Selbsthilfe in der Gesellschaft
                             von Margret Budde
Inzwischen ist die Selbsthilfe ein unverzichtbarer Partner im Gesundheitswesen geworden und ergänzt die professionelle Gesundheitsversorgung. Im Sozialgesetzbuch IX, § 29 ist deren Förderung vom Staat nach einheitlichen Grundsätzen festgelegt.

Historische Hintergründe
Durch die großen Erfolge der High-Tech-Medizin gelingt es mehr und mehr, Menschen selbst nach Unfällen und schwersten Erkrankungen, die früher tödlich endeten, das Leben zu retten. Was nicht bedeutet, dass man künftig symptomfrei leben kann. Immer mehr Erkrankte müssen lernen, mit diesen Beeinträchtgungen zu leben. Nach 1968 bringt der Wertewandel mehr Bürgerbeteiligung, wachsendes Selbstbewusstsein und aktive Auseinandersetzung mit dem Gesundheitswesen. Das Arzt-Patientenverhältnis verändert sich nachhaltig. Zusätzlich ist ein Zerfall der traditionellen sozialen Netze zu beobachten. Großfamilien sind kaum noch vorhanden, in denen man zu früheren Zeiten in Notsituationen Halt fand. Und Nachbarschaft bedeutet wenig in den anonymen Großstädten. Gegen solche Verluste setzen Selbsthilfegruppen ein neues Netzwerk. Im Vordergrund steht, mit der Krankheit zu leben. Dieses Engagement wird nicht ganz freiwillig ausgeübt, sondern aus Not und mit persönlichem „Leidensdruck".

Entstehung und Geschichte

In den 1960ern entstand ein neuer Gesundheitsbegriff, in dem die Eigenverantwortlichkeit des Bürgers angesprochen wird. Gleichzeitig begannen die Menschen, sich öffentlich zu ihrer Krankheit zu bekennen. Die besondere Form dieses Bürgerengagements liegt darin, dass sich ihre Ziele vor allem auf ihre Mitglieder und nicht auf Außenstehende bezieht.
Der Giessener Psychoanalytiker Michael Lukas Moeller behandelte seine Patienten aufgrund seiner Idee einer Selbsthilfemethode für Paare. Durch seine Mitbegründung der "Deutschen Arbeitsgemeinschaft Selbsthilfegruppen e. V." 1982 kann er als wichtigster Gründer der neuen Selbsthilfegruppenbewegung in Deutschland angesehen werden.
In dieser Arbeitsgemeinschaft sind heute die "Nationale Kontakt- und Informationsstelle (NAKOS)", die KOSKON für Nordrhein-Westfalen, das "Selbsthilfebüro-Niedersachsen" und die "Kontaktstelle für Selbsthilfegruppen Giessen" am Universitätsklinikum Giessen zusammengeschlossen.

Die NAKOS

1984 wird die "Nationale Kontakt- und Informationsstelle zur Anregung und Unterstützung von Selbsthilfegruppen (NAKOS)" gegründet und hat ihren Sitz in Berlin. Sie ist bis heute die wichtigste Anlaufstelle mit großen Datenbanken für Kontaktstellen, Organisationen und Gruppen der Selbsthilfe in Deutschland. Als ein Netzwerk von Fachleuten besonders in sozialen und gesundheitsbezogenen Einrichtungen gibt die NAKOS Hilfestellung über Fortbildungsmaßnahmen, stellt Fachmaterialien bereit und bietet umfangreiche nach unterschiedlichen Aufgaben gegliederte Adressverzeichnisse an. Mehrere Kostenträger wie öffentliche Hand und Sozialversicherungsträger unterstützen diese wichtige Arbeit zum Wohle der gesamten Bevölkerung.

Die Kontaktinformationsstellen
In der Bundesrepublik existieren fast 300 Kontaktinformationsstellen. Heute ist als wichtigste die NAKOS in Berlin als zentrale Schaltstelle sowohl für die Kontaktinformationsstellen in Städten und Kreisen als auch für die einzelnen Selbsthilfegruppen vor Ort zu erwähnen. In den Kontaktstellen arbeitet im Unterschied zu den Selbsthilfegruppen, in denen die allermeiste Arbeit ehrenamtlich und von Betroffenen erbracht wird, professionelles Personal themenübergreifend. Sie helfen bei der Gruppengründung und Raumsuche und beraten die Ansprechpartner in organisatorischen und finanziellen Angelegenheiten. Die Kontaktstellen sind Bindeglied zwischen Gruppe und allen übergeordneten Gremien, behördlichen Instanzen aber auch zum bundesweiten Städtenetzwerk. Die "Selbsthilfe-Ambulanz" an der Gießener Psychosomatischen Klinik war die erste Kontaktstelle für Selbsthilfegruppen in Deutschland.

