von Ursula Fritzle Worte gibt es in dieser Geschichte nicht. Shaun Tan erzählt
ausschließlich in Bildern über Migration, beginnend mit der Reise in ein
fernes, unbekanntes Land. Er zeichnet, was dort geschieht, manchmal düster und
mit vielen skurrilen Einzelheiten.
Ein Mann verlässt seine Welt
Verzweiflung treibt ihn dazu, seine Familie allein zurückzulassen. Der
Abschiedsschmerz ist groß. Fremde heißt für den auswandernden Mann, dass ihn
dort keiner kennt und versteht. Er weiß auch, dass er nicht zurückkommen wird.
Deshalb hat er ganz oben in seinen Koffer ein gerahmtes Foto von Frau und
Tochter gepackt. Die Welt, die er verlässt, ist trostlos und grau. Die Straßen
der Stadt sind voller dunkler Schatten, die manchmal wie Drachenschwänze
aussehen. Wir ahnen, dass in dem Land, das der Mann verlassen muss, das Grauen
in Form von politischer Gewalt regiert. Oft erinnert man sich beim Betrachten
der Bilder an den Überwachungsstaat von Orwell. Überall wird man beobachtet.
Ankunft
Die Schifffahrt verlief unter schwierigen Bedingungen. Aber: Das neue Land wird
Arbeit für ihn haben. Die ersten Eindrücke: große Türme, eigenartige Kreise
voller Symbole, riesige Skulpturen und Schornsteine. Beim Betrachten denkt man
sofort an Manhattan. Viele Bilder wirken wie düstere, realistische Fotos.
(c) Carlsen Verlag
In Zitaten wird angespielt auf den Untergang der Titanic und auf Gustave Dorés
Lithografien. Im Nachwort löst der Autor einige dieser Rätsel. Die Hauptfigur
des Buches trifft auf andere Flüchtlinge. Sie erzählen sich ihre Geschichten.
In der neuen Welt kommen zwar viele Probleme auf sie zu, aber gefährlich ist
sie nicht.
In der Fremde
Die neue Heimat ist fremd und hat viel von einem magischen Reich. Der Mann muss
vieles meistern, schon bei der Einreise ist er nicht gut behandelt worden.
Seine Wohnung ist sehr klein, die Arbeit ist langweilig, aber er hat wenigstens
eine Chance, allerdings in einem Land, in das viele Einwanderer kommen. Deshalb
verliert der Einzelne hier seine Individualität. Man sieht Schiffe durch die
Luft segeln. Es gibt bizarre Tiere und Lebensmittel, bei denen man nicht sicher
ist, ob man sie wirklich essen kann. Aber der Mann lernt damit umzugehen, er
gewöhnt sich sogar an sein Haustier, das wie eine Mischung aus Maus, Katze und
Hai aussieht.
Ein Jahr später
Nach der schwierigen Anfangszeit kann seine Familie nachkommen. Dem Vater war
der Neubeginn im fremden Land besonders durch die mangelnde Sprachkenntnis sehr
schwer geworden. Er brauchte lange, um sich einzugewöhnen. Aber die kleine
Tochter lebt sich sehr schnell ein. Sie kann den Blick positiv auf das Neue in
der zweiten Heimat richten. Genau so wichtig wie diese Haltung ist die
Weltoffenheit des aufnehmenden Landes.
Der australische Autor und Illustrator Shaun Tan hat mit „Ein neues Land" eine
Hommage an die Flüchtlinge dieser Welt geschaffen. Der Mann erlebt sein
Schicksal exemplarisch für die Millionen von Migranten auf der Welt.
Im Reich der Fantasie
Tan zeichnet ganz realistisch, aber was er darstellt, stammt aus einem
Fantasiereich, er malt schwarz-weiß bis sepia, er strichelt und schraffiert
ganz fein, die Beleuchtung ist gekonnt gesetzt, man erinnert sich an alte Schwarz-Weiß-Filme.
Der Betrachter legt sein Tempo selbst fest, er kann an eigene Geschichten oder
Erzählungen in der Familie denken und sie in die ausdrucksstarken Bilder von
Shaun Tan verlegen. Kein Text treibt einen voran, man kann sich alle Zeit der
Welt lassen. Es spricht nur die Kraft der Bilder. Wortlosigkeit, die eigene
Vorstellungen erlaubt. Ist es ein Bilderbuch auch für junge Leser oder eher für
Erwachsene? Shaun Tan beschäftigt sich mit diesem Aspekt seiner Arbeit in dem
Artikel „Picture books: who are they for?" (Siehe Links)
Über den Autor
Die Homepage von Shaun Tan vermittelt einen wunderbaren Eindruck von seinen
Zeichnungen und Bildern und von seinen Intentionen als Künstler und Autor.
Screenshot aus der Website
Shaun Tan wurde 1974 geboren, lebt heute in Perth, sein Vater kam 1960 aus
Malaysia nach Australien. 4 Jahre arbeitete Tan an der „graphic novel". Er
sammelte zahllose Geschichten von Migranten und Einwanderern. In Australien
feiert er schon lange Erfolge. Das „Neue Land" hat auch in Europa mehrere
Preise bekommen. Das bei uns bekannte zweite Buch heißt „Geschichten aus der
Vorstadt des Universums". Darin zeichnet der Künstler Fantasiewesen, die für
das Fremde stehen.
Links Homepage von Shaun Tan mit vielen Bildern
Einen guten Eindruck zur Bilderwelt des Buches gibt ein Beitrag von Ulf Cronenberg
in seinem Blog Jugendbuchtipps.de
Ein Artikel von Shaun Tan: Picture books: Who are they for?pdf 9 Seiten dradio podcast zu Literatur aus Australien Leseprobe aus den „Geschichten aus der Vorstadt des Universums", dem zweiten
Buch von Shaun Tan, pdf, 14 Seiten