontakte nach außen, die doch sicher Teil der Globalisierung sind, ohne Probleme verbinden. Wir brauchen beides, die Globalisierung und die Verankerung in der "Heimat". Sie wird ihre Bedeutung behalten, auch wenn die Formen sich ändern werden.

top  Seitenanfang      back  Zurück (Seite wird geschlossen)       Forum  Zum Diskussionsforum



F06   Angenita Stock-de Jong schrieb am 25.10.2001:

Globalisierung und Heimat

Zuerst möchte ich auf den Beitrag von Maria (FO5), Kein Widerspruch sondern eine Chance und Bereicherung, Punkt 3, mit einem Zitat von André Glucksmann aus "Die Macht der Dummheit", 1985, antworten:
    "Das Gefühl, Bewohner derselben "Welt" zu sein, wächst mit dem Ausmaß der Schäden, die die Bewohner selbiger "Welt" imstande sind, sich gegenseitig zuzufügen."
Zu "Globalisierung und Heimat" möchte ich das Kapitel "Ortspolygamie: Mit mehreren Orten verheiratet zu sein ist das Einfallstor der Globalisierung im eigenen Leben", aus dem Buch "Was ist Globalisierung" von Ulrich Beck, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1997, zusammenfassen.
In diesem Kapitel geht es um die Frage, was mit Globalisierung, ausbuchstabiert für das eigene Leben, gemeint ist. Als Beispiel wird angegeben:
Eine ältere Dame lebt seit mehr als 30 Jahren in Tutzing am Starnberger See. Ein typischer Fall (geographischer) Immobilität. Die Dame fliegt aber mindestens dreimal im Jahr für längere Zeit nach Kenia. Wo ist sie "zu Hause"?
In Kenia? Ja und nein. In Kenia hat sie mehr Freunde als in Tutzing. In Afrika wird sie von den Einheimischen nicht nur ver-, auch umsorgt, nach Hause eingeladen. Ihr Wohlbefinden im Alter beruht darauf, dass sie in Kenia "jemand ist". In Tutzing ist sie niemand.
Auch die Bekannten, mit denen sie sich in Kenia trifft und eine besondere "Gemeinschaft" lebt, stammen aus Deutschland, haben sich aber zwischen den Orten und Kontinenten eingerichtet. Eine ist mit einem (muslimischen) Inder in Kenia verheiratet. Sie fühlt sich hier wie dort wohl. "Heimweh" hat für die alte Dame zwei Gesichter, zwei Stimmen, kann "Tutzing" ebenso rufen wie "Kenia".
Die Frage wird gestellt, ob dieses Leben, das Orte verschiedener Kontinente übergreift, transnational in einem Leben zusammenbindet, ein Unglück, eine Erscheinungsform von Auflösung ist. Es wird verneint, denn die alte Dame ist zu diesem transnationalen Leben nicht gezwungen. Sie lebt ortspolygam, liebt, was sich auszuschließen scheint, Afrika und Tutzing.
Transnationale Ortspolygamie, das Verheiratetsein mit mehreren Orten, die verschiedenen Welten zugehören: das ist das Einfallstor der Globalität im eigenen Leben, führt zur Globalisierung der Biographie.
Was heißt Globalisierung der Biographie?: Die Gegensätze der Welt finden nicht nur dort draußen, sondern im Zentrum des eigenen Lebens, in multikulturellen Ehen und Familien, im Betrieb, im Freundeskreis, in der Schule, im Kino, beim Einkaufen, Musikhören, Essen, Liebemachen usw. statt. Es gilt: Wir alle leben glokal. Es wurde immer wieder gesagt, dass die Menschen im Zuge fortschreitender Modernisierung immer stärker in den Käfig ihrer hochspezialisierten Kleinstwelten eingeschlossen werden. Es zeigt sich aber, dass genau das Gegenteil zum allgemeinen Verhalten wird: Die Gegensätze und Widersprüche der Kontinente, Kulturen, Religionen - Dritte und Erste Welt, Ozonloch und Rinderwahnsinn, Rentenreform und Parteienverdrossenheit - finden im eigenen Leben statt. Das Globale lauert und droht nicht als das Große Ganze draußen - es nistet und lärmt im ureigenen Raum des eigenen Lebens. Es macht einen guten Teil der Eigenheit, Eigenart des eigenen Lebens aus. Das eigene Leben ist der Ort des Glokalen.
Das eigene Leben ist kein ortsgebundenes mehr, kein gesetztes, kein seßhaftes Leben. Es ist ein Leben "auf Reisen", ein Nomaden-Leben, ein Leben im Auto, im Flugzeug, in der Bahn oder am Telefon, im Internet, ein massenmedial gestütztes und geprägtes, ein transnationales Leben. Diese Technologien sind alltägliche Zeit- und Raumüberbrückungsmedien. Sie vernichten Entfernungen, stellen Nähe über Distanzen her und Distanzen in der Nähe - Abwesenheit an demselben Ort.
Der Wechsel und die Wahl von Orten folgen in Anbetracht der Chancen und Konflikte der Weltgesellschaft nicht immer subjektiven Entscheidungen. Ein milder Zwang zum Ortswechsel besteht bei Berufskarrieren. Brutale physische Gewalt bei Kriegen treibt die Menschen in andere Länder und Kontinente, in denen sie dann weiterwandern (müssen) oder nach Monaten oder Jahren wieder in ihr "Heimatland" zurückkehren (müssen); Armut und die Hoffnung auf ein besseres Leben führen zur legalen oder illegalen, ständigen oder zeitweisen Immigration.
Ob freiwillig oder gezwungen oder beides, die Menschen spannen ihr Leben über getrennte Welten hin auf.
Die Transnationalisierung erstellt neue Verbindungen zwischen Kulturen, Menschen und Orten und ändert damit unsere tägliche Umgebung. Nicht nur uns bisher kaum bekannte Produkte bringt sie in unsere Supermärkte oder Zeichen und Symbole in die Städte, sondern es tauchen verstärkt neue Gruppen und Menschen auf, die die Wahrnehmung der Großstadt für viele Bürger zur Zeit prägen, wie z.B. Afrikaner, Bosnier, Kroaten, Polen, Russen, aber auch Japaner und Amerikaner. Auch muß man feststellen, dass die Transnationalisierung die neue Kultur der Zweiten Moderne beeinflußt, beispielsweise in Form von islamischer Diskomusik, kulinarischer "Mischgerichte" (cuisine sauvage), neuerer Weltmusikveranstaltungen und euro-asiatischer, afro-europäischer oder karibisch-afrikanischer Kinder.
Was heißt Mehrörtigkeit, Transnationalität des eigenen Lebens, wenn der Begriff des Ortes selbst mehrdeutig ist? Wenn das eigene Leben über mehrere Orte gespannt ist, kann das bedeuten, dass diese Biographie im allgemeinen Raum stattfindet, also z.B. auf Flughäfen, in Hotels, Restaurants usw., die überall gleich oder ähnlich, folglich ortlos sind und die Frage, wo bin ich? letztlich unbeantwortet machen.
Oder Mehrörtigkeit kann bedeuten, dass man sich immer wieder neu in die Unterschiede der Orte, ihre Gesichter und Geschichten verliebt. Inwieweit ist der Ort "mein Ort" und "mein Ort" mein eigenes Leben? Mehrörtigkeit heißt: etwas Neues, auf das man neu-gierig sein oder werden kann, um dessen Welt(-Sicht) zu entschlüsseln. Uns begegnen Menschen mit exotisch klingenden Namen, fremd anmutendem Äußeren, mit anderer Haarfarbe und Hautfarbe, die alle Assoziationen von Ferne und Orient in uns anklingen lassen; und dann antworten sie plötzlich auf Bayerisch oder Schwäbisch, da stellt sich heraus, sie sind hier aufgewachsen; sie kehren unsere Erwartungen um, sie stellen unsere Normalitätsbilder in Frage.

top  Seitenanfang      back  Zurück (Seite wird geschlossen)       Forum  Zum Diskussionsforum



F07   Madeleine Dauteuille schrieb am 31.10.2001:

G wie "Globalisierung" ... G wie "Geliebte Heimat, Ade!" ?


(Zu diesem Beitrag gibt es eine
Druckversion im Wordformat.)

