Die „Schwabenkinder“
                               von Sibylle Sättler
Ehemalige Schwabenkinder leben und berichteten: „Daheim wären wir verhungert - Kinderarbeit in Schwaben". So titelte die Begleitdokumentation zur TV-Gemeinschaftsproduktion aus Österreich, Deutschland, der Schweiz und Italien im Jahre 2003.

Wer waren die „Schwabenkinder"?

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Ein düsteres Kapitel der Geschichte: Aus den Gebieten des Ausserfern (NW-Tirol) sowie dem restlichen Tirol, aus Vorarlberg und der Schweiz wurden seit Anfang des 17. Jahrhunderts bis etwa 1950 alljährlich die Kinder der Armen nach Schwaben geschickt, um sich dort von Frühjahr bis Herbst als Arbeitskräfte zu verdingen. Es waren regelrechte „Kinderzüge" von manchmal fünf- bis sechstausend Kindern im Alter zwischen sieben und vierzehn Jahren, die sich wiederkehrend im März über zum Teil noch tief verschneite Alpenpässe, notdürftig gekleidet, nach Norden aufmachten. Ihr Besitz bestand aus etwas Wegzehrung und dem, was sie auf dem Leibe trugen. Begleitet wurden sie von einem Erwachsenen, manchmal auch einem Geistlichen, der unterwegs für Quartier sorgte und Marktpreise aushandelte. Verpflegung musste erarbeitet oder erbettelt werden.

Geschichte des Ausserfern
Als Ausserfern bezeichnet man den Bezirk Reutte in Tirol. Das Ausserfern, der Name bedeutet „Hinter dem Fern(pass)", ist eine Region, die vom restlichen Tirol durch den Fernpass völlig abgeschnitten ist. Aus dem Norden wurde das Gebiet nach dem Fall des Römischen Reiches von den Schwaben besiedelt. Seitdem gab es immer eine starke Verbindung zu den Nachbarn im Norden.
Vorläufer der „Kinderzüge" nach Norden waren die Wanderungen von Erwachsenen, laut älteren Chroniken und kirchlichen Mitschriften, die sich auf Einträge bis vor circa 500 Jahren im Tiroler Oberland und in Vorarlberg rückverfolgen lassen. Gefördert wurde in den heimischen Gemeinden eine Ausbildung im Handwerk. Der fertigen Gesellen konnte man sich entledigen, man schickte sie in die Ferne, um dort ihr Brot zu verdienen.

Warum Kinder als „Schwabengänger"?
Der karge Boden im Verbund mit dem rauen Klima in den heimischen Bergregionen konnte die wachsende Bevölkerung mit ihren kinderreichen Familien nicht mehr ernähren. Die damals gängige Erbteilung führte zur Zersplitterung der Höfe; die Bauern waren zum Teil nur Landarbeiter auf gepachtetem Boden. Der Ertrag auf den Gütern fiel oft dürftig aus, und Missernten verschlimmerten die Lage zusätzlich. Es wird berichtet, dass in Reutte auch zu „normalen" Zeiten der Ernteertrag gerade einmal für ¼ Jahr reichte. Auch die Viehzucht brachte nicht genug ein. Die Anwohner lebten in bitterster Armut und drohten zu verhungern. Nur so ist zu verstehen, dass Eltern ihre oft noch kleinen Kinder zur Arbeit auf die Wanderung ins Ausland schickten. Mit dem erarbeiteten Lohn der Kinder konnten sie wenigstens teilweise Schulden und Steuern bezahlen.

Die Kindermärkte
Ziel der „Kinderzüge" oder der „Schwabengängerei" waren die Kindermärkte. Hier wurden die Kinder regelrecht verkauft, teilweise wie Vieh gehandelt, so in Wangen, Ravensburg, Bad Waldsee, Tettnang und Friedrichshafen in Württemberg, im Badischen in Pfullendorf und Überlingen und im Bayerischen Allgäu in Kempten. Ravensburg war der größte Kindersklavenmarkt. Gehandelt und gefeilscht wurde nach dem Motto: „Was soll der/die kosten?" Antwort: „Fünfzehn und Gewand". Handelseinig wurde man bei: „Dreizehn Gulden!"
Auch zu schweren Arbeiten in der Haus-, Land- und Forstwirtschaft wurden die Kinder verpflichtet, oft geschunden oder missbraucht. Gearbeitet oder geschuftet wurde 12 Stunden am Tag. Im Herbst wurden sie entlohnt mit „... einem Kleitle und ein bizle Gelt", das in manchen Fällen das einzig verfügbare Bargeld einer Familie ausmachte.

