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Der Schriftsteller Andrzej Stasiuk im Interview mit der Zeitschrift "Literaturen" von Oktober 2000 (Auszug)
«Ich stehe am Fenster - und sehe Mitteleuropa»Ein Gespräch mit dem polnischen Schriftsteller Andrzej StasiukBeskiden heißen die Karpatenausläufer am südöstlichen Zipfel Polens. Dünn besiedeltes Hügelland. Mischwälder, Wiesen und kleine Bauernhöfe. Vor einer Holzkirche sitzen zwei alte Frauen am Straßenrand. Sie verkaufen den gleichen geräucherten Bergkäse, der den Touristen in der Krakauer Altstadt von fliegenden Händlern angeboten wird. Hierher allerdings verirren sich keine Touristen. Die Straße ist voller Schlaglöcher. Serpentinen führen in ein Tal hinunter. An einer verlassenen Hütte zweigt der schmale Weg nach Wolowiec ab. Ein Ortsschild gibt es nicht. Wolowiec besteht aus kaum mehr als zehn Häusern. Im neuesten wohnt Andrzej Stasiuk mit seiner Frau Monika Sznajderman und drei Kindern. «Die schönen Wälder hier sind alle erst nach 1945 aufgeforstet worden», erklärt Stasiuk und zeigt auf die grünen Berge hinter seinem Haus. «Nachdem man die ukrainischen Bauern gewaltsam aus dieser Gegend vertrieben hatte», fügt er nach einer Pause hinzu. Seit fünfzehn Jahren lebt der 1960 in Warschau geborene Stasiuk hier, und seit er 1992 mit dem Prosaband «Die Mauer von Hebron» debütierte, zählt er zu den bekanntesten polnischen Schriftstellern seiner Generation. Inzwischen veröffentlicht er seine Bücher in einem eigenen Verlag. Seine Erzählungen und Romane finden so viel Zuspruch, dass er mit ihnen «aus Liebe zur Literatur» die Herausgabe von ukrainischen und tschechischen Autoren finanzieren kann. Vor zwei Jahren erschien Stasiuks erster Roman «Der weiße Rabe» auf Deutsch. Jetzt liegt auch die Prosasammlung «Die Welt hinter Dukla» als Übersetzung vor, die in Polen als sein bislang wichtigstes Werk gilt. Dukla ist ein Kaff an der slowakischen Grenze, das auf Stasiuks Ich-Erzähler eine ungewöhnliche Anziehungskraft ausübt. Wieder und wieder fährt er nach Dukla, «um es bei unterschiedlichem Licht, zu unterschiedlichen Tageszeiten anzusehen». Stasiuks ebenso präzise wie lyrische Prosa ist ein Versuch über die Wahrnehmung, über das Sehen, Hören, Riechen und Tasten - und nicht zuletzt über die Erotik in einer heruntergekommenen Kleinstadt, in der die siebzehnjährigen Mädchen ihre Goldzähne blitzen lassen und die jungen Männer aussehen wie Pornodarsteller. Jan Bürger und Martin Pollack sprachen mit Andrzej Stasiuk in Wolowiec über seine schriftstellerische Arbeit, das Leben in der polnischen Provinz und die Zukunft Mitteleuropas. LITERATUREN Anfang der achtziger Jahre gehörten Sie zu den wenigen polnischen Kriegsdienstverweigerern. Der Preis, den Sie dafür zahlen mussten, war hoch. Sie saßen eine Zeit lang im Gefängnis. ANDRZEJ STASIUK Um Gottes Willen, sprechen wir nicht über meine Biographie. Wenn ich über diese Zeit nachdenke, fällt mir nichts mehr ein. Mich interessiert sie eigentlich nicht mehr. LITERATUREN Aber es ist doch erst zwei Jahre her, dass Sie ein Buch über Ihr eigenes Leben veröffentlicht haben, Ihren «Versuch einer intellektuellen Autobiographie», der in Polen sehr erfolgreich war. STASIUK Nun, in meiner lächerlichen Autobiographie geht es eigentlich um Polen und nicht um mich. Seit ich hier in den Beskiden wohne, kommt mir mein eigenes Leben immer mehr wie das eines Fremden vor. Manchmal frage ich mich, ob ich nicht selber eine literarische Figur bin, die von mir erfunden wurde. Was interessiert Sie denn konkret? LITERATUREN Die Zeit im Gefängnis scheint für Sie ein entscheidender Impuls gewesen zu sein, Schriftsteller zu werden. STASIUK Das war für mich tatsächlich ein dramatisches Erlebnis, eine Zeit der intensiven Selbstanalyse. Im Gefängnis wurde ich mit einer Wirklichkeit konfrontiert, die sich radikal von allem unterschied, was ich bis dahin kannte. Es war schockierend, überaus seltsam und gleichzeitig auch faszinierend. Vielleicht habe ich wirklich gerade damals literarisch zu denken begonnen. LITERATUREN Und Sie wurden zu einer exemplarischen Figur der polnischen Friedensbewegung... STASIUK Mitte der achtziger Jahre bin ich ein paarmal nach Machowa gefahren, wo der österreichische Wehrmachtssoldat Otto Schimek 1944 hingerichtet wurde - angeblich, weil er sich geweigert hatte, polnische Partisanen zu erschießen. Wie auch immer, zumindest war er für die polnische Friedensbewegung ein Mythos. Die ziemlich gefährlichen Touren zu seinem Grab waren für mich allerdings weniger eine politische Handlung als eine Frage der Gruppendynamik. Im Polnischen sagt man: Um in seinem Clan zu bleiben, würde der Zigeuner sich sogar aufhängen lassen. So war das damals. Unter meinen Freunden galt ich als der Gefängnisexperte. Sie sagten: Alter, du warst im Knast, du weißt Bescheid! Ich sollte die Rolle des Helden übernehmen - der kleine Schimek zum Anfassen. Das war ungefähr ein Jahr, bevor ich aufs Land gezogen bin. LITERATUREN Sie sind in dem Warschauer Stadtteil Praga aufgewachsen, einem traditionellen Arbeiterviertel. In Ihrem Roman «Der weiße Rabe» sprechen die Protagonisten ziemlich abfällig über diese Gegend. Da ist schon mal vom «anus patriae» die Rede.