"Welche Auswirkung hat die Globalisierung auf unsere Vorstellung von Heimat", das ist die Frage, auf die ich, als Laie, versuchen will eine bescheidene Antwort zu geben. Vorab einige Anmerkungen:
  • Um mich nicht beeinflussen zu lassen, habe ich die Beiträge in unserer website, die diesem Thema gewidmet sind, noch nicht gelesen.
  • In der französischen Version meines Textes habe ich "terroir" als Übersetzung für "Heimat" gewählt. Zwar wäre "pays" das richtige Wort, aber es ist eher "Vaterland".
  • Für Globalisierung habe ich folgende Definition übernommen:
    "Gesetz der Marktwirtschaft, das auf dem ganzen Planeten gilt".
    Dies ist vielleicht eine einschränkende und abwertende Definition, aber ich bleibe dabei, weil Globalisierung und "Internationalisierung" oft absichtlich zusammen geworfen werden, um ungestraft allerlei im Namen des letzteren Begriffes anrichten zu können, der aber positiv anzusehen ist.
  • Um die unvermeidliche Vereinfachung in meinen Kommentaren auszugleichen, habe ich mich bemüht, soviel wie möglich Beispiele zu bringen, aus Sicht meiner Westentaschen-Beobachtungsstation, d.h. meines kleinen Dorfes in der Umgebung von Lyon, und etwas allgemeiner, aus der Sicht Frankreichs, meines Heimatlandes.
  • Um sie deutlicher herauszustellen, habe ich manchmal auch etwas übertrieben - der geneigte Leser wird es erkennen.
  • Diese kleine Arbeit passt schließlich zu den zwei Themen der website: einerseits zu "Globalisierung und Heimat" und andererseits zu "Mißbrauch des Heimatgefühls". Ich hoffe, hier zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen!
Bevor ich nun zum eigentlichen Thema komme, möchte ich meine Absicht durch zwei "Bilder" illustrieren, die bei mir entstanden sind, als ich anfing, Globalisierung und Heimat gegenüberzustellen: das "Bild" vom Weihnachtsbaum und das von der Sandburg. Hier sind sie:

Den Ursprung des Weihnachtsbaumes kann man sich leicht vorstellen: Weihnachten hatte als religiöses Fest die Krippe, Weihnachten, als Fest der Wintersonnenwende, bedurfte noch eines anderen Symbols: das brachte uns der Dezember, der brav die Bäume in den Wäldern unserer Vorfahren mit Schnee bedeckte und ihnen Eis-Litzen umlegte. Es war die Tanne. Ihre natürliche Schönheit, noch durch Rauhreif untermalt, ein paar Früchte und bunt gefärbte Tannenzapfen an seine Zweige gehängt - das war's: mit "Oh Tannenbaum, König der Wälder" wurde die Tanne zum Weihnachtsbaum.
Weil jeder sie sich leisten konnte, denn sie kostete so gut wie nichts, konnte sie auch in der ärmsten Hütte das Weihnachten von früher verschönern, zumindest im schönen "damals", an das wir uns erinnern - oder das wir uns so vorstellen. Sicherlich mehr das unserer Vorstellung, denn viele Kinder kannten früher, selbst noch im 19. Jahrhundert, von Weihnachten nicht viel mehr als das Märchen "Von der kleinen Streichholz-Verkäuferin", auch wenn es ihnen nicht ebenso ging.
Und was ist jetzt aus dem Weihnachtsbaum geworden?
Im Lauf der Jahre, mit der zunehmenden Verstädterung, die die Wälder zurückdrängte und unsere Wohnungen kleiner machte, mit der Erwärmung der Erde, durch die es heute im Dezember meist keinen Schnee mehr gibt, wurde der Weihnachtsbaum mehr und mehr zu einer Ware, die sich jeder im Geschenkartikel-Laden kaufen kann : zuerst noch als gezüchteter Baum, im Topf und mit Wurzeln verkauft, wurde er dann importiert, an einem weißen Holzkreuz befestigt und dick mit künstlichem Reif bestreut, und schließlich, für eine Kundschaft, die nicht mehr die Nadeln auffegen wollte, wird er manchmal durch eine Plastik-Tanne ersetzt, die keinen Duft mehr verbreitet, dafür aber mit Flitterkram überladen ist, etwas, das ganz nebensächlich geworden ist, aber nun mal dazu gehört. Diesen Pseudo-Weihnachtsbaum kauft man im Supermarkt und stellt ihn - vorsichtig braucht man ja damit nicht mehr zu sein - zwischen den billigen Kaviar und den billigen Sekt, die nun mal dazu gehören. Was soll's, man hat ja das wo es drauf ankommt : Die Kinder haben zu Weihnachten das was sie gerne haben, und wir, die Erwachsenen, können beruhigt sein : wir bieten ihnen einen Weihnachtsbaum mit Spezial-Effekten, ein künstliches Gebilde, viel schöner als die Natur (ja, ich übertreibe, um das ganz klar zu sagen - aber nicht viel!).
Mit unserer Heimat ist es dasselbe wie mit dem Weihnachtsbaum. Durch die Globalisierung ist sie ihres einfachen, natürlichen Charakters, ja sogar ihrer Daseinsberechtigung beraubt worden, und besteht oft nur noch als simples Handelsprodukt fort, mit dem entsprechenden "look", vereinheitlicht, etikettiert, geschickt verpackt - und manchmal wird sie auch an unsere Antipoden verkauft.
Wir sehen noch weiterhin, durch welche Tricks die Globalisierung diese schamlose Vermarktung unserer geliebten Heimat erreicht hat (man benutzt ja heutzutage auch mitunter den neuen Begriff "merchandising" (englisch)), um damit dieses Majestäts-Verbrechen an unserer Heimat auszudrücken.

Und nun zur vom Meer überspülten Strandburg. Sie scheint mir gut als Vergleich dienen zu können zu unserer traditionellen Heimat und deren langsamem, oft als lustiges Spiel verpacktem, aber geschickt inszeniertem Dahinsterben infolge der Globalisierung, das zwar manchmal unterbrochen wird durch erfreuliche Gegenbewegungen, aber letztlich unweigerlich zum Tode führt, wenn wir nichts dagegen tun.
Ja, wirklich : So wie unsere Vorfahren im Laufe der Jahrhunderte geduldig die Heimat gebildet, aufgebaut, erhalten und verschönert haben, die heute zum Opfer der immer schnelleren Globalisierung wird, so bauen die Kinder am Strand die Strandburg, verschönern während Stunden und Stunden diese schöne Burg aus Sand, um dann schließlich mit anzusehen, wie sie dem heranrollenden Meer ausgeliefert ist. Für sie, wie für uns, ist das zunächst ein Spiel, aber am Ende rollen dann doch meistens die Tränen.
Zuerst füllt das Meer ganz harmlos nur die Wassergräben, der Angriff wird hinterlistig durch schillernde Blasen verschönt, die auf dem Sand platzen, und die Kinder sind stolz und jubeln, weil dadurch die Burg aus Sand erst wie eine richtige Burg aussieht, und die kleinen Dummköpfe helfen dem Wasser noch, indem sie ihm flink Zugänge graben, und freuen sich darüber. Aber sehr bald schlägt die Stimmung um: heimtückisch umschlingt das Meer die Burg und das Werk der Überspülung beginnt. Und dann ist's zu spät. Da können sich die Kinder noch so sehr anstrengen und hier und da die Wälle verstärken und die Breschen verschließen, das Wasser dringt unerbittlich und ohne dass man's rechtzeitig erkennen kann, überall ein und setzt die Mauern und Türme unter Wasser. Noch ein paar Wellen, und von dem stolzen Bauwerk bleibt nur ein unförmiger Sandhaufen, der von Wind und Wasser abgetragen wird. Und auf dem Grabhügel tummeln sich Algen und Muscheln, traurige Erinnerung an ein Atlantis, das für immer versunken ist!
Am nächsten Tag bauen die Kinder an derselben Stelle unermüdlich eine neue Strandburg und sehen wiederum zu, wie sie zerstört wird. Aber wir, können wir unsere schöne Heimat ebenso vernichten lassen, indem wir sie nicht gegen die steigende Flut der Globalisierung schützen?

Zunächst einmal muss man darauf hinweisen, dass das Phänomen der Globalisierung nicht neu ist. Es wütet schon lange, vielleicht sogar seit immer. Neues Land, neue Märkte, warum denn nicht? Die Erde glich schon immer dem Kleid des Gekreuzigten, das sie unter sich aufgeteilt haben: die großen Kaiserreiche, die großen Wanderungen, die großen Eroberer und Kolonisatoren aller Art, die Friedensverträge, die natürliche Gebiete zerteilt haben usw. Und dazu haben wilde Industrialisierung, wissenschaftliche und technische Entwicklungen, Züge zum Gold eines echten oder vermeintlichen Eldorados, schon immer willkürliche Grenzen gezogen, Gebiete erobert, ganze Völker verjagt oder ausgebeutet, Landschaften verwüstet oder zerstört, kurz gesagt, die natürliche Heimstatt des Menschen, die für uns die liebliche "Heimat ist, verformt (ich meine hier Hof, Dorf, Stadtviertel, Stadt, Gebiet, Vater- oder Heimatland, das, was für die Tiere das "Revier" ist). Und dies alles, offen zugegeben oder nicht, im Namen des sakrosankten "Gesetzes der Wirtschaft".
Es wäre Naivität, wenn wir an eine idyllische Vergangenheit glaubten, wo unsere Vorfahren sicher sein konnten, ihr ganzes Leben lang glückliche Tage in der Mulde der Wiege und im Schatten der Gräber ihrer Väter zu verbringen. Niemals ist die Welt lange unverändert geblieben. Aber (zumindest haben wir den, vielleicht falschen, Eindruck) die Gebiets-Veränderungen und die Bevölkerungs-Bewegungen verliefen - abgesehen von ausgesprochenen Krisen - langsamer und nicht in solchen Ausmaßen, und vor allem nicht so unmittelbar vor unseren Augen, wie wir das heute dank der modernen Informationsmittel erleben.
Es stimmt auch nicht, dass zu Zeiten unserer Großeltern, für uns eben die, wenn auch mythische, "gute alte Zeit" das Gesetz der Wirtschaft im allgemeinen nur innerhalb der Grenzen eines Gebietes, eines Landes oder allenfalls Europas wirkte (falsch: denn z.B. schon im 18. Jahrhundert hatten die Seidenweber von Lyon nicht nur mit China Handelsbeziehungen, sondern auch mit Süd-Amerika).
Aber jetzt sind für die Wirtschaft, genau wie für das Internet, Raum und Zeit kein Hindernis mehr. Alles läuft "live" ab und wie im Zeitraffer, vor unseren Augen, und wir sind geblendet bzw. beunruhigt von diesem zu oft gerühmten "weltweiten Dorf", das uns nun das Schauspiel einer Art ständigen Erdbebens bietet, das uns den Boden unter den Füßen wegzieht (den Boden der Heimat, den vor allem). Weil wir nun aber ein geschärftes Bewusstsein der Gefahr haben, jederzeit entwurzelt werden zu können, (wir, aber vor allem unsere Kinder, z.B. aus beruflichen Gründen) bemühen wir uns, uns mit der Vorstellung der erzwungenen Mobilität vertraut zu machen. Und dennoch versuchen wir, instinktiv, alles so zu bewahren wie es ist, und befestigen immer wieder die Mauern und dichten die Lücken in unserer Burg aus Sand. Und dieses, wie ich meine, verstärkte und nicht nur vorübergehende Festhalten an der Heimat ist etwas, über das wir uns freuen können, das aber auch nicht zur Rückständigkeit führen soll.
Die beiden entgegengesetzten Haltungen der Menschen, die angesichts der Globalisierung mit der Heimat verbunden sind, führen zu Widersprüchen. Man sitzt ein bisschen zwischen zwei Stühlen, einmal vom Ruf der Weite, dem Sirenensang einer glitzernden Globalisierung angezogen, die geschickt als akzeptable Internationalisierung verkleidet ist (Beispiel: "United Colors of Benetton"), und dann wieder heftig widerstrebend, weil man fühlt, dass damit die Tage unserer überlieferten Heimat gezählt sind.

