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Glasbläser aus dem Osten
                                    von Anne Pöttgen
Ein Häuschen, ein Garten, Platz für ein Schwein – so sahen viele Arbeitersiedlungen im Neunzehnten Jahrhundert aus, wenn der Arbeitgeber ein Herz für die Menschen hatte, die er aus fernen Gegenden in seine Fabriken geholt hatte.

Die Industrialisierung

Zur gleichen Zeit, als am Flüsschen Ruhr das entstand, was später das Ruhrgebiet heißen sollte, regte sich auch weiter südlich an der Düssel die Baulust. Dort entstand das, was einmal die größte Glashütte Europas werden sollte. Im Ruhrgebiet fanden Menschen aus aller Herren Länder Arbeit und eine neue Heimat, an der Düssel kamen Glasbläser aus dem Osten Deutschlands zusammen.
Fernab vom kleinen Städtchen Gerresheim und erst recht vom damals auch noch kleinen Düsseldorf wurden sie zu einer verschworenen Gemeinschaft, die sogar eine eigene Sprache, das „Hötter Platt“ entwickelte. Mit dem rheinischen Dialekt, genauer dem ripuarischen, hatte es nichts zu tun. Auch heute noch wird es von einigen – jetzt Düsseldorfern – gesprochen. Es hat sich zwar im Laufe der letzten hundertvierzig Jahre verändert, hat aber immer noch keine Ähnlichkeit mit dem Rheinischen.
Waren es im Ruhrgebiet viele Gründer, deren Namen heute noch bekannt sind, so war es an der Düssel ein Mann:

Ferdinand Heye
“Ein junger, elegant gekleideter Herr durchstreifte im Frühjahr 1863 die Düsselauen in Gerresheim bei Düsseldorf. Er sprach beim Bürgermeister vor, um einen Grundstückserwerb vorzubereiten: “Ich brauche Bahnanschluss, billiges Land und brauchbaren Sand in nächster Nähe. Das habe ich hier gefunden. Da ich hauptsächlich Flaschen fabrizieren will, ist das Rheinland mit seinem großen Bedarf an Weinflaschen der richtige Platz.“  Ferdinand Heye, 25 Jahre jung, Sohn eines Glasfabrikanten aus Bremen, bekam was er wollte und errichtete 1864 die Glasfabrik Ferdinand Heye. (Quellenangaben im letzten Abschnitt.)
Das mit dem Sand war eine Fehleinschätzung, er ist zwar vorhanden in Gerresheim, aber nicht geeignet für die Glasfabrikation. Die Bahnstrecke gab es bereits seit 1838, Düsseldorf-Wuppertal war eine der ersten Bahnstrecken Deutschlands.

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Glasschmelzofen Steinkrug1838; Wikimedia Commons

Die Glasbläser fanden hier im Westen bessere Arbeitsbedingungen als in den kleinen Hütten im Osten.

Soziale Verantwortung
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Siedlungshäuser heute

Schon bei der Gründung der Glashütte hatte Ferdinand Heye dafür gesorgt, dass die Arbeiter menschenwürdige Wohnungen erhielten. Neben Kammer, Küche und guter Stube erhielten die kleinen Häuser eine „Dunkelkammer“, in der sich die Arbeiter, die an offenem Feuer bei 1400 Grad Celsius arbeiteten, erholen konnten. Jede Glasmacherfamilie erhielt ein Stück Land, auf dem sie Kartoffeln und Gemüse anbauen und auch Schweine halten konnte. Im Jahre 1900 wurden über 800 Schweine in Neu-Gerresheim gezählt. Sechs Backhäuser und zehn Räucherhäuser gehörten zur Ausstattung der vorbildlichen Arbeitersiedlung. Im Jahre 1903 lebten hier 5.438 Arbeiter mit ihren Angehörigen in 1.014 Wohnungen.

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Die Heyesche Badeanstalt

Eine evangelische Kirche, Schulen, eine Badeanstalt wurden von der Familie Heye nach und nach errichtet. Bevor es die Kirche gab, mussten die überwiegend evangelischen „Hötter“ zu Fuß nach Erkrath zum Gottesdienst laufen. In Gerresheim war man katholisch. Quellenangabe im letzten Abschnitt.