STASIUK Das Bild Warschaus im «Weißen Raben» ist eigentlich nicht bösartig, sondern ganz einfach realistisch. LITERATUREN Und warum sind Sie aus Warschau weggegangen? STASIUK Mein Umzug in die Provinz war reiner Zufall. Ich sollte damals auf das Haus eines Freundes aufpassen, der für ein Jahr in die USA ging. Dann kehrte er erst nach zwölf Jahren zurück, und ich bin irgendwie hier geblieben. Die Berge habe ich allerdings schon immer geliebt. Ich komme aus einer bäuerlichen Familie, vielleicht habe ich das irgendwie in den Genen. Meine Familie stammt aus der Podlasie, das ist die Landschaft am Bug, östlich von Warschau. Wir sind wohl polonisierte Ukrainer. Mein Name ist typisch ukrainisch, polnisch müsste es Stasiak heißen. Auf den Friedhöfen in der Gegend, aus der meine Eltern kommen, findet man viele ukrainische Namen. Durch Zufall - oder war es Schicksal? - bin ich zu meinen Wurzeln zurückgekehrt. LITERATUREN Fehlt Ihnen hier draußen nicht der Austausch mit Kollegen, mit Künstlern und Intellektuellen? STASIUK Dass ich auf dem Land lebe, hat auch pragmatische Gründe: Man findet hier ideale Arbeitsbedingungen, es gibt diese dörfliche Langeweile, die man mit etwas ausfüllen muss, und das tue ich eben mit dem Schreiben. Der intellektuelle Austausch findet in meinem Kopf statt, beim Lesen. Außerdem klingelt andauernd das Telefon. Und ständig kommt jemand zu Besuch. Wahrscheinlich ist das intellektuelle Leben hier intensiver als in der Stadt, nicht so oberflächlich. LITERATUREN In jüngster Zeit beschäftigen Sie sich in Ihren Essays besonders intensiv mit den aktuellen Problemen Mitteleuropas. Liegt das daran, dass Sie hier am Rande der Karpaten leben?
STASIUK Zur slowakischen Grenze sind es gerade mal zehn Kilometer, zur ungarischen 150 und nach Baia Märe in Rumänien ungefähr 300. Hier kann man Europa wirklich fühlen. Für mich ist Rumänien näher als Warschau, und so bin ich eigentlich rein physisch auf das Thema Mitteleuropa gekommen. Bevor ich hier lebte, hatte ich überhaupt keine Ahnung von der Geschichte und den Problemen dieser Region. LITERATUREN Was Sie als Schönheit empfinden, ist doch das schlichte Ergebnis fürchterlicher Armut. STASIUK Natürlich. Aber auch wenn es zynisch klingen mag: Wenn man durch den Maramures oder Siebenbürgen fährt und diese 200,300 Jahre alten Dörfer sieht, dann wünscht man sich, dort würde sich nie etwas verändern. Mich verfolgt der Gedanke, dass Mitteleuropa für den Fortschritt einen sehr hohen Preis wird zahlen müssen. Es wird seine Identität verlieren. LITERATUREN Worin besteht diese spezifische Identität? STASIUK In diesen armen Gebieten pflegen die Menschen einen grundlegend anderen Umgang mit ihrer Vergangenheit. Die eigentliche Grenze zwischen Ost und West scheint mir im Umgang mit den Erinnerungen zu bestehen. Mittel- und Osteuropäer leben mit der Geschichte, tauchen ein in sie, in das historische Wissen. Und im Westen kümmert das keinen, dort wird nur im Jetzt und im Morgen gelebt. Diese unterschiedlichen Formen der Erinnerung möchte ich in einem neuen Buch untersuchen. LITERATMREN Wie? STASIUK Die Menschen im Westen bewahren vielleicht die materiellen Zeugnisse der Geschichte in Museen auf, aber in ihrer geistigen Sphäre beschäftigen sie sich nicht ständig mit der Vergangenheit. Das ist im Osten anders. Dort gibt es dieses ewige Sich-Erinnern, ein ewiges Lamento, ein ewiges Zurückblicken. Ich kann nicht beurteilen, was besser oder sinnvoller ist, aber man sollte doch auf die ungeheuren Unterschiede achten. (...) LITERATUREN In Ihren Büchern wird reichlich getrunken, was Ihnen den zweifelhaften Ruf eingetragen hat, fast immer besoffen zu