Mein Istanbul
                                    von Dr. Erna Subklew
Wenn ich an „mein" Istanbul denke, dann handelt es sich um die Zeit von ungefähr 1930 bis in den Zweiten Weltkrieg hinein. Seit zehn Jahren ist die Türkei Republik. Mustafa Kemal Pascha (Atatürk) hat ein beängstigendes Tempo eingeschlagen, um sein Land  zu reformieren.  

Daten zum Land

Zu dieser Zeit leben ungefähr 17 Millionen Menschen in der Türkei. Der Anteil der Minderheiten ist groß, wenn man bedenkt, dass damals noch über vier Millionen der Einwohner Christen waren, obwohl eine große Anzahl Griechen nach dem ersten Weltkrieg die Türkei verlassen hat.
Istanbul hat eine Million Einwohner. Es gibt nur wenige große Städte in der Türkei, keine ist so groß und so bekannt wie sie. Atatürk hat bereits Ankara zur Hauptstadt erwählt und die Verwaltung befindet sich dort.
Das hat aber der Größe Istanbuls keinen Abbruch getan und ihrer Bedeutung nicht geschadet. Noch ist sie der Mittelpunkt von Handel, Verkehr, Wissenschaft und Kultur, wie eigentlich auch heute noch.

Ein Blick auf Istanbul
Die Stadt liegt auf zwei Kontinenten, dazwischen der Bosporus. Der europäische Teil wird noch einmal durch das sieben Kilometer lange Goldene Horn getrennt in den vor allem von Türken bewohnten Teil des alten Istanbuls und dem vorwiegend von den Minderheiten bewohnten, so genannten europäischen, mit Galata und Beyoğlu.
Heute wäre die Trennung durch das Goldene Hornein ein zu vernachlässigender Faktor, damals aber hatte er Gewicht. Nur zwei Brücken führten über das Wasser, eine über das Goldene Horn, nicht weit von der heutigen Atatürk-Brücke entfernt und eine, die Galata-Brücke, in der Gegend des Zuflusses des Goldenen Horns in den Bosporus.
Auf der europäischen Seite gibt es zu der Zeit bereits die kürzeste Untergrundbahn der Welt und eine Straßenbahnlinie. Auch einige Buslinien verkehren schon. Das wichtigste Verkehrsmittel aber sind die Schiffe, Fähren und Boote. Ohne sie kann man weder auf den asiatischen Teil noch auf die zur Stadt gehörenden Prinzeninseln gelangen.

Die beiden Teile des „europäischen“ Istanbuls
Wenn ich den asiatischen Teil der Stadt vernachlässige, so deswegen, weil er für die meisten Bewohner des europäischen Teils nur eine Bedeutung hatte, wenn man zum Schwimmen fuhr oder aber die Bagdad-Bahn benutzen musste, um nach Anatolien zu fahren. Dort befindet sich der Bahnhof der Bagdadbahn. Aber sonst lag dieser Teil etwas abseits.
Die beiden auf dem europäischen Territorium gelegenen Teile unterschieden sich sehr voneinander:
Im südlichen Teil wohnen vor allem Türken, befinden sich die meisten Sehenswürdigkeiten des osmanischen Reiches, viele Moscheen, die Verwaltungsgebäude, die Museen, ist der frühe Sitz des Sultans; das Topkapı Saray, die Universität, der Basar, die Stadtmauer und noch viele andere Sehenswürdigkeiten..
Im nördlichen Teil befinden sich die Konsulate, die meisten ausländischen Schulen, die christlichen Kirchen so wie Dolma Bahçe, der späte Sultanspalast. Hier gibt es die Kinos, das Theater und hier wohnen vor allem die Minderheiten.

