Bundestagspräsident kritisiert Atomgesetz-Verfahren


Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) übt nach einem Bericht der Frankfurter Allgemeinen Zeitung scharfe Kritik an dem Handeln der Bundesregierung in der Frage der Verlängerung der AKW-Laufzeiten.

Nach seiner Kenntnis - wird er zitiert - sind die Laufzeiten nicht sachlich begründet, sondern schlicht ausgehandelt worden. Als sachlich falsch habe Lammert die Auffassung der Bundesregierung bezeichnet, dass die Atomrechtsnovellen nicht der Zustimmung des Bundesrates bedürfen.

Er halte das Vorgehen der Bundesregierung auch für politisch unklug. Aus politischen Gründen sei in der Kernenergiepolitik ein „breiter Konsens“ erforderlich, sagte er der FAZ. Nur weil er kein grundsätzlicher Gegner der Kernenergie ist, habe sich Lammert bei den Abstimmungen lediglich der Stimme enthalten.

Die Verlängerung der Laufzeiten entbehre jeder Plausibilität. Lammert äußerte sich fassungslos, auf welch oberflächliche Weise der Zusammenhang von verlängerten Laufzeiten mit der Förderung alternativer Energien hergestellt worden sei.

Die Beratungen am 28. Oktober im Bundestag seinen kein  „Glanzstück von Parlamentsarbeit“ gewesen. Der Bundestag habe sich – letztlich auf Druck der Bundesregierung – bei den verschiedenen Vorhaben zu wenig Zeit genommen und sei damit seinen „eigenen Ansprüchen nicht gerecht geworden“. Lammert bezog das, heißt es in dem Bericht,  nicht bloß auf die Aussprache im Plenum des Bundestages, sondern auch auf die vorangehenden Beratungen in den Ausschüssen.
(FAZ-NET Newsletter 01.11.2010)

Lammerts Kritik schlug hohe Wellen

Die Kritik des Bundestagspräsidenten fand ein gewichtiges Echo in den Medien. Es sei zu vermuten, dass es der Bundesregierung mit ihrem Schnellverfahren nicht nur darum ging, die eigene Kraft zu nutzen, sondern auch darum, anderen, in diesem Falle den Abgeordneten, keinen Raum für sorgfältige Arbeit, und sicherlich auch keinen für Widerstand zu lassen. heißt es in einem Kommentar der BERLINER ZEITUNG. Norbert Lammert müsse sich lange geärgert haben, ehe er diesen Schritt der öffentlichen Maßregelung der Regierung gegangen sei.
„Norbert Lammert hat es gesagt: Wer Entscheidungen, die gesellschaftlich so strittig sind wie die Atomkraft, nachhaltig machen will, der braucht mehr als Mehrheiten. Der braucht Akzeptanz. Und Akzeptanz braucht Zeit und die Bereitschaft zur Überzeugung. Im Falle der Regierung scheint es so zu sein, dass ihr die Überzeugungsarbeit entweder zu mühselig, oder zu aussichtslos erscheint. Beides ist gleich schlimm.“

Die MITTELDEUTSCHE ZEITUNG bemerkte: „Der Ausstieg aus dem Atomausstieg am Bundesrat vorbei ist in der Sache umstritten genug. Da wäre die Regierungsmehrheit gut beraten gewesen, nicht noch ein angreifbares Verfahren zu wählen. Gut, dass wenigstens einer aus ihren Reihen den Mut und Verstand hat, das auszusprechen."

Der Berliner TAGESSPIEGEL mahnt: "Wenn der Präsident des Deutschen Bundestages der Ansicht ist, dass sein Parlament seine Pflicht nicht tut, dann kann und muss er eingreifen. Und er kann und muss das nicht hinterher in Interviews tun, sondern in dem Moment, in dem das Übel geschieht. Lammert gibt seit geraumer Zeit seiner Sorge Ausdruck, dass die parlamentarische Demokratie draußen im Lande immer weniger geachtet und das Parlament sogar als Trickkiste verachtet wird, in der sowieso die Mehrheit macht, was sie will. Die Sorge ist berechtigt, und Lammert ist es ernst. Umso ernster muss er dann aber seine eigene Rolle nehmen."

Die FRANKFURTER RUNDSCHAU schreibt in ihrem  Komentar: „Und wenn ein Präsident eines westlichen Parlaments sich über Zustände beschwert, die einer parlamentarischen Demokratie seiner Meinung nach nicht angemessen sind, sollte sich keiner erdreisten, dies nicht zu beachten.“

Der SPIEGEL urteilt: „Lammert, der auf seine rhetorischen Fähigkeiten setzt, inszeniert sich wie kaum ein Parlamentspräsident vor ihm als der Unabhängige im eigenen Lager.“ Es klinge fast wie eine Generalabrechnung: Vom Druck sei die Rede, den die Bundesregierung bei der Verabschiedung der Atomgesetze in der vergangenen Woche auf den Bundestag ausgeübt habe. Ein Druck, der die Abgeordneten der Regierungsfraktionen dazu getrieben habe, sich zu wenig Zeit zu nehmen. „Der Bundestagspräsident kennt bekanntlich keine Freunde, wenn es um die Rechte des Parlaments geht. Das bekommt die Kanzlerin an diesem Montag wieder einmal zu spüren.“
BILD meint: Pikant ist, als Bundestagspräsident sei Lammert protokollarisch – nach dem Bundespräsidenten – die Nummer zwei im Staat, Angela Merkel die Nummer drei.

Regierungssprecher Steffen Seibert wies die Vorwürfe Lammerts zurück. Formal sei alles korrekt gewesen. Das Energiekonzept habe "das parlamentarische Verfahren vollkommen ordnungsgemäß und mit ausreichend Zeit zur intensiven Erörterung durchlaufen". Lammerts Kritik werde natürlich "sehr ernst genommen". Die Regierung habe aber "gute Argumente".
(Quellen: Berliner Zeitung, Spiegel, DLF-Presseschau)

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