Die Arbeitsgruppe stellt sich vor
- Madeleine Dauteuille, Lyon -
 


Heimat und Fremde in meinem Leben

Fragebogen  Zum Fragebogen            Erkenntnisse  Persönliche Erkenntnisse und Erfahrungen

"Glückliche Menschen haben keine Geschichte", lautet ein französisches Sprichwort. Da ich bisher zu dieser beneidenswerten Kategorie gehöre, ist meine Biographie uninteressant. Doch zählt meine Familie seit 4 Generationen viele Lehrer unter ihren Mitgliedern und in dieser Hinsicht kann unsere Familiensaga meinen Heimatlern nahebringen, wie sehr der Beruf unsere Vorstellung von Heimat geprägt hat.
In Frankreich kann nämlich ein Volksschullehrer nur innerhalb eines "Départements", meistens seiner Heimat also, versetzt werden, während einem Studienrat, wie den meisten Beamten sowieso, im ganzen Land, manchmal weit weg von der Heimat also, eine Stelle angewiesen werden kann, die er akzeptieren muss, was der Fall gewesen ist für meinen Vater und für mich (Französische Zentralisierung!).

Die Wiege der Familie ist Burgund: dort haben meine Großeltern gelebt. Beide Großväter haben sich als Volksschullehrer (und infolgedessen als Stadtdirektor, besser gesagt, Dorfdirektor!) am Leben ihrer Heimat sehr aktiv beteiligt. In Burgund haben sich meine Eltern kennen gelernt, sind meine 3 Geschwister geboren und aufgewachsen. Auch beide Tanten und meine Mutter waren Volksschullehrerin und mein Vater war Deutschlehrer, also Studienrat. Als sein Gymnasium schließen musste (aus Mangel an Schülern), bekam er 1932 eine Lehrerstelle in Château-Thierry (Champagne), ebenso wie meine Mutter. Und die erste Wurzel, die sie 1933 in der neuen "beruflichen Heimat" geschlagen haben, war - ich. Wir wohnten zwar weit von Burgund (in Wirklichkeit kaum 500 km, aber für uns damals ohne Wagen fast im Exil), aber im Elternhaus lief es seinen burgundischen Gang weiter (Mentalität, Sprache, Essen, Gewohnheiten usw.) und die Nostalgie meiner Mutter war sehr groß, sodass ich von Anfang an eine doppelte Heimat geerbt habe.
Château-Thierry, mein Geburtsort, ist eine langweilige Kleinstadt, 100 km östlich von Paris, im (früher) schönen Marne-Tal. Mit 16 musste ich Familie und Heimat verlassen, um die Pädagogische Schule zu besuchen (eine Erbkrankheit!). Nach dem Abitur verbrachte ich noch ein Jahr in Lille in einer sog. "Vorbereitungs-Klasse auf Höhere Lehranstalten", um Studienrätin werden zu können statt Volksschullehrerin. Ich bestand die Aufnahmeprüfung und mein Vater schenkte mir einen Aufenthalt bei meiner deutschen Brieffreundin in Zweibrücken und einen Sommerkurs in Germersheim: so lernte ich Deutschland kennen. (Von da an betrachtete ich Deutschland als meine 2. Heimat).
Zwischen 1952 und 55 studierte ich Deutsch in Paris an der Pädagogischen Hochschule für Berufsfachschulen. Zum Studium gehörten 2 Aufenthalte in Deutschland: einen 7-monatigen verbrachte ich teils in Marburg, teils in Düsseldorf, und einen 3-monatigen als Praktikum: so sorgte ich als Verkäuferin für den Anstieg des Umsatzes im Kaufhaus Karstadt/Düsseldorf!
