Der schnelle Atomkompromiss und sein Echo

Mit einer Überrumpelungstaktik hat die Bundesregierung die Frage der längeren Laufzeiten für die Atomkraftwerke festgelegt. Zunächst hieß es, dass Energiekonzept der Regierung werde sorgfältig ausgearbeitet und am 28. September der Öffentlichkeit vorgelegt.

Nun ging es plötzlich ganz schnell, um die quälende öffentliche Diskussion ins Leere laufen zu lassen. Die Folgen für die Bürger sind noch gar nicht absehbar. Die Atomlobby hat milliardenschwere Erfolge erzielt

Der Kompromiss

Die Spitzen der Regierungskoalition legten ihren Kompromiss am späten Abend des 5. September unter Vorsitz der Kanzlerin fest. Danach werden die Atomkraftwerke in zwei Gruppen aufgeteilt: Die sieben ältesten Reaktoren dürfen acht Jahre länger laufen, die zehn jüngeren Meiler ab Baujahr 1981 sogar 14 Jahre.

Die Bundeskanzlerin beriet sich während der Verhandlungen telefonisch mit den Vorstandschefs der vier großen Energiekonzerne Eon, RWE, EnBW und Vattenfall.

Die Gewinner des Energiekonzepts der Bundesregierung sind die vier Atomstromkonzerne Eon, RWE, Vattenfall und EnBW. Die Aktienkurse gingen bereits in die Höhe

Die Einzelheiten

Die im Energie-Gutachten veranschlagten Nachrüstkosten von 20 Milliarden Euro bei zwölfjähriger Laufzeitverlängerung wurden auf weniger als die Hälfte heruntergehandelt.

Wenn die Betreiber wie bisher Reststrommengen von stillgelegten auf laufende Meiler übertragen, können Atomkraftwerke bis 2050 am Netz bleiben.

Die Regierung will keine zusätzlichen Vorgaben bei den Sicherheitsstandards machen. Das Thema Sicherheit wird in dem Neun-Punkte-Papier der Regierung gar nicht mehr erwähnt.

Die geplante Brennelementesteuer wurde um ein Drittel gekürzt und bringt dem Finanzminister nur noch 1,5 Milliarden jährlich ein, und das nur für sechs Jahre.

Eine vertragliche Regelung zwischen den Energieversorgern und der Regierung soll sichern, dass sich die Konzerne verpflichten, Sonderbeiträge zu zahlen, mit denen die erneuerbaren Energien gefördert werden, und zwar zunächst 300 Millionen Euro pro Jahr, für den Zeitraum 2013 bis 2016 jährlich nur noch 200 Millionen Euro.

Bis zum Jahr 2020 wird mit einem Anteil der Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien am Bruttostromverbrauch von 35 Prozent kalkuliert, heißt es in dem Konzept der Regierung. Bis 2030 soll der Ökostrom-Anteil auf 50 Prozent, bis 2040 auf 65 Prozent und bis zum Jahr 2050 auf 80 Prozent ansteigen.

Für Energiespar-Kosten wird beim Wirtschaftsministerium ein "Effizienzfonds" eingerichtet. Über die Staatsbank KfW sollen schon ab 2011 Investitionen in den Ausbau von Windparks in der Nordsee gefördert werden. Auch die Genehmigungsverfahren für Offshore-Windanlagen sollen vereinfacht werden.

Die Regierung will den Ausbau der Leitungsnetze beschleunigen, um den Windstrom von der Küste in die Ballungszentren zu leiten. Ein sogenanntes Zielnetz 2050 soll im nächsten Jahr dafür entwickelt werden.

Bei der Stromgewinnung aus Kohlekraftwerken will man die unterirdische Speicherung des Kohlendioxid entwickeln.

Die Regierung will den Bundesrat an der vorliegenden Entscheidung nicht beteiligen. Dies stößt in einigen Bundesländern auf Kritik. Sie sind für die Reaktorsicherheit zuständig.

Röttgen an Atom-Vertrag nicht beteiligt

Bundesumweltminister Norbert Röttgen ist als federführender Minister für Atomfragen nicht am Vertrag der Regierung mit den Energiekonzernen beteiligt worden, meldet die Münsterländische Volkszeitung. Teilnehmern der Sondersitzung des Umweltausschusses am 15. September hätten den Minister mit den Worten zitiert: „Ich habe an dem Vertrag nicht mitgewirkt, und es hat auch kein Vertreter des Umweltministeriums teilgenommen.“

Muss erst wieder das Verfassungsgericht entscheiden?

Die Mehrzahl von befragten renommierten Verfassungsrechtler, die sich mit der AKW-Laufzeitverlängerung Thema befasst haben, hält es für zwingend erforderlich, dass der Bundesrat der Vereinbarung zwischen Bundesregierung und Atomwirtschaft zustimmen muss. Das berichtet die Berliner Zeitung. Die Koalition will das neue Atomgesetz ohne die Länderkammer beschließen. Mehrere SPD-Landesregierungen haben bereits eine Klage in Karlsruhe angedroht. Inzwischen legte auch Bundesratspräsident Norbert Lammert (CDU) der Koalition eine Einbindung des Bundesrats nahe.