Hier ein paar konkrete Beispiele aus dem täglichen Leben, um den Kampf zwischen Globalisierung und Heimat deutlicher aufzuzeigen:

Sehen wir uns mal an, was im industriellen und handwerklichen Bereich so vor sich geht.
Hier ist die Verlagerung von Unternehmen (ins Ausland) das schlimmste. Ganz offensichtlich müssen sie Arbeitskräfte irgendwo in der Welt finden, wenn sie dort billiger sind, skrupellos, sogar um den Preis von Kinderarbeit. Das geschieht zu Lasten der Arbeitskräfte der verlagerten Unternehmen, denen nur Arbeitslosigkeit bleibt oder Auswandern, schönfärberisch "Mobilität" genannt. Von heute auf morgen verlieren manchmal ganze Gebiete ihre traditionellen industriellen oder handwerklichen Grundlagen, und damit ihre Eigenart (denn was die Menschen tun, formt ja Heimat und Landschaft). Heuzutage, wenn Industrie oder Handwerk angesichts der weltweiten Konkurrenz nicht mehr rentabel sind, dann werden sie, ganz einfach, geopfert. Und damit, Adieu Heimat. Denken wir nur an Romans ("die französische Hauptstadt der Schuhindustrie" in Südfrankreich) ohne Schuhfabriken, an Troyes (in der Champagne) ohne Strickwaren, an Sochaux ohne die Peugeot-Autofabrik usw. Und in Roubaix, (in Nordfrankreich) Stammrevier der alten inzwischen verschwundenen Wollspinnerei, machen sich "Fabrik-Verkäufe" und "Ausverkaufs-Läden" breit, während die Fabriken - Spinnereien und Webereien - verschwunden sind.
Den durch die Auslagerungen entstandenen Mangel an Beschäftigung sucht man durch öffentlich finanzierte Schein-Beschäftigungen (ABM, die aber ohne echten Nutzen sind) auszugleichen, die aber niemals die früheren echten wirtschaftlichen Tätigkeiten ersetzen können, die dem Fallbeil der Globalisierung zum Opfer gefallen sind: Lothringens Stahlindustrie, die Steinkohle-Reviere des Pas-de-Calais oder von St.Etienne, die Textil-Industrie des Nordens, die Fischerei von Boulogne-sur-Mer usw. Dicht bei uns lebte früher ein ganzes Dorf von der Hutmacherei, und was ist jetzt von über 50 Betrieben übrig geblieben? Ein Museum! Ach, überhaupt diese Museen, dieses Einbalsamieren der Heimat, wie schmerzlich ist es, das mitanzusehen. Umso mehr müssen die örtlichen Verkehrs-Büros diese Museen als schmeichelhaftes Markenzeichen der Heimat darstellen, als kulturelles Erbe, gerade in der Zeit, und das ist ja das schlimme, wo dieses "Erbe" nur noch konserviert wird. Genau wie bei Euch, wo die sächsischen Spitzen nur als Museum oder als Touristen-Attraktion zu sehen sind - sonst nichts. Ich bin nicht etwa gegen Museen, die sind ja immerhin besser als gar nichts, aber seien wir doch so ehrlich zuzugeben, dass sie hübsche Gräber der verschwundenen örtlichen Tätigkeiten sind.
Zwar haben oft die wirtschaftlichen Aktivitäten die Landschaft verschandelt (z.B. die Abraumhalden des "Kohle-Landes"), aber sie waren doch Zeichen einer sinnvollen und wirklichen Tätigkeit, auf die Leute stolz waren, trotz aller Gefährlichkeiten und Schwierigkeiten. Und wenn auch ihr Verschwinden aus der Landschaft erfreulich ist, und das Leben von Bergarbeitern und Fischern nicht eben beneidenswert war (das muss man schon anerkennen), und wenn es auch normal ist, dass sich die Welt verändert, wie seit eh und je, dann aber bitte als natürliche und wünschenswerte Entwicklung und nicht erzwungen von dieser "grauen Eminenz" die da "Globalisierung" heißt, und nicht als Zeichen des Absterbens jeder örtlichen Tätigkeit und damit auch der Heimat selbst.

