Internet als Brücke zur Welt

10 Jahre Verein „ViLE“ Internet als Brücke zur Welt
Das soziale Netzwerk begeistert Senioren/-innen und schafft echte Gemeinschaften - virtuell und in der Realität.
Von Ingo Leipner (Textagentur EcoWords)

„Als ich mit 75 Jahren meine Magisterarbeit geschrieben habe, tippte ich alle Texte auf einer elektrischen Schreibmaschine“, erzählt Erna Subklew. Dann schenkten ihr die Kinder vier Stunden Computer- Unterricht – und einen gebrauchten PC. Klar, dass sie damit ihre Promotion verfasst hat.. Thema: „Wie hilft muttersprachlicher Unterricht bei der Integration türkischer Kinder?“
Die heute 89-jährige hatte an der Frankfurter Goethe-Universität drei Fächer studiert: Kulturanthropologie, Turkologie und Erwachsenbildung. „Da habe ich auch arabische und kyrillische Schriftzeichen gelernt“, erinnert sich die ehemalige Grundschullehrerin, die sich auch für das Internet begeistert. Seit zehn Jahren engagiert sie sich als Senior-Online-Redakteur/-in.  Das Online-Journal, für das sie sich  engagiert, heißt  „Lerncafe“. Es wird von ViLE herausgegeben und wendet sich speziell an ältere Erwachsene, ist  aber auch für Jüngere interessant. Die thematische Vielfalt ist groß: „Kulturraum Europa“, „Gentechnik“, „Bürgerschaftliches Engagement“ oder „Vom Steinzeitmesser zur Bionik“ – so hießen ein paar der Oberthemen in den letzten Jahren.
Gerade ist die 60. Ausgabe erschienen, das aktuelle Thema war „Familie“. Erna Subklew hat in ihrem Beitrag herausgearbeitet, wie die rechtlichen Grundlagen einer Familie aussehen. Und im Februar 2013 nimmt sie wieder einmal  an einem virtuellen Seminar teil, weil sie lernen will, mit ihrer Tastatur besser umzugehen. Denn: Eine gute Ausbildung gehört zum Konzept des „Lerncafes“, für das 27 Senior-Online-Redakteur/-innen Beiträge schreiben. Sie wohnen alle verstreut über das ganze Bundesgebiet, wobei neue Redakteur/-innen jederzeit willkommen sind! Jeder kann bei Null starten – und das Handwerk des Online- Journalismus kennen lernen (www.lerncafe.de).

„Alter der Selbsterfüllung“
„Lerncafe“, virtuelle Seminare? Hinter diesen vielfältigen Aktivitäten steht der Verein „ViLE“, bei dem Erna Subklew von der ersten Stunde an dabei ist. Im Dezember  2012 wurde „ViLE“ zehn Jahre alt – und die Abkürzung steht für
„Virtuelles und reales Lern- und Kompetenz-Netzwerk älterer Erwachsener“ (www.vile-netzwerk.de). Die Vorsitzende des Vereins ist Carmen Stadelhofer, die die Zielgruppe des Vereins so beschreibt: „Wir richten uns mit unseren Projekten an Menschen, die ihr drittes Lebensalter bewusst gestalten wollen“. Der Begriff „drittes Lebensalter“ geht auf den englischen Soziologen Peter Laslett zurück, der diesen Lebensabschnitt das „Alter der Selbsterfüllung“ nennt. Es beginnt nach einer aktiven Familien- und Berufsphase: Die „jungen Alten“ verfügen in der Regel über selbstbestimmte Zeit sowie eine Fülle von Kompetenzen und Lebenserfahrung. Sie sind sehr an neuen Inhalten interessiert - alles Voraussetzungen, um im Leben neue Freiräume zu entdecken und zu nutzen. Dabei gibt es für „junge Alte“ keine Altersgrenze nach oben, die Mitglieder von ViLE sind zwischen 50 und 89 Jahre alt.