Organisationen und ihre Förderung
Nach Schätzungen engagieren sich 2008 rund drei Millionen Menschen in Deutschland in 100.000 Selbsthilfegruppen. Einige Gruppen schließen sich örtlichen Dachverbänden, einige aber auch bundesweiten Organisationen wie z.B. Der Deutschen Leberhilfe oder der Deutschen Rheumaliga an. Seit 2004 sitzen ihre Vertreter als "sachkundige Personen" in allen Gesundheitsgremien von Stadt, Kreis und Land bis hin zum Gemeinsamen Bundesausschuss, dem höchsten Gremium der Selbstverwaltung unseres Gesundheitswesens. In den ersten Jahren ihres Bestehens wurden sie durch Modellprojekte des Bundes oder durch Kommunen der Städte und Länder gefördert. Nach dem Rückzug der Kommunen aus der Förderung verstärkte sich die chronische Unterfinanzierung der Selbsthilfegruppen erheblich. Zwar sind seit der Gesundheitsreform 2000 die Krankenkassen zur Zahlung verpflichtet. Jedoch ist ein Zuschuss nur für bestimmte Bereiche und im kleinen begrenzten Rahmen der jeweiligen Krankenkasse möglich.

Zunehmende Probleme
Die unterschiedlichen finanziellen Förderungen der Kontaktstellen durch die einzelnen Länder haben zur Folge, dass nicht überall gleiche Bedingungen für eine effektive Arbeit gegeben sind. In manchen Ländern ist ein fast flächendeckendes Netz mit Kontaktstellen eingerichtet. Jedoch in einigen Länder sind nur wenige oder in ländlichen Teilen oft gar keine Anlaufpunkte vorhanden. Somit fehlt es auch an Selbsthilfegruppen, denn diese können ohne eine unterstützende Kontaktstelle nicht existieren. Probleme bereitet den Gruppen die notwendige Strukturerhaltung und die Mitgliederentwicklung. Nahezu überall ist eine Überalterung, geringer werdende Bereitschaft, sich in Führungspositionen zu engagieren und zum Teil stark bürokratisierte Formen des Organisationslebens zu beklagen. Zusätzlich wird durch die zunehmende Professionalisierung bis hin zu Sitzungen des "Gemeinsamen Bundesausschusses" ein hohes Maß an Einsatz verlangt, dass nicht jeder leisten kann.

Selbsthilfe in der ehemaligen DDR

Zu DDR Zeiten wurde das Prinzip Selbsthilfe völlig in den privaten und kirchlichen Bereich abgedrängt oder musste als Therapiegruppe getarnt werden.
Treffen von Betroffenen galten als verdächtig, ja subversiv, und wurden entsprechend von der Stasi unterwandert und zur Auflösung gedrängt.
Daher ist es verständlich, dass die Selbsthilfegruppen in Ostdeutschland nach der Wende auf viel Zuspruch stießen. Zum anderen wird deutlich, wie wichtig staatliche Unterstützung zum Beispiel in Form von Selbsthilfekontaktstellen für Betroffene ist. Durch das Fehlen eines flächendeckenden Netzes von Kontaktstellen wie in "Westdeutschland"  ist ihr Einzugsbereich wesentlich größer. In den ostdeutschen Gebieten wird jedoch eine gute Unterstützung der Bevölkerung in anderen Selbsthilfeähnlichen Organisationen wie Arbeitslosenverbänden angeboten. Somit konzentrieren sich die Selbsthilfegruppen auf den gesundheitsbezogenen Bereich.

Selbsthilfe im Wandel
Durch Zuzug vieler Migranten haben sich in einigen Städten wie z.B. Berlin und Bielefeld Selbsthilfegruppen für Personen mit türkischer Sprache gebildet. In einer Gruppe in Unna  fühlen sich Erkrankte aus Portugal, Italien, der Türkei und Singapur wohl.
War in den ersten Jahren der Selbsthilfebewegung das Zusammenkommen in der Gruppe gefragt, um hier Informationen und Unterstützung zu finden, so tritt immer mehr das Internet in den Vordergrund. Selbst eine gute Informationsweitergabe der anerkannten Internetportale kann eine Selbsthilfegruppe nicht ersetzen. Der psychologische Wert einer individuellen Unterstützung wird weiterhin gefragt bleiben. Foren sind dazu nur bedingt geeignet allein schon aus Datensicherheitsgründen.
Bleibt zu hoffen, dass sich weiterhin einige Menschen engagieren, um diese Hilfe in Zukunft anbieten zu können. Hier gilt es, durch gezielte Hinführung zu verantwortlichem sozialen Handeln schon im Kindes - und Jugendalter den Grundstein zu legen.


Links


Nationale Unterstützungsstelle für Selbsthilfegruppen


Bundesministerium für Gesundheit

Gesetzesunterlagen über Selbsthilfeförderung

Umfangreiches Portal über Selbsthilfe


Hörbeitrag Selbsthilfe-Tagung 2010

Schnelle Hilfe übers Internet.

 
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