Gerade bei den Erzeugungs-Bereichen, d.h. Landwirtschaft, Waldwirtschaft und Fischerei, schlägt die Globalisierung voll zu.
Früher, ohne dass das Autarkie sein musste, da hatte jede Landschaft ihre eigene Originalität, durch die Beschäftigungen die man kannte, namentlich im Bereich der Erzeugung: hier Weinbau, dort Getreide, hier Kartoffeln, dort Viehwirtschaft, hier Forstwirtschaft, dort Fischerei usw. Jede Region hatte eine bestimmte Bedeutung im Lande, und bot die unverwechselbaren Unterschiedlichkeiten.
Heute ist alles unter die Dampfwalze der Globalisierung gekommen: die großen Monokultur-Zonen haben die Hecken-Landschaft verschwinden lassen (oh diese endlosen Maisfelder, wie langweilig!), die Viehwirtschaft ist oft zur ökologischen Katastrophe geworden (durch die Schweinezucht großen Stils ist das Wasser in der Bretagne untrinkbar geworden), die industriellen Geflügel-Ställe erinnern an den Film "chicken run", Rinder werden nur noch in Ställen gehalten (ich erinnere mich an einen deutschen Freund, der vor 15 Jahren noch unsere Kühe auf der Weide fotografiert hat, entzückt davon, dass es so etwas bei uns noch gibt - aber für wie lange noch?) Aber z.B. die wunderbaren weißen Kühe in der Region von Nevers, die sollten wie gefährdete Denkmäler geschützt werden, so sehr tragen sie zur ruhigen Schönheit dieser Landschaft "im tiefsten Frankreich" bei, und wenn sie nicht genügend weiden, dann heißt's Achtung, Krankheiten?
Wie lange werden wir noch unsere Weingärten gegen die Konkurrenz aus Kalifornien schützen können? (wirklich noch "unsere"?, denn die Weingärten um Bordeaux gehören schon zum Teil Engländern!). Unser Becken von Arcachon mit den pittoresken Hütten seiner Austernzüchter, wird das auch so ein Freiluft-Museum wie die Gemüsegärten von Amiens?
In mir bäumte sich etwas auf, als ich hörte, dass die schönen Getreide-Ländereien meiner Heimat Brie (schon z.T. von Eurodisney überlagert) durch die Globalisierung ganz brach gelegt werden sollten, (es ist nicht mehr davon die Rede, Gott sei Dank!) ebenso wie in der Gegend um Beauce (südlich von Paris). Hört mal, was der Dichter Charles Péguy über die Kornkammer Frankreichs in seinem Gedicht "Die Beauce wird der Mutter Gottes in Chartres vorgestellt" sagt:
    "Du, Stern des Meeres...
    Betrachte den schweren Teppich der Kornfelder,
    die da wogen wie Dünung und Gischt des Ozeans,
    bis sie unsere Scheunen füllen."
Diese Politik der Rentabilität, auferlegt durch die Globalisierung - einfach so gesagt, Entschuldigung - bringt eine katastrophale Uniformierung dessen, was Heimat ist, mit sich, einen Identitäts-Verlust.
Und so versucht man, dagegen anzukämpfen. Was tut man also, um unseren heimatlichen Regionen wenigstens ein bisschen Eigenheit zurückzugeben? Damit man sie voneinander unterscheiden kann, "kleidet" man sie in einer Art lokaler Färbung, ähnlich dem künstlichen Rauhreif unserer "Geschenk-Artikel-Weihnachtsbäume".
Man gibt ihnen ein Kleid mit den örtlichen Farben. Jede Region bekommt ihr Logo, will ihre Internet-Seite haben, stellt ihre Besonderheiten heraus. Typisch dafür sind die Rondelle, wo man sich bemüht, die Besonderheiten der Gegend in einer kleinen Garten-Anlage darzustellen: in Burgund ein paar Weinstöcke, am Strand Kieselsteine und Kabinen (das soll jeweils das "Marken-Abbild" sein). Manchmal ist das ganz lustig und unschuldig, aber doch gekünstelt pittoresk, zu sehr Tourismus-fördernd und Zeichen einer neuen Entwicklung. Je mehr es die alte Heimat nicht mehr gibt, umso mehr blühen sie überall auf: ein "Haus der Heimat", ein "Haus des Kultur-Erbes", ein "Tourismus-Büro", "botanische Wanderwege", ein "Haus des Gastes", "Rundfahrt zu den Romanischen Kirchen", rivalisieren mit "Rundfahrten zu den Megalithen" und "Archäologischen Fundplätzen". An der Autobahn weisen Schilder auf Besonderheiten der Gegend hin. Wie "Naturpark Morvan" und andere kennzeichnen, ein bisschen gekünstelt, die Gegenden, denen man ihre Landschaft, ihre Grenzen, ihre natürlichen Eigenheiten weggenommen hat (denn "Naturparks" sind ja nichts anderes als künstliche Reservate der bedrohten Landschaften).
Dieses zügellose Herausstellen des Kultur-Erbes lässt mich an die Obstbäume denken, die nie soviel Früchte tragen wie kurz vor ihrem Absterben. So werden selbst die geringsten Besonderheiten, die das Wappen einer Gegend vergolden können, in Verzeichnisse aufgenommen und den Touristen angeboten, solange die Heimat noch eine Fristverlängerung genießt, ehe sie ganz von der rasenden Globalisierung verschlungen wird.
Aber leider, alle diese Anstrengungen einer "Wiederherstellung der Heimat", diese schick dargestellten Museums-Dörfer, ähnlich Korallen-Riffen, sind doch, wie diese, nur noch Gerippe, mit denen man nicht verbergen kann, wie Landschaften mitsamt Ackerbau und Viehzucht verwüstet werden, durch eine umweltschädliche und hässliche Industrialisierung.
Und in diesen durch die Globalisierung veränderten Regionen, für die Touristen noch geschmückt, weil sie nun mal keine Orte mehr sind "wo man lebt", was machen da die Bauern und Viehzüchter? Sie passen sich an, um zu überleben, sie werden Gemüsebauern- und Händler (in der Gegend, in der ich wohne, sind in wenigen Jahren unglaublich viele Gewächshäuser entstanden), sie werden Hoteliers (Fremdenzimmer, Essen an der "Gäste-Tafel", Camping auf dem Bauernhof) oder Ski-Lehrer. Sie werden Lehrer und öffnen die Türen ihrer "Lehr-Höfe" für die Schüler, die gerne einmal richtige Kaninchen sehen wollen, die sie sonst nur aus Comic-Strips kennen. Bald werden unsere Bauern zu Landschaftsgärtnern, denn sie werden ja nicht mehr dafür bezahlt, dass sie etwas produzieren, sondern dafür, dass sie die Landschaften erhalten, die sonst bald mit Gestrüpp zuwachsen würden und - wollen wir wetten? - bald werden sie greens unserer Golfplätze mähen, wo einst ihre Kuhherden weideten. Tja, auch da sind wir im Zeitalter der Plastik-Weihnachtsbäume angekommen.
Noch zu Tourismus: vor den Sommerferien ermüden einen die Radiosendungen mit Werbung für verschiedene Gegenden, die im Rahmen des "grünen Tourismus" versuchen, gegen die Weltreisen anzukommen. Ja, unsere heimatlichen Landschaften haben's nötig, sich zu verkaufen wenn sie gegen die Globalisierung überleben wollen.
Und das ist noch nicht alles. Die Vermarktung der Heimat geschieht noch auf andere Weise, zum Beispiel, wenn bestimmte Lebensmittel mit der Marke "Französisch essen" und dem Werbespruch "Unsere Landschaften zeigen was sie können" angeboten werden. Da findet man u.a. bretonische Biskuits, Linsen aus dem Puy (die Stadt Le Puy, in der Nähe von Clermond Ferrand liegt in einer vulkanischen Landschaft) usw., so viele Erzeugnisse, durchaus von guter Qualität, aber an sich einfach, ja ärmlich, die jetzt, gut verpackt, sich bemühen, die Kundschaft wieder zu gewinnen, die so lange ausländische Erzeugnisse vorgezogen hat - indem sie sich mit dem Bild der heimatlichen Landschaft schmücken, das sich verkaufen lässt (früher, da waren zwischen diesen Linsen, lose verkauft, viele Steinchen, und Kinder und Omas mussten die heraussuchen - da hatten sie was zu tun). Und wie geht das heute? Diese Erzeugnisse werden geschützt durch "offiziell geprüfte Herkunftsbezeichnungen" (französisch A.O.C.), die es früher nur für Weine gab, und dank deren heute z.B. auch unsere Käsesorten besser exportiert werden können. Beispiel: der Reblochon (ein Weichkäse aus dem Aravis-Tal bei Annecy), mit dem man durch die verkaufsfördernde "offizielle Herkunftsbezeichnung" gute Geschäfte macht.
Ja ja, die Werbung brauchte nicht erst die Globalisierung. Seit langem schon benutzt sie fadenscheinig das sympathische Abbild des jeweiligen Landes dazu, die Produkte besser zu verkaufen: der schnurrbärtige Weinbauer mit dem einladenden Trinkergesicht, der altmodische Hirte mit der Baskenmütze, der Fischer im gelben Ölzeug, das ist nichts anderes als verkaufsfördernder Blickfang für eine Kundschaft, die unbewusst nach den nostalgischen Bildern der Heimat sucht, die sie als Traum aus ihrer Kindheit bewahrt hat. Und das geschieht jetzt mit System. Dazu sind die Bezeichnungen, die man den Erzeugnissen gibt, auch nicht eben harmlos: Chips "wie früher", Weißkäse "Direkt vom Dorf", Butter "Von unseren grünen Weiden", Marmelade "Wie von Mama" usw. Klar, "Heimat" widersteht, offen und ehrlich, der Globalisierung.
Leider hat aber eben diese Globalisierung auch die unschuldigen Verkaufs-Praktiken in eine unehrliche Ausnützung der Suche nach "Heimat" beim Kunden verwandelt.
Hier zwei Beispiele, um das zu illustrieren:
In manchen Alpen-Dörfern waren früher die Dächer der Hütten mit Holz-Schindeln gedeckt, die ganz einfach handwerklich aus dem Material gefertigt waren, das man nahebei hatte : aus Holz. Schon vor langer Zeit wurden in den meisten Alpen-Dörfern diese Dächer durch Wellblech ersetzt, billig aber hässlich, weil sie rosteten. Nun will aber die Wintersport-Kundschaft gerne Schindel-Dächer sehen, damit sie sich wie in echten Dörfern aus der "guten alten Zeit" fühlt. Was macht man also, raten Sie mal? Man bezieht, zu hohen Preisen, Holz-Schindeln aus Kanada, nur damit die Dörfer wieder mehr wie Alpen-Dörfer aussehen. Was für ein Schwindel!
Ein anderes Beispiel: früher baute man in der sehr armen Bretagne Buchweizen an, und Buchweizen-Pfannkuchen (aus Mehl, Wasser und Salz, sonst nichts) waren traditionell das Grund-Nahrungsmittel der Gegend. Später baute man Buchweizen nicht mehr an. Aber in den Augen der Touristen wäre eine Bretagne ohne Buchweizen-Pfannkuchen eben nicht die richtige Bretagne, und so importiert man heute Buchweizen von weither, aus Ländern, die mit der Bretagne überhaupt nichts zu tun haben, nur damit die Touristen sich immer noch wie in der "richtigen Bretagne vorkommen - so wie bei uns zuhause".
So hat denn die Globalisierung die echte Heimat durch eine "virtuelle" Heimat ersetzt (der Plastik-Weihnachtsbaum lässt grüßen!).
Hat die Globalisierung mit den "großen Handelsketten" die traditionellen örtlichen kleinen Geschäfte ruiniert, die doch jeder Heimat ihr besonderes Gepräge gaben? Leute, die gut informiert sind und die ich zu diesem Thema befragt habe, sagen nein. Aber sicherlich wird dieser Trend beschleunigt, in dem Maße wie die großen nationalen Supermarkt-Ketten Filialen im Ausland eröffnen und dort mehr und mehr Weltmarkt-Produkte anbieten, ganz nach den Gesetzen der Globalisierung.
Mag sein. Aber kann man es dann nicht als eine Reaktion darauf ansehen, wenn eine andere Form des traditionellen Handels wieder auflebt, der sehr "Nachbarschafts-freundliche" Markt? Der bringt wieder Leben ins Dorf, dieser "Handel in der Nähe", wie man so sagt, und wir sollten diesen Akt des Widerstandes gegen die Globalisierung begrüßen. Gibt er doch den Herstellern aus der Umgebung Beschäftigung und bringt die Leute zusammen. Ihm verdanken wir es, wenn wir jetzt wieder sicherer werden, dass die alte Heimat noch nicht tot ist.
Nur ein Tropfen im Meer? Vielleicht, aber ein Zeichen der Treue zur alten Lebensweise - und absolut nicht überbewertet. Und ein Beweis dafür, dass die Leute es leid sind, das zu verbrauchen, was ihnen die Macht der Lebensmittel-Industrie überall, und überall gleich, anbietet.
Diese gesunde Reaktion bemerkt man auch in der Gastronomie. Schluss mit der "nouvelle cuisine", auf den Kochherden der Globalisierung zubereitet, man kehrt zur guten, zur wahren Küche zurück, zur "Küche der Heimat", bravo!
Seit einiger Zeit hat uns die Globalisierung auch, durch den weiträumigen Austausch der Handelswaren, Epidemien gebracht. Erinnern wir uns an die Maul- und Klauenseuche und vor allem an den schrecklichen Rinderwahnsinn. Die Folge: der "biologische Handel" erlebt einen tollen Aufschwung, weil er die Leute sicher macht in der Kenntnis der "Herkunft" dessen, was sie kaufen ("Herkunft", ha, auch so ein neuer Ausdruck, der die Zurückweisung der Globalisierung aufzeigt). Man isst wieder Rindfleisch, denn es ist der schnurrbärtige Bauer, der Ihnen sein Fleisch verkauft, und weil er aus dem Lande ist, braucht man keine Angst zu haben! Dieses Fleisch von garantiert an Körper und Geist gesunden Rindern bestellt man lange vorher, wie ehedem in Kriegszeiten.
Leider hat ein anderer, weniger ehrlicher "Bio"-Handel, die Ängste der Verbraucher ausgenützt; aber er hat sich als Bauernfängerei entpuppt. Hinter den Kulissen von großen Wirtschaftsgruppen geleitet, die wussten, wie man den nostalgischen Glauben gutgläubiger Verbraucher an ein gesundes und ländliches Leben "wie einst in der Heimat" wiedererweckt - um daran zu verdienen, versteht sich.
Könnt ihr euch denken, dass seit dem Rinderwahnsinn manche Leute im Dorf selbst Schafe und Geflügel halten und sie unter der Hand verkaufen? Wie man sieht, Heimat hat noch Chancen (wozu doch manches Unheil gut ist).