Auf ihren ersten Entdeckungsreisen begleitete die weiterbildungsinteressierten Senior/-innen das Team vom ZAWIW, dem „Zentrum für Allgemeine Wissenschaftliche Weiterbildung der Universität Ulm“. Diese Einrichtung entwickelt und erprobt  seit 1994  „innovative Bildungsangebote für (ältere) Erwachsene“, wobei es immer um eine nachhaltige Wirkung geht (www.zawiw.de).  Das Internet war dabei ein großes Thema - und der Verein ViLE ist 2002 aus dem ZAWIW-Modellprojekt „Gemeinsam lernen übers Netz“ entstanden.

Virtueller Literaturkreis
Auch Erna Subklew ergriff diese Chance, sich eine neue Welt zu erschließen: „Zunächst halfen mir die angebotenen Kurse, den Weg ins Internet zu bewältigen. Heute ist es der virtuelle Literaturkreis, der mir viel Freude macht“,berichtet die 89-jährige. Mit rund zehn Frauen hat sie sich zusammengeschlossen, um in einem Online-Forum Eindrücke und Meinungenauszutauschen. Grundlage ist dafür ein Buch, das die Frauen vorher gemeinsam auswählen. Und einmal im Monat gibt es ein Treffen in der realen Welt, weil alle Beteiligten aus dem Großraum Frankfurt kommen. Aktuell beschäftigt sich der Literaturkreis mit dem Buch: „Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?“, das der Philosoph Richard David Precht geschrieben hat.

„Neugier auf lebenslanges Lernen“
Dieser Literaturkreis zeigt wie viele andere Online-Projekte: „Die Menschen bei ‚ViLE’ sind offen für Bildung, sozial kontaktfreudig und sehr an bestimmten Themen interessiert“, so Carmen Stadelhofer. Das Internet sei dabei nur ein „Arbeitsmittel“: „Wir suchen immer nach einer geeigneten Nutzung, um den dritten Lebensabschnitt besser zu gestalten“. Wichtig sei dabei die „Neugier auf lebenslanges Lernen“. Im Vordergrund stehen Inhalte - soziale Kontakte ergeben sich von selbst, sobald thematische Cluster entstehen. Zum Beispiel in Lübeck, wo sich eine ViLE-Gruppe intensiv mit Erneuerbarer Energie beschäftigt. „Es entwickelt sich eine Nähe, ohne dass man aufeinandersitzt“, sagt die Vorsitzende
des Vereins, „alle können beliebig abgestuft ihr soziales Umfeld steuern und gestalten.“

So bekommt bei „ViLE“ der strapazierte Begriff „soziales Netzwerk“ eine tiefere Bedeutung: Die rund 140 Mitglieder des Vereins suchen sich für bestimmte Themen virtuelle Partner/-innen, organisieren online ihre Projekte und veröffentlichen im Internet, welche Resultate sie erreicht haben. Dabei kommt es zu einer Vielzahl virtueller und realer Begegnungen – verstreut über ganz Deutschland. „‘ViLE‘ lebt mit und für seine Mitglieder“, sagt die zweite Vorsitzende, Margret Budde. Der Verein sei eine „starke Gemeinschaft“ geworden. Er gibt vielen Menschen die Chance, Mitstreitende zu gewinnen, die mit ähnlichen Interessen im Leben stehen. „Wir freuen uns immer über neue Mitglieder“, so Margret Budde, „denn bei uns hat jeder die Möglichkeit, das Internet von der Pike auf zu lernen und zu einem Instrument der sozialen Vernetzung zu machen.“