Integration?
Die Glasmacher und ihre Familien blieben allerdings isoliert, das Untere Gerresheim lag Welten entfernt von dem geschichtsträchtigen Städtchen Gerresheim mit seiner Stiftskirche aus dem dreizehnten Jahrhundert.
Die Arbeiter und ihre Familien wird das nicht beeinträchtigt haben. Im Übrigen hat ihre Arbeit dazu beigetragen, dass das Städtchen einen finanziellen Aufschwung nahm. Die „Hötter“ hatten ihre Vereine und Kneipen oder tranken ihr Bier zu Hause. Sie kauften ihr Bier, das in der „Nachtigall“ gebraut wurde, verlängerten es mit Wasser und Hefe und füllten es in Flaschen. Es hielt allerdings nur zwei Tage, dann explodierte die Flasche, was dem Bier den Namen „Kanonenbier“ eintrug. Es schmeckte aber, wie die „Glasmoker“ versicherten, ausgezeichnet. Eine Stimme aus dem Jahr 1907: „Wir haben keine Not gelitten, ein guter Glasbläser hat auch gut verdient.“

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Viele ihrer Häuser sind in Privathand und liebevoll renoviert. Quellenangaben im letzten Abschnitt.

Aufschwung
Die Glasfabrikation nahm einen schnellen Aufschwung. Produziert wurden in der Hauptsache Flaschen, neben den Weinflaschen auch solche für das Mineralwasser, das ebenfalls hauptsächlich aus dem Rheinland kam und kommt. Die Glasflaschen lösten die Steinzeugkrüge ab, die bisher als Behältnisse dienten.

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Inneres einer Glashütte; Foto Rolf Unterberg CC, by-sa

Frauen wurden nicht in der Produktion beschäftigt, sie arbeiteten unter anderem in der Packhalle für den Überseeversand. In den Anfangszeiten waren es noch Handwerker, die die schwere Arbeit des Glasblasens verrichteten. 1901 wurde in Amerika von Michael Joseph Owens die „automatische Glasblasmaschine“ erfunden, die aus den Handwerkern Fabrikarbeiter machte. In Deutschland wurde sie auf Betreiben der Familie Heye erst ab 1908 eingeführt, so wurde eine Übergangszeit geschaffen und dadurch wurden Massenentlassungen verhindert.
Auf einer Rechnung der Gerresheimer Glashütte aus dem Jahre 1913 ist zu lesen „Größte Flaschenfabrik der Welt“.

und Untergang
Die Nachkommen der Glasarbeiter sind längst echte Düsseldorfer geworden. Das kleine Städtchen Gerresheim ist seit hundert Jahren ein Vorort Düsseldorfs und fein herausgeputzt. Auch die nächste Arbeiterwelle – Italiener – hat hier längst Kinder und Enkel.
Nur die Glashütte ist im globalen Glücksspiel untergegangen. Geteilt, verkauft, wieder zusammengefügt und wieder geteilt und letzten Endes als Produktionsstätte aufgegeben. Mit ihr die letzten verbliebenen Glasmacher. Plastik und TetraPak hatten der Glasflasche den Garaus gemacht. Der Name ist vom Stammwerk in Gerresheim auf die Firma Gerresheimer Glas mit Sitz in Düsseldorf übergegangen, die mit Spezialglas weltweit erfolgreich ist.
Bis zuletzt hatten die verbliebenen Glasmacher und der ganze Stadtteil um den Erhalt der Hütte gekämpft. 2005 war endgültig Schluss. In einem Gottesdienst am Ende des Kampfes wurde ein Gebet in Hötter Platt gelesen.

Links
Ein Rundgang durch Gerresheim alt und neu
Ein Video zur automatischen Glasproduktion von Owens Illinois
Kritischer Blick auf die Werkssiedlungen
Alles über Glas
Inseldialekte mit Sprechproben, scrollen erforderlich

Vieles zitiert aus dem Fotoband Gerresheim, Günter Behr; Verlag der Foto-Drogerie Hillesheim, Düsseldorf, 1999, dort weitere Quellennachweise

 
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