Wer Globalisierung sagt, sagt auch Vervielfältigung von Waren-Austausch über weite Strecken und damit der Transporte. Ich bin weder für Autarkie noch für Protektionismus um jeden Preis, aber manchmal finde ich doch, dass der Warenaustausch, der ein positives Zeichen für Modernität sein soll, übertrieben wird und nur vom Gesetz des "just in time" diktiert wird. Schrecklich, diese Lastwagen-Kolonnen von einem Ende Europas zum anderen. Muss das wirklich sein, frage ich Sie . Abgesehen von den Tunnel-Katastrophen (die wir hier nicht weiter behandeln wollen) verpesten die Lastwagen die Luft ganzer Regionen. Was ist z.B. aus der reinen Luft des Tals von Chamonix mit dem Mont Blanc Tunnel geworden
Die Folge: die Autobahnen sind überfüllt. Die, die als bedeutende Nord-Süd-Verbindung Lyon im Norden praktisch schon in zwei Hälften teilt, soll verdoppelt werden durch die so genannte "West-Umgehung" von Lyon, und alle Welt fürchtet sich davor. Unser Dorf säße in der ersten Reihe, wenn das dazu kommt. Dann, Adieu süße Oase, Adieu Ruhe! Das Projekt hat einen Aufstand hervorgerufen und schweißt die betroffenen Anwohner zusammen. Ihr seht, man will seine Heimat verteidigen. Die Zukunft wird uns zeigen, mit welchem Erfolg. Kirchturm-Denken? Nein, eine Überlebensfrage in einer Welt, wo die Großen die Kleinen fressen! Und diese "Großen" wollen uns glauben machen, dass sie uns von der Isolation befreien wollen, aber wir wissen, dass sie gar keine Rücksicht auf uns als ihre Kunden nehmen würden, wenn dadurch ihre Waren schneller transportiert werden könnten - man soll uns doch keine Geschichten erzählen.

Die allgemeine Globalisierung hat bei uns nicht soviel Vermischung der Bevölkerung mit sich gebracht, im Gegensatz zu Lyon, aber die Verpflichtung der Gemeinden zum Bau eines gewissen Anteils von Sozial-Wohnungen wird sicherlich die Rollenverteilung verändern. Manche befürchten, dass sie ihre Heimat mit Fremden teilen müssen, sie wollen lieber "unter sich bleiben". Wird die Globalisierung dieser Mentalität des Misstrauens und der Engstirnigkeit ein Ende setzen ? Die Zukunft wird's uns lehren.
Sicherlich lässt sich die örtliche Jugend durch das Piercing hinreißen und sich von den Händlern von CD-Spielern, Handys, walkmans, PCs und all dem modischen Zeug, das jeder heute in der ganzen Welt so anhaben muss, manipulieren (ach ja, diese weltweite Mode-Diktatur über die jungen Leute, an der sich manche Welt-Marken mästen, zum Schaden der Portemonnaies der Eltern - und wie sehr lässt sich die Jugend terrorisieren). Aber sie betreibt doch immerhin das, was örtliche Tradition ist: Fußball, Radfahren, Angeln, Jagd, Pilze sammeln, sind, soviel ich weiß, noch nicht von den so tollen "Rave-Partys" abgelöst worden (aber ich bin nicht unbedingt auf dem neuesten Stand...). Aber nehmen diese Jungen es nicht auch hin, dass ihre Fußball-Idole sich verkaufen, sich prostituieren, an Prestige-Clubs, die ihnen doch ganz fremd sind, anstatt dem Verein ihrer kleinen Heimat treu zu bleiben? Die heimatliche Fußball-Mannschaft, für die begeisterte man sich doch früher - oder?
Manche jungen Leute, deren Eltern nie das Nest verlassen haben, fangen damit an, im Ausland zu studieren, sich da niederzulassen und zu heiraten. Ursache ist wohl der Arbeitsmarkt, aber sicherlich auch eine Änderung der Mentalitäten. Andere hingegen ziehen es vor, auf die tollen Angebote der Globalisierung zu verzichten und kommen wieder ins Dorf zurück, um hier als Handwerker tätig zu sein. Wie's scheint ist das neu.
Die übrige Bevölkerung ist von einem wahren Heißhunger auf weite Reisen erfasst.
Kann man dieses neue Phänomen der Globalisierung anlasten, die die Heimat so langweilig gemacht hat und durch Vermittlung der Reiseunternehmen die Fern-Reisen zum Schwalbenflug? Diese Schwärmerei kann man positiv sehen, solange die Reisenden nicht zum Opfer eines Massen-Tourismus werden, der ihnen nur - denk' mal, auch bei den Antipoden, wo alles anders ist - dieselben Hotels, dieselbe Küche, dieselben Städte anbietet wie bei ihnen, höchstens zusätzlich mit ein paar unumgänglichen touristischen Kuriositäten, Klischees, die aber nur ein unvollständiges Bild des Landes wiedergeben. Dazu eine Prise Folklore, wenn auch nur eine Karikatur des Landes, aber "exotisch"! Die Reisekataloge sind voll von solchen Ländern, die "am Stück" verkauft werden. Mit der Realität hat das nicht viel zu tun.
Aber wer die Chance hat, noch richtige Reisen zu machen, nicht auf den vorgegebenen Pfaden, wird sich wundern. Er wird feststellen, dass das Land in Wirklichkeit doch noch nicht uniformiert ist: Man muss nur zusehen, in Kontakt mit der örtlichen Bevölkerung zu kommen, und ein bisschen zu Fuß gehen, dann erkennt man schnell, wie sehr jedes Land, jede Region noch seine Mentalität und seine Gebräuche bewahrt hat, die im erworbenen und im gemeinsamen Gedächtnis übertragene Identität eines ganzen Volkes, auch neben MacDonalds und Globalisierung. Und da ist man dann doch erleichtert.