„Alt-Jung-Projekte“
„Das bereichert sehr mein Leben“, stellt auch Elsa Koch fest. Sie hatte keinen leichten Start bei „ViLE“,  als sie bei ihrem ersten „Alt-Jung-Projekt“ mitmachen wollte: „Plötzlich habe ich gemerkt, das geht alles über das Internet. Da habe ich mich gleich wieder abgemeldet“, berichtet die ehemalige Verwaltungsangestellte. Sie dachte, in ihrem Alter auf keinen Fall mehr ins Internet einsteigen zu können … Doch Carmen Stadelhofer überzeugte sie vom Gegenteil. „Heute bin ich sogar bei einer Facebook-Gruppe“, berichtet Elsa Koch schmunzelnd.
Und das „Alt-Jung-Projekt“? Es ging um das Jugendbuch „Kalte Zeiten“ von Werner Toporski. Der Inhalt: Das junge Mädchen Lena erlebt in Polen Flucht, Vertreibung und Zwangsarbeit, als der 2. Weltkrieg zuende ist. Beteiligt waren 28 Schüler/-innen der Klasse 9c (Elly-Heuss-Realschule, Ulm) – und 13 Senioren/-innen aus ganz Deutschland, die virtuell in die Rolle von „Lesepat/- innen“ schlüpften. Alle Teilnehmer/-innen stellten über sich kurze „Steckbriefe“ ins Netz, dann kam es in einem Internetforum zu einem regen Austausch: „Die Schüler haben mir viele Fragen gestellt, da ich ein ähnliches Schicksal hatte“, erzählt Elsa Koch. Als Kind musste sie mit ihrer Familie 1945 aus Ungarn fliehen.

Ein reales „Erzählcafé“ rundete das Projekt ab: Der Autor des Buches, selbst Senior, kam in die Schule, genauso wie die Lesepaten und die reale „Lena“, deren Biographie Grundlage für das Buch gewesen ist. Das Fazit der Schülerin Ceyda: „Es lohnt sich immer für Ältere, mit Jüngeren ins Gespräch zu kommen.
Ich sehe es als eine Bereicherung für mich an, zu erfahren, was sie bewegt.“ Und Elsa Koch freut sich ebenfalls über das gelungene Projekt: „Mit drei Schülerinnen habe ich heute noch Kontakt.“ (Broschüre zum Alt-Jung-Projekt „Kalte Zeiten“: https://www.kojala.de/sites/default/files/kalte_zeiten-broschuere-web.pdf)

Videos und Kunstwerke
Die ehemalige Verwaltungsangestellte geht auch noch auf Reisen, zusammen mit Carmen Stadelhofer und 13 weiteren aktiven Senior/-innen war sie gerade in Vukovar und Belgrad. Der Grund war die europäische Lernpartnerschaft  „Danube Stories“, deren Koordination das ZAWIW übernommen hat. Thema sind mündlich überlieferte Geschichten aus der Donau-Region, die Menschen ab 55 Jahren sammeln und aufbereiten. Die Seniorengruppen kommen aus sieben Ländern: Deutschland, Österreich, Ungarn, Kroatien, Bulgarien, Rumänien und Serbien. Was sie herausfinden, dokumentiert eine Website, und zwar in Form von Geschichten, Interviews oder Videos (www.danube-stories.eu).

Elsa Koch hat sich auch in diesem Projekt engagiert: „Gedichte und zwei Geschichten habe ich geschrieben“. Ihre Enkelin Sarah hat sie ins Englische übersetzt, denn das ist die gemeinsame Sprache des Projekts. „In Vukovar haben wir an einem Partnertreffen teilgenommen“, berichtet Elsa Koch. Denn das Projekt soll Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft zusammenführen, wobei natürlich Sprachbarrieren zu überwinden sind. Daher sucht „ViLE“ Menschen zur Mitarbeit, die ihre Fremdsprachenkenntnisse aktivieren und in die Projekte einbringen möchten. Im Projekt „Danube Stories“ ist Englisch zwar die gemeinsame Sprache. Aber es wäre hilfreich, weitere Teilnehmende aus dem Donau-Raum zu gewinnen, die eine der dortigen Sprachen sprechen. Es gibt aber auch andere europäischer Projekte und Kontakte, bei denen Kenntnisse in fremden Sprachen gefragt sind. „Diese Sprachkenntnisse sind aber keine Voraussetzung, um sich an diesen Aktivitäten zu beteiligen“, so Carmen Stadelhofer. Vor allem würde es auf Offenheit und Neugier ankommen, denn es geht in erster Linie um Begegnungen mit Älteren (und jüngeren) Menschen aus anderen Ländern.