sein. STASIUK Nun, ich trinke nicht mehr viel. Dass ich ein großer Säufer bin, ist nur ein Mythos - aber das geht schon in Ordnung. LITERATUREN Ihr verwegener Ruf hat Ihrer Popularität in Polen sicher nicht geschadet. Wissen Sie eigentlich, von wem Sie gelesen werden? STASIUK Gott sei Dank sind es überwiegend junge Leute. Meine Bücher sind allerdings so unterschiedlich, dass ich mit ihnen ganz unterschiedliche Menschen erreiche. »Der weiße Rabe» war insofern wichtig, als er für die jüngere polnische Literatur einen Weg gebahnt hat: Es war eines der ersten Bücher über Polen, die nicht von der Politik beherrscht wurden, was vorher fast undenkbar war. «Dukla» bewegt vorwiegend - das mag komisch klingen, aber es ist so - Frauen und empfindsame junge Männer. Und meine lächerliche Autobiographie hat mich unter Freaks, Außenseitern und Musikleuten bekannt gemacht, die sonst überhaupt kein Buch anfassen - dafür wurde mir sogar ein Preis für Popkultur verliehen. (...) LITERATUREN Sie schreiben Romane, Erzählungen, Drehbücher, Essays für Zeitungen, Sie haben einen eigenen Verlag - wie gelingt es Ihnen überhaupt, diese Schaffensgebiete miteinander in Einklang zu bringen? STASIUK Ich beschäftige mich mit so vielen verschiedenen Dingen, weil ich davon leben muss. Und dabei träume ich von einer Synthese, von einem großen Buch, das alles, was ich mache, zusammenfasst. LITERATUREN Wird das Ihr Buch über Mitteleuropa sein? STASIUK Eher nicht, das ist ein Projekt für die nächsten drei, vier Jahre, wenn es mich nicht zu langweilen beginnt. Zum einen wird es eine Geschichte der Unterdrückung sein, zum anderen soll es eine Dokumentation meiner Reisen werden. In der Darstellung der Gegenwart möchte ich ein Gefühl für die Vergangenheit vermitteln. Dafür will ich Rumänien und Bulgarien noch besser kennen lernen; und den Balkan, wenn sich die Situation dort beruhigt hat - ich bin kein Kriegsreporter und tauge auch nicht zum Helden. Außerdem plane ich ein Buch über einen ehemaligen Leiter einer LPG, den ich kennen gelernt habe. Für mich ist er eine moderne Hamlet-Figur: Er war am Aufbau des Kommunismus beteiligt und hat wirklich daran geglaubt. Er hat die Dörfer hier ruiniert und in Produktionsgenossenschaften umgewandelt. Dann kam der Zusammenbruch des Kommunismus und der Verlust all seiner Ideale. Mittlerweile lebt er wunderbar als Kapitalist und erhält die ehemalige LPG mit seinem eigenen Geld. LITERATUREN Wenn man mit dem Auto von Krakau zu Ihnen fährt, drängt sich einem die Frage auf, was mit den Dörfern hier in den Bergen geschieht, wenn Polen Mitglied der EU wird. STASIUK Darüber kann man nur spekulieren. Aber für die Menschen hier wird es sicher eine Katastrophe werden, denn sie werden vollständig überflüssig sein. Die Bauern wird es am härtesten treffen, denn ihre Lebensweise lässt sich eigentlich nicht reformieren. Das wird sehr lange dauern, und es wird sie ökonomisch und mental in den Ruin treiben. In Polen ist nach wie vor fast ein Drittel der Bevölkerung in der Landwirtschaft beschäftigt. Diese Menschen kann man nicht alle nur dafür bezahlen, dass sie aus dem Land ein riesiges Freilichtmuseum machen. Das wird eine Tragödie. Es ist eigentlich jetzt schon eine Tragödie. LITERATUREN Spiegelt sich diese Tragödie auch in Ihren Büchern wider? STASIUK Der Ort, an dem man lebt, verpflichtet einen zu etwas. Ich lebe hier in den Bergen, und deshalb beschäftige ich mich nicht mit der französischen oder spanischen Literatur. Für einen Schriftsteller ist es immer besser, aus dem Fenster zu schauen als ein Buch zu lesen. Und ich stehe hier am Fenster, und was ich sehe, ist Mitteleuropa. || © Literaturen 10||2000 |