Wer Globalisierung sagt, sagt fast automatisch auch kulturelle Globalisierung.
Hier, wie überall, selbst im letzten Nest, zeigen die "Multiplex" Kinos die letzten Filme, die in der ganzen Welt verkauft werden.
Gleichzeitig hält aber in unserem Dorf ein Kino, das von einer Mannschaft von Freiwilligen betrieben wird, den großen Handelsgruppen stand. Und dieses kleine Kino, das an "Paradisio" aus dem italienischen Film erinnert, versammelt am Samstag Abend ganze Familien, wie zu meiner Kindheit, mit dem kleinen Unterschied, dass dieses "handwerklich betriebene" Kino dieselben Filme zeigt wie die anderen. Manchmal schon eine komische Mischung, dieses doch sehr traditions-gebundene, sehr familiäre Publikum und dann die "hard" Themen der Filme. Ich sage sogar, dass das bei Leuten aus den kleinen Städtchen so ist, die regelmäßig ins Kino gehen ohne einen bestimmten Film auszusuchen, dass da die von den großen multinationalen Gruppen "verkaufte" Massenkultur nur zu leicht eindringt.
Man könnte das ebenso vom Fernsehen (französisch = TV) sagen. Diesen Sommer wurde Frankreich vom Bazillus "TV Réalité" angesteckt, auch "TV Papierkorb" genannt. Die Sende-Reihe "Loft story" ist, kann man wohl sagen, ein trauriges Geschenk der Globalisierung. Aber dafür erfreuen sich die lokalen TV-Sender großer Beliebtheit beim Publikum, und das beweist die treue Anhänglichkeit an ihre liebe Heimat: TLM = TV Lyon-Stadt, zieht mehr Zuschauer an als CNN!
Und beim Internet, da frage ich mich, ob nicht www.bistrotducoin.com (=die Kneipe um die Ecke) die bei meinen Landsleuten beliebteste website ist.
Insgesamt gesehen, verteidigt sich die örtliche Kulturwelt sehr wohl gegen diese Flut. Man kann sie gar nicht mehr zählen, all die Vereine, Musikgruppen, kleinen Theatergruppen, die sich zusammen tun um die Dorfbewohner zu unterhalten (seit ein paar Jahren haben Freiwillige sogar ein "Internationales Theater-Festival" zuwege gebracht, das alle zwei Jahre das ganze Dorf mitreißt, und wo sogar zwei russische Gruppen teilnehmen: was für ein gutes Beispiel für erfolgreiche Globalisierung (diesmal ist sie ja uneigennützig!).
Und die "schöpferische Freizeit" kommt besser an als je zuvor, richtige Künstler gibt's da im Dorf. Noch eine Form von Widerstand gegen die durch die Globalisierung verbreitete Massen-Kultur.
Die Sprache der Globalisierung (Englisch) äußert sich bei uns ein bisschen drollig: aus dem "Handels-Café" wurde eine "Sixties' Bar", da trinkt man aber immer noch seinen Pastis und raucht unerschütterlich seine Gauloises. Andere Kneipen, die auch auf nostalgisch machen, haben sich als Dealer-Stützpunkte herausgestellt; mit der Globalisierung ist die Droge auch in unsere abgelegene Gegend eingedrungen.
Es sei noch angemerkt, dass es bei uns im Dorf Russisch-Kurse gibt. Da ist's doch schon erstaunlich, dass die Leute noch französisch sprechen - oder?
Die importierten Feste, wie Halloween, sind plötzlich in unserer zurückgezogen lebenden Gegend aufgetreten, allerdings wirken sie wie Haare in der Suppe (aber bei den Kindern kommen sie an!).
Immerhin halten sich die traditionellen Feste gut gegen die Welt-Konkurrenz, es werden sogar mehr, würde ich sagen. Und dennoch, die Folklore, die die Ältesten aufrecht zu halten versuchen (Umzüge mit Blumen-geschmückter Wagen, wie in der "guten alten Zeit") passen nicht mehr dazu, und wirken ein wenig kitschig. Doch es ist eine wenn auch unbeholfene, so doch rührende Art, die "Breschen in unserer Strandburg ab zu dichten" - lasst uns nachsichtig sein!
Wir müssen aber zugeben, dass diese Folklore nicht mehr bringt als die geschäftsmäßige Kultur der Globalisierung, denn sie ist auch nicht echt (außer, natürlich, wenn es sich um ein ernsthaftes und historisch treues Schauspiel handelt).
Auch wenn man nicht alles Unglück der Welt der Globalisierung anlasten will, sicher ist aber, dass sie schuld ist an den Umweltverschmutzungen durch die Öl-Frachter, die die Küsten verschmutzen, die bretonische Küste verunstaltet haben, auf Jahre hinaus ganze Landschaften verdorben haben usw.

Zusammenfassend möchte ich sagen: die Globalisierung hat Misstrauen und Furcht vor dem Identitäts-Verlust verursacht. Aber musste uns das dazu bringen, um jeden Preis künstlich und mit großem Aufwand die Kitsch-Folklore unserer lieben Heimat von früher wieder aufleben zu lassen? Auch zu einem nicht hinnehmbaren egoistischen Kirchturmdenken sollten wir uns nicht zurückführen lassen, in einer Zeit wo keiner verkennen kann, dass der Besitz einer Heimat ein Luxus ist. (Wie viele Leute besitzen doch nur eine kleine Ecke als Heimat, in den Flüchtlingslagern oder den Slums).
Und dennoch, die Globalisierung fordert jeden heraus, der noch "Heimat" hochhält. Und diese Herausforderung muss man annehmen, weil sonst die unersetzlichen Verschiedenheiten unserer Heimat-Gebiete durch Uniformierung verloren gehen. Lassen wir uns nicht täuschen, lassen wir uns nicht manipulieren, legen wir die Hände nicht in den Schoß. Als Bürger sind wir gewiss noch eine Macht!
Ja, nennen wir unermüdlich die Schliche einer Globalisierung beim Namen, die umso gefährlicher für unsere Heimat sind, wenn sie sich hinter der Maske einer "internationalen Modernität" verbirgt, hinter einem vorgeblichen "Fortschritt" oder sogar hinter dem "Schicksal".
Andere Generationen, vor uns, sahen sich schon mit dem Verschwinden ihrer Heimat von früher konfrontiert, die sicherlich eine frühzeitige Globalisierung schon auslöschen wollte.
Sie haben es auf sich genommen, als Zeugen für ihre Heimat aufzutreten.
Lesen Sie mal dazu, was schon in den sechziger Jahren der Schriftsteller Maurice Genevoix gesagt hat:
    "Die Bräuche der Franzosen, ihre beruflichen Tätigkeiten, ihre Art zu arbeiten und zu leben, selbst ihr Lebensrhythmus, und also auch ihre Mentalität und ihre Gefühlswelt haben sich innerhalb von drei Jahrhunderten, sagen wir mal zwischen 1600 und 1900, weniger verändert als im letzten halben Jahrhundert. Und, weit entfernt davon, hier vorhersehen zu können, wann sich das wieder beruhigen wird, wenigstens um mal Luft holen zu können, überstürzt sich, im Gegenteil, die Entwicklung geradezu. Gott allein weiß, wohin.
    Sollten wir also nicht, bei diesem Wirbel einer aufgeregten Gegenwart, die als Opfer ihres schwindelerregenden Tempos sich selbst überholt, zusehen, dass wir einen Augenblick verweilen, wo es uns möglich ist, uns eine ruhigere Welt vorzustellen, eine Welt, die gleichzeitig vergangen und gegenwärtig ist ? Gegenwärtig in dem Maße, dass wir uns ihrer bewusst sind und die vielleicht noch unsere geheimsten und tiefsten Gefühle anspricht. Es geht darum, das Gedächtnis nach rückwärts zu wenden, um einen Blick zurück zu werfen. Nehmen wir uns doch die Zeit, uns an die Heimat von früher zu erinnern. Winken wir einer vergangenen Zeit zu, oder eher einem Altlantis, einem riesigen Atlantis, das dabei ist, vor unseren Augen zu versinken, einer menschlichen Welt, die morgen auf Nimmerwiedersehen von einer Flut verschlungen sein wird und zu der wir nie mehr zurückkehren können."
Als ich begonnen habe, diese Seiten zu schreiben, hatte ich diesen Text seit langem nicht mehr gelesen. Aber glaubt mir, dass dieses Bild eines Atlantis mir immer im Sinn war, als ich berichtete, wie wir unsere Heimat nach und nach verlieren.
Mag die Flut, die unsere schöne Strandburg davonträgt, euch diese Blätter, in denen ich meine französische Heimat nachdenklich betrachte, als Flaschenpost zurückbringen.

Madeleine DAUTEUILLE, Vaugneray bei Lyon, im Oktober 2001

P.S. Mein Dank gilt Dieter Böckmann, dem unermüdlichen Übersetzer.

top  Seitenanfang      back  Zurück (Seite wird geschlossen)       Forum  Zum Diskussionsforum

Druck  Zur Druckversion



F08   Peter Joksch schrieb am 05.11.2001:

G wie Globalisierung, G wie ...


Madeleine hat einen 12 Seiten langen Brief zum Thema Heimat und Globalisierung geschrieben an dem ich einiges zu knabbern gehabt habe. Denn meiner Meinung nach werden hier einige Sachen zusammengefasst, die so nicht zusammen gehören. So beklagt Madeleine den Untergang verschiedener Industrien als Heimatverlust. Ist dem wirklich so? Wenn es heute keine Schmieden, Handwebereien, Spitzenklöpplerinnen usw. usw. mehr gibt, kann man das mit Heimatverlust gleichsetzen? Wenn Industrien sterben, weil es andere, bessere gibt oder auch weil das Management schlecht war, weil der Tante-Emma-Laden sich gegenüber dem Großmarkt nicht halten konnte, ist das Heimatverlust?
Die Heimat – als Ortsbegriff – ändert sich dadurch, sie verliert ihr bisheriges Flair, ihren Charme, aber ist sie deswegen keine Heimat mehr?
Für unsere Kinder und Enkel ist das die Heimat, auch ohne diese vergangenen Dinge.
So wie die Maschinenstürmer im 19. Jahrhundert die Industrialisierung nicht verhindern konnten, werden wir die Globalisierung nicht verhindern können. Durch das ständige zahlenmäßige Wachstum der Menschheit bleibt uns doch gar nichts anderes übrig. Wie sonst sollen die ganzen Menschen ernährt, gekleidet, versorgt werden? Auch mir haben die Äpfel vom Riesenbaum, in dem man herumklettern konnte, besser geschmeckt als die aus den heutigen "Apfelfabriken". Aber ich glaube, das ist der Preis, den wir für unseren technischen und medizinischen Fortschritt zahlen müssen. Wir können uns keine Heimat erhalten, die uns nicht ernähren und versorgen kann. Wir müssen Auswüchse bekämpfen, aber wir müssen dabei nach vorne sehen.
Im übrigen enthält der Brief so viele Gedanken, dass man auf einem realen Treffen einige Stunden darüber diskutieren könnte.
Dieter auch von mir Bewunderung und Dank für die Übersetzungsarbeit.

top  Seitenanfang      back  Zurück (Seite wird geschlossen)       Forum  Zum Diskussionsforum



F09   Volkmar Gimpel schrieb am 02.12.2001:

Zu G, wie "Globalisierung"...