Inzwischen, 1954, hatte ich geheiratet. Mein Mann war Beamter bei France Télécom (früher PTT) und arbeitete in Paris, als ich 1955 meine erste Anstellung in Boulogne sur Mer (an der belgischen Grenze) bekam. Ich erwartete schon das erste Kind, musste aber diese Trennung hinnehmen: damals war es nicht möglich auszusetzen oder halbtags zu arbeiten. Ein Jahr später konnten wir aber beide in Lille eine Stelle bekommen. Nordfrankreich war für uns "die Fremde" - wir wollten nur ein Jahr dort bleiben. Doch wie meine Eltern schlugen wir dort Wurzeln, und zwar 3 Kinder, 1956 eine Tochter, dann zwei Söhne, 1957 und 1960.
In Lille war ich zuerst noch ein paar Jahre Französisch-Lehrerin (aus Mangel an Schülern, die Deutsch lernen wollten). Dann wurden Nachabiturklassen gegründet mit den Zweigen dreisprachiges Sekretariat, Buchführung, Betriebswirtschaft, Außenhandel usw. Nach einer Extraausbildung im Abendkurs am Goethe-Institut bestand ich die Prüfung der deutsch-französischen Handelskammer. Der Unterricht war interessant, zumal wir ein- oder zweimal im Jahr Klassenreisen machten, mit Betriebsführungen (so was war spannend: Siemens, Bayer, Mannesmann, Henkel etc.). So sind wir nach Berlin, München, Köln, Düsseldorf und Leipzig gefahren. Es war eine herrliche Zeit!
Doch wir wollten nicht in Lille bleiben, denn obwohl die Bevölkerung da "oben" besonders aufgeschlossen ist, war uns die Gegend immer fremd geblieben, von der Landschaft her und überhaupt. Lille war für mich Ausland! Ich musste immer weinen, wenn ich mein Marne-Tal verließ und wieder Flachland, Industrielandschaft und diesen schrecklichen Akzent vertragen musste. Deshalb sind wir 1975 nach Lyon umgezogen, sobald uns dort eine Stelle angeboten wurde.
Innerhalb einer Stunde verliebte ich mich in die Stadt: endlich hatte ich - mit 42 - eine Heimat gefunden: alles war mir heimisch hier, (obwohl ich die Stadt zum ersten Mal sah und niemand dort kannte). Die Gegend passte mir wie angegossen, wahrscheinlich, weil sie so verwandt ist mit Burgund, der Familienwiege, auch wegen der hügeligen Landschaft und wegen der Flüsse, und nicht zuletzt wegen des Lichtes.
In Lyon unterrichtete ich noch weitere 11 Jahre und organisierte Klassenreisen: nach Karlsruhe, in die Pfalz und nach Österreich. Mit den Lehrern von dort korrespondiere ich heute noch per e-mail.
Mit dem Wohnwagen, den mein Mann 1964 gebaut hat, haben wir mehrmals in Deutschland Urlaub gemacht. (bis Jena, Weimar, Erfurt, Berlin, Hamburg, Lübeck, Bayern, Schwaben, Schwarzwald, Moseltal, Nürnberg usw.).
31 Jahre lang habe ich ein sehr glückliches Berufsleben geführt. Ja, ich habe Glück gehabt denn heute gibt es immer weniger Deutschlehrer in Frankreich, weil nicht mehr so viel Deutsch gelernt wird.
Jetzt teilen wir unser Rentnerleben zwischen unserem Dorf in der Nähe von Lyon und Lyon selbst. Im Goethe-Institut blieb ich in Verbindung mit Deutschland, bis ich die deutschen Senioren im Internet kennen gelernt habe.
Ich bin Großmutter von 6 Enkeln und Enkelinnen zwischen 6 und 21 Jahren, deren Mütter Volksschullehrerinnen sind!
Jetzt sitze ich wieder auf der Schulbank, diesmal aber als Schülerin im Lerncafé und in der Arbeitsgruppe "Heimat und Fremde"! Es war höchste Zeit, denn man verlernt alles mit der Zeit: Dankeschön also an die Heimatler, die mir gegenüber keine zu strengen Lehrer sind!

top  Seitenanfang

Fragebogen zum Thema Heimat

Madeleines Antworten zum Fragebogen stehen hier.

Wie eine Französin in den Reigen*) der Heimatler gekommen ist.
*) Anmerkung des Übersetzers:
   Im französischen Titel hat Madeleine "farandole" geschrieben. Das ist ein provenzalischer Volkstanz.