Als Beyoğlu noch Beyoğlu war
Eser Turel schreibt in seinem Buch „Beyoğlu Beyoğlu iken“ (Als Beyoğlu noch Beyoğlu war) von dem Stadtteil zu dieser Zeit: “Wenn ich mich recht erinnere, lebten hier besonders viele Griechen. Der Fischhändler war ein Grieche, der Gemüsehändler, der Bäcker, der Eierverkäufer und die Besitzer der großen Lebensmittelgeschäfte (eines hieß Ermis) und die Handwerker. Natürlich waren auch die Nachbarhäuser von Griechen bewohnt“..... „Nur der Obsthändler und der Zuckerwarenhändler waren Türken. Der Frisör dagegen war der Iraker Nova, die Kaldaunensuppe verkaufte ein christlicher Albaner, und die Innerein der Tiere ein muslimischer Albaner, der Milchmann aber war Bulgare“.
Und dies sind nur einige der Minderheiten, die in diesem Stadtteil lebten. In anderen Vierteln, beispielsweise rings um den Galataturm, lebten die sephardischen Juden, oder die Armenier und Angehörige anderer Nationen oberhalb vom Taksim.

Die Minderheiten
Hatten die Minderheiten im Osmanischen Reich bestimmte Rechte, so das Recht der eigenen Sprache, der eigenen Gerichtsbarkeit, eigener Schulen und einer ziemlich freien Religionsausübung, wurde ihre Freiheit in der Republik sehr eingeschränkt. Atatürks Ziel war es, einen Nationalstaat zu schaffen mit Türken als Bewohnern, die Türkisch sprachen.
Aber noch hörte man in diesen Jahren auf der „Grande rue de Péra“, der Istiklal Caddesi mehr Französisch oder Griechisch als Türkisch.
Bis zu dem Zeitpunkt, als Atatürk das Gesetz erließ, dass alle Kinder die türkische Grundschule zu besuchen haben, hatten die Minderheiten ihre eigenen Schulen. In Istanbul bestand danach allerdings noch immer die Möglichkeit, die weiterführenden Schulen der Minderheit zu besuchen. Auf Dauer aber wurde dadurch die Zahl der Muttersprachler sehr eingeschränkt.
 
Das heutige Istanbul
Eine besonders negative Auswirkung auf die Minderheiten hatten dann im Jahr 1942 die „Besondere Vermögenssteuer“, (die Varlık Vergisi), das Progrom vom Jahre 1955, bei dem in Istanbul griechische Läden geplündert und angezündet wurden und die Ausweisung von Hunderttausenden von Griechen ohne türkische Staatsangehörigkeit.
Heute leben noch ungefähr 2 500 Griechen in Istanbul, ungefähr 60 000 Armenier, und auch die Zahl der sephardischen Juden ist stark zurückgegangen, seitdem sie nach Israel auswandern können. Die Zahl der in Istanbul lebenden Christen beträgt keine 5 Prozent.
Aus der internationalen Stadt Istanbul ist eine türkische Stadt geworden. Dies allerdings nicht nur durch die genannten Ereignisse.

Weitere Gründe
Zwischen den Jahren 1960 – 1970 des vorigen Jahrhunderts begann die große Landflucht, weil die Menschen in ihren Dörfern keine Lebensgrundlage mehr fanden. Für Deutschland brachte sie die vielen türkischen Arbeitskräfte. Eine große Zuwanderung setzte auch in die türkischen Städte ein. Innerhalb weniger Jahre sank die Bewohnerzahl der ländlichen Gebiete von ungefähr 70 Prozent der Bevölkerung auf unter 40 Prozent. Gleichzeitig stieg die Gesamteinwohnerzahl der Türkei von 20 Millionen im Jahre 1950 auf fast 44 Millionen im Jahre 1980.
Heute hat Istanbul eine Einwohnerzahl von 12 Millionen, durch illegale Zuzüge könnten es auch mehr sein, der Zuzug erfolgt unkontrolliert. Die Türkei hat über 70 Millionen Einwohner.