Warum nach Schwaben?
Auf der anderen Seite entstanden im 18. Jahrhundert in Oberschwaben durch neue Landaufteilung und erbrechtliche Vorschriften große Landwirtschaftsbetriebe mit Bedarf an Arbeitskräften. Die Kinder aus Tirol, Vorarlberg und Graubünden wurden von den katholischen Gutsbesitzern den evangelischen Saisonarbeitern und Kindern aus dem schwäbischen Unterland vorgezogen. Dazu kam 1836 in Württemberg die allgemeine Schulpflicht, die aber nur für einheimische Kinder galt, die jetzt nicht mehr für die Arbeit zur Verfügung standen. So bediente man sich der ausländischen Kinder. Die „Kinderzüge" aus Österreich und der Schweiz erreichten einen neuen Höhepunkt. Obwohl Österreich das erste Land mit Einführung der allgemeinen Schulpflicht war, wurde vielfach durch Ausnahmeregelungen der Schulbesuch unterlaufen.

Nutzen auf der ganzen Linie!
Es ist ersichtlich, dass viele von der Kindersklaverei profitierten. Es gab zwar inzwischen kritische Stimmen, aber im Großen und Ganzen sollte es so weitergehen wie gehabt. Alle waren entlastet: Die Eltern der „Schwabenkinder", Staat und Gemeinden, denen sie nicht auf der Tasche lagen, die Bauern in Oberschwaben mit billigen Arbeitskräften versorgt, und zu guter Letzt hatten viele „Schwabenkinder" zum ersten Mal in ihrem Leben genug zu essen.

Veränderung zum Guten
In den 1890er Jahren unterstützten viele Geistliche die Gründung eines „Vereins zum Wohle der auswandernden Schwabenkinder". Dieser Verein organisierte ein  bequemeres Passieren der Alpenpässe, sofern möglich auch per Eisenbahn und Pferdewagen. Außerdem wurde durch den Verein erstmals gefordert, die „Schwabenkinder" bei ihrer Arbeit gut zu behandeln und ihnen den vereinbarten Lohn zu zahlen.
War bis dato die Existenz der „Kindermärkte" der breiten Öffentlichkeit nicht bekannt, so errang 1903 durch die Diskussion eines im Deutschen Reichstag eingebrachten Gesetzentwurfs zum Verbot der Kinderarbeit das Problem große Aufmerksamkeit. Das Kinderschutzgesetz, das später verabschiedet wurde, nahm aber ausdrücklich die in der Land- und Forstwirtschaft arbeitenden Kinder aus.
1908 nahmen sich amerikanische Zeitungen der „Kindermärkte" in Oberschwaben an und erreichten in Deutschland wenigstens kurzfristig öffentliche Beachtung.

Rückgang und Ende der „Schwabengängerei"
1915 wurden die Kindermärkte abgeschafft, aber erst die Einführung der allgemeinen Schulpflicht 1921 auch für ausländische Kinder in Württemberg - per Abkommen zwischen der Republik Österreich und dem Land Württemberg - setzte der „Schwabengängerei" von einem Jahr zum anderen ein Ende. Nur einzelne Kinder sollen bis in die 1950er Jahre noch bei wohlhabenden Bauern in Schwaben und im Allgäu gearbeitet haben. Aber die großen Kinderströme gab es nicht mehr.

Zeitzeugen der „Schwabengängerei"
Wer neugierig auf Zeitzeugen der „Schwabengängerei" ist, kann bei einem Besuch im Ausserfern die Geschichte der „Schwabenkinder" auf einer Freilichtbühne in einer Klamm wahrheitsgetreu nacherleben. In vielen Kirchen und kleinen Kapellen sind die Schutzpatrone der Kinder zu sehen. Und jede Menge Literatur gibt es zum Thema.

Links
Die Schwabenkinder

Das Ausserfern
 
Literatur zu den Schwabenkindern
 
Bericht aus dem Ausserfern über die Schwabenkinder

 
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