Man kommt da so eines Tages hinzu, noch ganz ängstlich. Nur von weitem hört man, wie zum Tanz aufgespielt wird. Aber keiner kennt einen, und man kennt keinen. Man kommt ohne Begleiter oder Anstandsdame, einfach so.
Man weiß kaum mit dem Computer umzugehen, und dann soll man sich auch noch in eine website einschalten, die einem die Lyoner Senioren-Universität angegeben hat: Deutsche? Senioren? Was für ein Glücksfall! Nur zu, klopfen wir mal an!
Unsereiner hat ja keine Ahnung von den Bräuchen der Heimatler, und man reißt die Augen auf und bemüht sich zu verstehen, was die so tun und lassen. Ganz behutsam reiht man sich ein (bloß nicht auffallen!) und beobachtet genau, wie die da ihren Reigen tanzen. Aber bald sagt man sich: "Und wenn ich nun nicht mehr nur Zuschauer sein will?"
Und dann hört man: "Tanzen Sie, mein Fräulein? Darf ich bitten?"
Und dann geht's los, ja, so richtig ab dem Tag, wo Maria den Teilnehmern der Gruppe vorschlägt, mich in dem Reigen mittanzen zu lassen.
Könnt Ihr Euch vorstellen, wie glücklich ich da war?
"Sie können uns ja mal ein paar Zeilen schreiben", sagte dann Maria. Ziemlich leichtsinnig, denn sie hatte keine Ahnung, wie gerne ich lange Romane schreibe (auf Französisch natürlich, das heißt, jetzt alles übersetzen! Denn auf Deutsch, da fließen doch aus meiner Feder meistens nur ziemlich kurzgefasste Texte).
Dieter seinerseits ermutigt mich andauernd, wird mein Anwalt, wenn ich mit meinen Ideen Verwirrung stifte, übersetzt unermüdlich hin und zurück, Volkmar nimmt mich mit offenen virtuellen Armen in sein "Web-Land" auf, die Gruppe "Heimat und Fremde" nimmt mich (wie schmeichelhaft für mich!) gebührend in ihren Kreis auf, und so werde ich mal eben so "eingeheimatet", bevor ich noch einen Schnaufer tun kann.
Ihr werdet mir glauben, dass ich das nie bereut habe. Es wurde für mich ein fesselndes Erlebnis.
Im Laufe der Wochen, dann der Monate, begriff ich die Figuren dieses entzückenden Menuetts - Verzeihung, dieses deutschen Reigens, den die Gruppe da tanzt. Zuerst dachte ich nicht im Traum daran, mich fast zwei Jahre lang mit ein und demselben Thema zu befassen, aber dann fand ich Gefallen an der Sache, und angesteckt von der deutschen Gründlichkeit, zog ich auch noch einige meiner Germanisten-Freundinnen mit hinein.
Ich musste Arbeitsmethoden übernehmen, die mir ganz neu waren - die strenge deutsche Disziplin respektieren (ja, für mich als Gallierin war das eine Lern-Reise), und dabei musste ich auch noch die Computer-Technik lernen und obendrein auch mein Deutsch wieder hervorholen, das ich seit meinem Ruhestand ein bisschen vernachlässigt hatte.
Aber dank der freundlichen Hilfsbereitschaft von allen, insbesondere Volkmars, der immer bereit war zu helfen, und meiner beiden unermüdlichen Übersetzer Maria und Dieter, konnte ich Euch meinen Standpunkt aus Sicht einer Französin übermitteln, der sich doch oft von Eurem unterscheidet. Ich konnte Euch auch einen kleinen Teil meines Heimatlandes vorstellen, und konnte selbst die Unterschiede, die uns trennen, erfassen und begreifen: so wurde es ein fruchtbarer Austausch, voller neuer Erkenntnisse. Mir scheint, dass wir uns auf halbem Wege entgegen gekommen sind und dass wir alle dabei viel gelernt haben und dass uns das gegenseitig bereichert hat.
Obwohl wir uns bis jetzt immer nur "im Netz der Netze" begegnet sind, kommt's einem doch vor, als ob wir schon lange alte Bekannte sind.
Mein größter Wunsch ist jetzt, dass wir weiter so Hand in Hand arbeiten können.
Ja, jetzt warte ich darauf, dass jemand zu mir sagt :"Mein Fräulein, wie wär's mit dem nächsten Tanz?"

Übersetzung: Dieter Böckmann

top  Seitenanfang      back  Zurück       Wenn Sie Fragen haben: E-Mail an Madeleine Dauteuille