Über Nacht
In der Türkei gilt ein Gesetz, dass ein über Nacht erbautes Haus, vier Wände, ein Dach, ganz gleich auf wessen Grund, nicht wieder abgerissen werden darf. Dies machten die Menschen, die im Dorf keine Arbeit fanden, sich zu Nutze und errichteten am Rande von Istanbul zunächst ein Haus. Dann holten sie andere Dorfbewohner nach. Es entstanden neue Orte um die ganze Stadt, man nennt sie Gecekondus (in einer Nacht erbaut). Sie verkörpern jeweils eine bestimmte Gegend der Türkei. So wohnen also beispielsweise die ehemaligen Bewohner Malatyas in einem Viertel zusammen, die von Antep in einem andern und immer so weiter. Es sind Dörfer, in denen man fast so lebt, wie daheim auf dem Dorf, mit den gleichen Sitten und Gebräuchen, dem gleichen Dialekt. Das Eigenartige ist, dass nicht die Dörfler sich der Stadt anpassen, sondern die Stadt dort ihren urbanen Charakter verliert.
Da der Staat keine Möglichkeit hat, den zuströmenden Menschen genügend Wohnraum zur Verfügung zu stellen, wird die nötige Infrastruktur nachträglich installiert, so weit das möglich ist.

Kağithane früher
Ein Beispiel der Veränderung von Istanbul dargestellt an einem ihrer Bezirke:
Wir lebten in unserer Istanbuler Zeit in Kağithane, einem nördlichen Stadtteil von  Istanbul, der zum Bezirk Şişli gehörte.
Zur Osmanischen Zeit war diese Gegend das Erholungsgebiet des Sultanhofes. Man baute schöne Häuser und erfreute sich der Wiesen und Bäume, machte Bootsfahrten  auf den Süßen Wassern von Europa und feierte dort seine Feste. Auch die in der Stadt wohnenden reichen Minderheiten benutzten die Gegend zur  Erholung.
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Alte Häuser

Nach dem Ersten Weltkrieg zerfielen diese schönen Holzhäuser. Auch die Minderheiten kamen nicht mehr so oft, außer an einem Tag im Mai, zu Hıdrellez. Da konnten wir noch erahnen, wie es früher gewesen sein mag.
Der Ort hatte zu dieser Zeit ungefähr 5 000 Einwohner. Und es gab einige Fabriken, wie das E- Werk, die Munitionsfabrik und einige kleinere Werkstätten.
Wir gingen am Sonntag oft über die von Kameldorn und einigen Bäumen bedeckten Hügel spazieren. Manchmal wanderten wir auch in ein anderes Dorf oder nach Eyüp, immer über unbewohnte Hügel.

Kağithane heute
1954 wurde der Ort für eigenständig erklärt. Im Tal und auf den Hügeln entstanden in  großer Anzahl Gecekondus-Viertel, die sich zwischen den bestehenden Gebäuden ausbreiteten. Im Jahre 1970 hatte der Ort bereits 145 270 Einwohner, 1980 waren es 222 977 Einwohner und 1997 bereits 314 795. Istanbul hatte zu dieser Zeit etwas über 9 Millionen Einwohner.
Neuere Zahlen liegen leider nicht vor. Heute dürfte die Bevölkerung sich der halben Million nähern. Das ist ein Wachstum von fast einer halben Million in sechzig Jahren.
Es ist der jüngste und am dichtesten besiedelte Bezirk mit 16 Stadtteilen. Da wo früher der Kameldorn wuchs, sprießen heute Häuser auf den Hügeln.
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In den vom Bürgermeister herausgegebenen Informationen zu diesem Bezirk steht: Von den früher hier verbreiteten Gewächsen ist fast nichts mehr übrig geblieben. Nur an der Quelle des Kağithane-Baches stehen noch einige Schatten spendende große Bäume und erinnern an das alte Kağithane, das einmal eine der schönsten Gegenden der Welt gewesen ist.

Links
Bilder Istanbuler Sehenswürdigkeiten.

 Ein Schiffsfriedhof im Goldenen Horn

Die Türkei vor den Toren Europas

 
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