Ich möchte nachfolgend einiges zu Madeleines engagierten, hochinteressanten Beitrag sagen. Es wird im Wesentlichen Kritisches sein, ohne alle ihre Argumente rundweg abzulehnen.
Ich beginne mit der Definition:
"G = Gesetz der Marktwirtschaft, das auf dem ganzen Planeten gilt."
Das ist mir doch zu einfach, es verleitet auch zu vereinfachenden Wertungen.
Deshalb halte ich mich an die Brockhaus Enzyklopädie in 24 Bänden:
"G = Bezeichnung für die Entstehung weltweiter Märkte, d.h. die zunehmende Internationalisierung des Handels, der Kapitalmärkte sowie der Produkt- und Dienstleistungsmärkte und der internationalen Verflechtung der Volkswirtschaften."
Madeleine schreibt, dass das Phänomen der Globalisierung nicht neu sei, sondern schon lange wütet, vielleicht seit immer. Im Namen des sakrosankten "Gesetzes der Wirtschaft" werde die natürliche Heimstatt des Menschen (vergleichbar mit dem "Revier" der Tiere) verformt. Wo, bitte, ist die natürliche Heimstatt des Menschen? Ich spitze diese Frage ganz bewusst zu, wissend, dass Madeleine natürlich nicht irgend etwas in ferner Vergangenheit meint. Aber wir wissen doch auch, dass unsere gesamte Umwelt seit dem Herauswachsen des Menschen aus dem Tierreich unter dem Einfluss seiner Arbeit verändert wurde und dass unsere heutigen Heimstätten und deren Kultur das Ergebnis einer Jahrtausende langen Entwicklung sind und diese Entwicklung nicht aufhören wird.
Deshalb bin ich der Meinung, dass die Globalisierung nicht per se die Wurzel aller Übel dieser Welt ist. Sie ist eine Entwicklungsstufe der menschlichen Gesellschaft. Es gibt auch keinen Kampf zwischen Globalisierung und Heimat. Ich habe deshalb in meinem einleitenden Zusammenfassungs-Entwurf geschrieben, dass die Heimat uns durch die Globalisierung nicht verloren gehen wird.
Ich ziehe nicht die vielen Beispiele, die Madeleine anführt, in Zweifel. Aber die Zeit unserer Großeltern und das aus unserer heutigen Sicht so idyllische Leben wird nicht wiederkehren, und das wollen wir doch auch nicht. Ob es uns gefällt oder nicht: die Zeit der Nationalstaaten geht zu Ende, und die nationalen Volkswirtschaften sind es weitgehend schon.
Weit schlimmer als auch die Kommerzialisierung von Heimatgefühl ist die globale Ungerechtigkeit und die zunehmende Ungleichheit zwischen reichen und armen Völkern, sind Hunger, Unterdrückung, Terror und Krieg, die durch die Auswüchse der Globalisierung und deren ungebremste Durchsetzung auf dem Rücken der so genannten dritten Welt entstehen. Die weltweiten Flüchtlingsströme und der damit verbundene Verlust der Heimat für Millionen in Afrika und Asien sollten unsere Aufmerksamkeit wecken und uns Einfluss nehmen lassen auf politische und wirtschaftliche Entscheidungen, auch in unserem eigenen Interesse.

top  Seitenanfang      back  Zurück (Seite wird geschlossen)       Forum  Zum Diskussionsforum



F10   Madeleine Dauteuille schrieb am 02.12.2001:

Antwort: Zu G, wie "Globalisierung"...


Es wäre zu lang, hier Missverständnisse klären zu wollen, die dadurch entstehen, dass unter dem Begriff "Heimat" andere Vorstellungen in Deutschland und in Frankreich sich verbergen.
Mir scheint, Frankreich ist nicht so modern wie Deutschland, nicht so aufnahmefähig, misstrauischer auch und durch seine Geschichte nicht so misshandelt worden als Deutschland.Wir haben noch ein Provinzleben, das sich gut eignet für das Beibehalten der kleinen geographischen Räume, die jeder als eine "Heimat" betrachten kann. Wir haben wenige Grossstädte.
Der Begriff "Heimat" ist bei uns weder negativ noch überholt. Auch möchte ich ein für allemal betonen, dass es sich bei mir um keine Nostalgie handelt, sondern um die Verteidigung eines Erbes, das ich HEUTE täglich noch geniessen kann.
Natürlich hat Volkmar recht, wenn er meint, die Globalisierung ist nicht an allem schuld, aber seinen Optimismus und sein Vertrauen teile ich leider nicht.
Ich zitiere, was ich heute abend im Radio gehört habe: eine Angestellte der Firma Michelin, die eben einen Film über diesen Betrieb gedreht hat, behauptete: "Man sollte nicht von Globalisierung sprechen sondern von der Privatisierung der Welt durch etwa hundert Familien." Sie fragte weiter: "Wenn man von Globalisierung spricht, sollte man sich erst die Frage stellen, wer profitiert von dem Verbrechen?" So radikal will ich nicht sein, weil eine solche Behauptung eine bessere Kenntnis der Wirtschaft voraussetzt als meine. Aber skeptisch bin ich schon ... Wenn Sprache, Lebensart, Nahrung, Umwelt (denken wir an Kyoto!) bedroht sind, dann ist unsere Heimat auch bedroht, die ja kein kindisches Phantasma ist sondern eine ganz konkrete Realität.
Natürlich kann man sich beruhigen, indem man von "Auswüchsen" spricht und alles Übrige an der Globalisierung begrüßt: das mache ich auch, jedesmal, wenn ich mich freue z.B. über eine internationale kulturelle oder sportliche Veranstaltung, die meine Heimat weltoffener macht: sowas hat aber gar nichts zu tun mit wirtschaftlicher Globalisierung oder? (ich kann mich da irren!)
Ich bin überzeugt, dass wir dasselbe Ideal haben, dass wir uns kein Verschwinden des wichtigsten Reichtums unserer Erde wünschen, und zwar der Mannigfaltigkeit der Welt. Wer für seine Heimat, als Bürger, mit seiner Wahlzettel oder sonst kämpft, arbeitet gleichzeitig an dem Überleben der Heimat der Mitmenschen, sonst wäre es Nationalismus im schlimmsten Sinne des Wortes.
Aber man sollte sich nicht schämen aus Angst als Nationalist oder Chauvinist abgestempelt zu werden, seine Heimat zu lieben, wie sie ist d.h. nicht schöner als eine andere, vielleicht sogar weniger schön, nicht starr, sicher nicht "rein" - wieviele Ausländer sind zu Mitbürgern geworden! - den ausländischen Einflüssen ganz zugânglich also, aber auch nicht zu verkaufen!

top  Seitenanfang      back  Zurück (Seite wird geschlossen)       Forum  Zum Diskussionsforum



F11   Dieter Böckmann schrieb am 06.12.2001:

