von Liane Rohn Aus dem grünen Herzen
Deutschlands, dem evangelisch geprägten Thüringen, ins westdeutsche katholische
Schwabenland Württemberg verschlagen worden zu sein, wirkte anfangs wie ein
Kulturschock: sprachlich, konfessionell und besonders sozial.
Die
Flucht
Schneekopf im Thüringer Wald; Wikimedia Commons
Mein Mann wurde wegen staatsgefährdender Äußerungen und Staatsverleumdung
angeklagt und auf Bewährung verurteilt. Als Spitzensportler der ehemaligen DDR
stand er besonders im Fokus politischer Zuverlässigkeit.
Der Warnung eines Freundes verdankten wir 1960, ein knappes Jahr vor dem
Mauerbau in Berlin, die Flucht in die Freiheit; er riskierte seine Eigene. In
meinem Buch vom Jahr 2006 „Zufälle" Lebensfragmente, ist die Vorgeschichte
beschrieben, die zum Verlassen der Heimat führte.
Neuanfang
Alles an materiellem Gut hinter sich zu lassen, in die Fremde nur das bloße
Leben gerettet zu haben, schmerzte. Mehr noch, von allem und jedem abhängig,
oft nicht zu wissen, geduldet oder willkommen zu sein, verunsichert, mindert
das ohnehin angeschlagene Selbstbewusstsein. Sprachverständnisse erschwerten
es, sich nicht misszuverstehen. Dankbar waren wir den Menschen, ehemalige
Vertriebene oder sogenannte "Reingeschmeckte", die halfen, Fehler im Umgang mit
den Einheimischen zu vermeiden.
Die Heimat erzwungenerweise zu verlassen, bedeutet eben nicht nur, Geburtsort,
Vaterhaus und die Heimatsprache vermissen zu müssen. Soziale Identität und
Existenzangst vertieften die Trauer ums Verlorene.
Wie Horst Bienek formuliert, gibt die Heimat Kraft, greifbar als Ort oder in
Gedanken, in der Seele und im Kopf.
Heimat hat viele Gesichter.
Blicke ich heute, im fortgeschrittenen Alter und nach dem Tod meines Mannes,
Jahre zurück, habe ich gelernt, in mehr als einer Heimat zu Hause sein
zu können.
Kehrte ich nach langer Zeit der Entfremdung in einer anderen Heimat
gelegentlich in meine "erste" Heimat zurück, ist mir bewusst geworden, Heimat
eine andere Bedeutung zuzumessen.
So, wie sich Lebensformen, Lebensgewohnheiten der Gesellschaft im Allgemeinen
verändern, wandeln sich im eigenen ganz persönlichen Verhalten Einstellungen zu
Toleranz und Akzeptanz des ehemals Fremden, mit dem wir unverschuldet
konfrontiert worden waren.
Mit Sicherheit dazu beigetragen hat die weltweite Offenheit für jedermann,
andere Kulturen, Denkweisen und "Heimaten" kennen lernen zu können, hautnah
zuweilen Migration zu erleben, die das eigene tragische Schicksal relativieren.
Fazit.
Heute, nach fast 50 Jahren, ist meine Geburtsheimat für immer verbunden mit
Heimaterde, den Ruhestätten von Vater und Mutter und dem Geist der Erziehung in
meiner thüringischen Heimat.
Erkenntnis 1: Wie vor fast einem halben Jahrhundert, am Ende der Flucht aus der
Heimat, eine ungewisse Zukunft begann, weiß ich heute, dass jede Zukunft
ungewiss ist.
Erkenntnis 2: Was man nie besaß, kann man nicht weiter vermitteln.