Geschichte jüdischer Friedhöfe
Für Geschichte interessiert sich auch der ehemalige Industriekaufmann Dietrich Bösenberg. Seinen Einstieg ins Internet machte er bei ZAWIW, bald wurde er Internet-Tutor - und zeigte Gleichaltrigen, wie ihre ersten Schritte im Netz aussehen können. Dabei lernte Dietrich Bösenberg das Internet besonders schätzen, und zwar als Instrument zur Recherche komplexer Themen. Sein nächster Schritt: Er gründete bei „ViLE“ ein „Netzwerk im Netzwerk“, um jüdische Friedhöfe in Deutschland zu erforschen. Ausgangspunkt war sein Senioren-Studium an der Universität Ulm; auf Wanderungen im „Nördlinger Ries“ entdeckte er viele jüdische Friedhöfe. Er begann sie zu fotografieren, ihre Geschichte zu dokumentieren – und nutzte das Internet als Plattform, um seine Forschungsergebnisse zu veröffentlichen.

In den letzten zehn Jahren konnte er 30 bis 40 Mitstreitende gewinnen, die in ganz Deutschland die Suche nach jüdischen Friedhöfen aufnahmen. „Inzwischenhaben wir über 75 Friedhöfe beschrieben“, berichtet Dietrich Bösenberg. Zur Dokumentation hat er ein einheitliches Design entwickelt, in dem alle Beiträge auf seiner Projektwebsite bei ViLE gestaltet sind (www.vile- netzwerk.de/projekte.html). „Dass sich Senioren mit jüdischer Geschichte beschäftigen, ist nicht selbstverständlich“, erklärt er. Daher sucht er immer noch Menschen, die an diesem speziellen Forschungsfeld Interesse haben.
Virtualität und Realität gehen auch bei seinem Projekt Hand in Hand – so wie es bei den vielen anderen ViLE-Aktivitäten der Fall ist. Dietrich Bösenberg: „Es kam immer wieder zu persönlichen Treffen, wobei regelrechte Freundschaften entstanden sind.“

Vielzahl von Aktivitäten
Der Verein „ViLE“ steht für Bildung und soziale Vernetzung
Der Verein „ViLE“ zeichnet sich durch eine große Aufgeschlossenheit aus. Seine Mitglieder begeistern sich immer wieder für aktuelle gesellschaftliche Themen, aber auch für neue Medien und Technologien. Das zeigt sich bei dem jährlichen Seminar, das in der Faschingswoche in Bad Urach stattfindet. Das Thema 2013: „Islam/Islamismus“. Dabei arbeitet „ViLE“ mit der „Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg“ und dem ZAWiW zusammen, weiterhin gibt es an anderen Orten immer wieder Seminare aus dem Themenkreis: Kultur, Sozialpolitik, Verantwortung, Geschichte und Zukunft. Ein Beispiel: 2012 trafen sich Interessierte bei einem Seminar in Mecklenburg-Vorpommern, um die Schwierigkeiten beim Transformationsprozess in Polen zu diskutieren.
Parallel stellt der Verein Programme auf die Beine, um den Umgang mit neuen Medien wie dem Internet zu vermitteln. Eine erfolgreiche Verbindung von Theorie und Praxis: Ohne jegliche Vorkenntnisse haben auf diese Weise viele Mitglieder gelernt,  das Internet aktiv zu nutzen, wozu auch Skype und  Lernplattformen gehören.

Im Laufe des Jahres bietet „ViLE“ auch Reisen an, die zum Teil ins Ausland führen. Diese Reisen haben immer einen thematischen Schwerpunkt. Sie sind so organisiert, dass es vor Ort zu Begegnungen mit anderen Senior/-innen kommt. Und der Verein bietet noch mehr: Gemeinsame Besuche von Konzerten und Museen sowie attraktive Städtetouren.

Die virtuelle und reale Vernetzung hat in den letzten Jahren viele, stabile freundschaftliche Beziehungen entstehen lassen – in Deutschland und mit dem europäischen Ausland.  Interessierte sind herzlich zur Kontaktaufnahme eingeladen (info@vile-netzwerk.de).

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