Heimat und Globalisierung


Ich möchte nun auch noch etwas zum Thema "Heimat und Globalisierung" sagen, vor allem zu den beiden Forums-Beitraegen vom 02.12. (Volkmar und Madeleine), zumal ich ja Madeleines 12-Seiten-Beitrag von Ende Oktober übersetzt habe.
Sowohl Peter (am 05.11.) wie auch Volkmar weisen richtig darauf hin, dass in Madeleines Beitrag viel Interessantes steht, über das sich zu sprechen lohnt, sogar Stoff für ein reales Treffen liefern könnte, aber ...
Was "Globalisierung" ist, wissen wir ja - Volkmar hat die präzise Definition geliefert. Und dass sich die Welt (und damit auch unsere Heimaten) verändert und weiter entwickelt, wie schon immer (auch ohne Globalisierung gab und gibt es Fortschritt der Technik und Konkurrenz, wurden Handwerke durch Industrien ersetzt, wurden Fabriken geschlossen und woanders neue gebaut). Und dass dies nicht aufzuhalten ist, wissen wir auch alle. Nur lese ich aus Madeleines Beitrag, dass sie, wenn sie der Globalisierung Schuld an vielen Veränderungen und Entwicklungen gibt, dabei sicherlich oft zu weit gegangen ist (ihre Definition von Globalisierung ist zu knapp und zu allgemein) - und sie sagt ja auch, dass Wirtschaftler das wohl anders sehen.
Andererseits prophezeie ich aber nicht wie Volkmar (02.12.) das Verschwinden von nationalen Staaten. Legt doch die EU (man kann das in den aktuellen europäischen Verträgen nachlesen) größten Wert darauf, die Mannigfaltigkeit der Sprachen und Kulturen (und der Regionen) der Mitglieds-Länder zu bewahren.
Dass wir Veränderungen oft nicht nur zur Kenntnis nehmen, sondern auch wehmütig bedauern, weil Charakteristika ganzer Gebiete nur noch in Museen betrachtet werden können, ist ja wohl wahr. Oder - Madeleine führt eine Reihe Beispiele dazu auf - dass sich ganze Landschaften, und ihre besonderen Erzeugnisse, auch bestimmte Käse- oder Gemüsesorten, selbst ihre Speisen und Gerichte, heute zu Markenartikeln machen, um überleben zu können, indem sie "am Markt" verkauft werden. Und das, was dabei untergeht? Da verlieren wir etwas, was einmal Bestandteil einer Heimat war, es lebt nur noch in der Erinnerung. Aber nicht mehr in der Wahrnehmung der jungen Generationen - die sehen ihre Heimat eben so, wie sie sie jetzt erleben.
Es ist auch richtig, dass, was früher die Zeit von Generationen brauchte, sich heutzutage oft in atemberaubenden Tempo abspielt, und dann meist auch gleich weltweit.
Madeleine beschreibt aber auch, gerade hinsichtlich der Jugend, wie Rave-Parties und Halloween durchaus noch nicht die alten Feste und Fußball und Vereine aller Art und Pilze-Sammeln und Musik- und Theater-Spielen verdrängt haben. Und sie sagt, dass es bei Trachten-Darstellungen oft um die ehrliche Bewahrung von Traditionen geht, wenn auch die Grenze zu Kitsch (ja kommerzieller Ausnutzung) oft schwer zu ziehen ist.
Auf noch ein Argument von Madeleine möchte ich eingehen:
"Franzosen sehen "Heimat und Globalisierung" anders als die Deutschen". - Dass Franzosen Heimat anders sehen und empfinden, wissen wir aus ihrem Beitrag A22, aus ihren Fragebogen-Antworten und Äußerungen im Forum. Aber das heißt nicht, dass auch Bedeutung und Auswirkungen der "Globalisierung" grundsätzlich in unseren beiden Ländern unterschiedlich beurteilt werden. Vielmehr ist es so, dass sowohl in Deutschland, wie auch in Frankreich, die Ansichten zur Problematik der Globalisierung sehr unterschiedlich sind.
Zu den beiden "Bildern", mit denen Madeleine ihren 12-Seiten-Beitrag einleitet: Weihnachtsbäume aus Plastik kenne ich zwar nicht, aber die Darstellung von Kampf und Spiel (um Heimat) durch die "Sandburg" beeindruckt mich wegen ihrer, fast dichterischen, Ausdruckskraft.

top  Seitenanfang      back  Zurück (Seite wird geschlossen)       Forum  Zum Diskussionsforum



F12   Volkmar Gimpel schrieb am 16.12.2001:

Nationalstaat


Ich will mich nur noch einmal kurz zum Problem Nationalstaat äußern.
Dieter möchte sich nicht meiner Meinung anschließen, dass die Zeit der Nationalstaaten zu Ende geht. Das ist sein gutes Recht. Er begründet seine Meinung damit, dass die Beschlüsse und Verträge der EU die Bewahrung der Mannigfaltigkeit der Sprachen, Kulturen und Regionen fordern. Hier scheint mir ein Missverständnis vorzuliegen.
Sprache und Kultur z.B. sind nicht gleichbedeutend mit dem (National-)Staat, sondern Merkmale einer Nation. Ich habe aber nicht behauptet, dass die Zeit der Nationen zu Ende geht. Die werden bestehen bleiben, bis sie vielleicht in sehr ferner Zukunft durch die Vermischung der Ethnien in größeren Gebilden aufgehen.
Der Staat hingegen ist eine politische Organisation mit Souveränität nach innen und außen, als Nationalstaat im Rahmen der Grenzen des Siedlungsgebietes einer Nation. Die modernen Nationalstaaten in Europa sind im Wesentlichen im 19./20. Jahrhundert entstanden. Sie übten und üben ihre Hoheitsrechte - Schutz der Staatsgrenze gegen äußere Feinde, Schutz der nationalen Wirtschaft durch Zölle, Schutz der Währung, Staatsbürgerschaft, Wahlrecht, Organisation der Verwaltung, der Justiz ... die Beispiele ließen sich fortsetzen - im Rahmen der nationalen Grenzen aus.
Und hier hat sich in den letzten Jahren im Rahmen der EU Bemerkenswertes ereignet. Es gibt Freizügigkeit beim Reisen innerhalb des EU-Gebietes, bei der Wahl des Arbeitsplatzes und des Wohnsitzes, es besteht ein gemeinsamer Binnenmarkt ohne Zollschranken, wir haben eine gemeinsame Währung, die wir in wenigen Tagen auch täglich ganz selbstverständlich nutzen werden, die Nationalbanken haben ihre Aufgaben an die Europäische Zentralbank abgetreten. Es wird eine Koordinierung in der Außen- und Sicherheitspolitik angestrebt, gemeinsame Einsatzkräfte aufgebaut, die Harmonisierung des Steuerrechts soll erreicht werden usw. usw. Alles das war und ist nur möglich mit dem freiwilligen Verzicht auf Teile nationalstaatlicher Souveränität. Notwendig wird das vor allem durch die wirtschaftliche Entwicklung und die veränderte internationale Situation.
Dieser Prozess wird weitergehen - gerade haben in Brüssel die Regierungschefs der EU die Einsetzung eines Konvents beschlossen, der die nächsten Schritte auf diesem Weg beraten soll bis hin zu einer europäischen Verfassung. Das ist kein Widerspruch zur Erhaltung der Vielfalt von Sprachen, Kulturen und Regionen, die sich mit der Aufnahme neuer Mitglieder noch erweitern wird.
Genau das meine ich mit meiner Behauptung, dass die Zeit der Nationalstaaten zu Ende geht. Wir werden den Abschluss dieses Prozesses mit Sicherheit nicht erleben, dazu wird es noch einige Generationen brauchen. Aber wir erleben ihn als Zeitzeugen.

top  Seitenanfang      back  Zurück (Seite wird geschlossen)       Forum  Zum Diskussionsforum



F13   Dieter Böckmann schrieb am 22.01.2002:

Heimat im Zeitalter der Globalisierung


In der Stuttgarter Zeitung vom 22.01.2002 stand folgender Artikel, den ich für unser Thema als wichtig ansehe:

Das 21. Jahrhundert ist, so scheint es, das Jahrhundert der Globalisierung. Große Unternehmen müssen heutzutage auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig sein. Motto bei alledem: More global. Konzerne wie Daimler-Chrysler fusionieren über den Großen Teich hinweg; die Mitarbeiter pendeln jetzt nicht mehr zwischen Uhingen und Untertürkheim, sondern zwischen Stuttgart und Detroit. In den Supermärkten gibt es das ganze Jahr über frische Früchte - der Handel überlistet die Jahreszeiten. Satellitenfernsehen und Internet kennen ohnehin keine Grenzen: herzlich willkommen im weltweiten Netz. Der Globus als neue Heimat also? Entwickelt sich die vertraute Umgebung zum Auslaufmodell? So paradox es zunächst klingt: Durch den Trend, immer mehr in weltumspannenden Kategorien zu denken, gewinnt das Lokale, gewinnt die Region in mehrfacher Hinsicht an Bedeutung.
Es ist kein Zufall, dass die Internationalisierung auch zeitlich einherging mit einer Besinnung auf das unmittelbare Umfeld. Das Plädoyer für einen planetarischen Patriotismus lässt sich nämlich auch umkehren, wie der Tübinger Kulturwissenschaftler Hermann Bausinger vor kurzem überzeugend dargelegt hat: Weil die Verbindungen weiträumiger, die früher festen Horizonte durchlässiger geworden sind, die Welt gleichwohl unübersichtlicher geworden ist, entsteht ein Bedürfnis nach einem gesicherten Raum, in dem sich der Mensch zurechtfindet. Die meisten Menschen surfen nicht um den Erdball. Sie leben an einem Wohnort, sind gebunden an eine Region und angewiesen auf eine gute, lebendige Nachbarschaft.
Pikanterweise ist es ausgerechnet einer der erfolgreichsten deutschen Wirtschaftsführer, der Porsche-Chef Wendelin Wiedeking, der auf die Grenzen der Globalisierung verwiesen hat. Es werde die Tatsache unterschätzt, dass viele Beschäftigte durch Übernahmen oder Fusionen ein Stück Identität verlören, sagt der Spitzenmanager - und trifft damit einen wunden Punkt des globalen Spiels. Was Wiedeking meint, hat nichts gemein mit dem pathetischen, im Dritten Reich missbrauchten Heimatbegriff. Aber Mitarbeiter, die sich zu Hause, die sich aufgehoben fühlen, sind ein wichtiges Moment für den ökonomischen Erfolg. Denn die so genannten Standortvorteile, mit denen Wirtschaftsmetropolen - auch die Region Stuttgart - um die Ansiedlung neuer und den Erhalt bestehender Arbeitsplätze werben, bestehen ja nicht nur aus Produktionsfaktoren, sondern auch aus dem, was das Leben an einem Ort und seiner Umgebung angenehm macht.
Globalisierung ist nicht alles, sie wird vielmehr begleitet von einer Gegenbewegung, der Besinnung aufs Lokale. More global, aber auch more local.

(... dann folgen noch Bemerkungen zur Region Stuttgart ...)

top  Seitenanfang      back  Zurück (Seite wird geschlossen)       Forum  Zum Diskussionsforum