Brüderle: Bescheidener Gewinn

Bundeswirtschaftsminister Brüderle bezifferte in einem Interview des Deutschlandfunks die Gesamtbelastung der Energiekonzerne auf „eine Größenordnung um die 30 Milliarden“. Das ist genau der Betrag, den die großen Vier freiwillig als einmalige Zahlung angeboten hatten. Brüderle: „Unternehmen müssen ja unterm Strich wenigstens einen bescheidenen Gewinn machen, sonst sind sie auch wirtschaftlich ja nicht erfolgreich.“

Insgesamt wird nach einer Analyse des Öko-Instituts statt der geplanten 50 Prozent nur noch ein Drittel der zusätzlichen Gewinne abgeschöpft.

Kritik von vielen Seiten

Umweltverbände und Opposition kritisieren die Pläne der schwarz-gelben Regierung als unverantwortlich und als "Einknicken" gegenüber der Industrie. Für den Herbst planen Aktivisten Massenproteste.

SPD-Chef Sigmar Gabriel und die Grünen-Vorsitzende Claudia Roth kündigten am Rande des Atomgipfels an, bei einem rot-grünen Wahlsieg in drei Jahren würde alles rückgängig gemacht.

Die Rheinland-Pfälzische SPD-Landesregierung will vor dem Bundesverfassungsgericht gegen die Verlängerung der Atomlaufzeiten klagen, falls der Bundesrat bei der Gesetzesänderung nicht mitentscheiden darf. In einer Mitteilung von Ministerpräsident Kurt Beck und Umweltministerin Margit Conrad hieß es, die Energiekonzerne könnten enorme Gewinne einstecken, die Zeche müssten die Verbraucher sowie die Wirtschaft zahlen.

Auch die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen will juristisch gegen die Pläne der Bundesregierung zur Verlängerung der AKW-Laufzeiten vorgehen, wenn diese nicht dem Bundesrat zur Entscheidung vorgelegt werden. Gingen die Vorschläge in den Bundesrat, werde die rot-grüne Landesregierung "dafür sorgen, dass es in der Länderkammer keine Mehrheit für den Atomwahn der Regierung Merkel gibt", sagte Ministerpräsidentin Hannelore Kraft in einem Zeitungsinterview.

Schlechte Erfahrungen mit Brunsbüttel und Krümmel

Zur Einigung der Bundesregierung auf längere Laufzeiten der Kernkraftwerke erklärt der in Schleswig-Holstein für die Atomaufsicht zuständige Minister Emil Schmalfuß: "Ich sehe den gefundenen Kompromiss aus mehreren Gründen skeptisch. Aus sicherheitstechnischer Sicht vermisse ich, dass die Bundesregierung die Gewährung von Laufzeitverlängerungen nicht von der vorherigen Realisierung von sicherheitstechnischen Ertüchtigungsmaßnahmen abhängig macht. Dies gilt insbesondere hinsichtlich des von mir geforderten baulichen Schutzes von Altanlagen gegen terroristische Bedrohungen. Darüber hinaus halte ich es für falsch, auch alten, störanfälligen Kernkraftwerken eine pauschale Verlängerung der Laufzeiten zuzusprechen. Die schleswig-holsteinische Landesregierung hatte dies in der Vergangenheit - insbesondere mit Blick auf die Erfahrungen mit den Kernkraftwerken Brunsbüttel und Krümmel - wiederholt abgelehnt", so Schmalfuß.
Sollten die Pläne der Bundesregierung umgesetzt werden, bedeutete dies für die schleswig-holsteinischen Kernkraftwerke derzeit mindestens folgende Laufzeiten:

  • Kernkraftwerk Brunsbüttel bis zum Jahr 2020
  • Kernkraftwerk Krümmel bis zum Jahr 2033
  • Kernkraftwerk Brokdorf bis zum Jahr 2033

Künast: Schwarz-grüne Koalitionen in Gefahr

Grünen-Fraktionschefin Renate Künast stellt künftige schwarz-grüne Bündnisse grundsätzlich in Frage. "Wir haben immer gesagt, dass diese Atomenergiefrage natürlich die Möglichkeiten für Schwarz-Grün verschlechtert", sagte Künast im ZDF. "Für uns ist doch klar, gegen diese Atomenergie werden wir sämtliche Klagemöglichkeiten nutzen." Den Atom-Kompromiss bezeichnete Künast als Rückschlag: "Das ist die erste Revolution in diesem Land, die rückwärts geht."

Der Bundesverband Erneuerbare Energie (BEE) kritisierte in der Frankfurter Rundschau: "Jetzt ist die Katze aus dem Sack, und die schwarz-gelbe Regierung zeigt, wie rückschrittlich sie in Energiefragen ist." Die Umweltorganisation Greenpeace sprach von einem "schwarzen Tag für Deutschland". Die Laufzeitverlängerung sei ein reines Geldgeschenk der Regierung.

Der Naturschutzbund Nabu warf der Koalition vor, sie bremse die erneuerbaren Energien aus und sorge für einen wachsenden Atommüllberg.

Auch das Nachbarland Österreich kritisierte den Atomkompromiss als Enttäuschung und schweren Rückschlag. "Deutschland macht es sich damit leicht, den CO2-Ausstoß in Grenzen zu halten", sagte der konservative Umweltminister Nikolaus Berlakovich (ÖVP) laut der österreichischen Nachrichtenagentur APA.

Für den Bundesverband der Verbraucherzentralen sagte der Energieexperte Holger Krawinkel der Berliner Zeitung: "Ich bin sprachlos über das Ergebnis. Es ist dreist, dass die Abschöpfung nur ein Drittel der Gewinne betragen soll und die Atomkonzerne auch in anderen Fragen so billig davonkommen.

Stadtwerke im Nachteil

Sowohl kleinere private Energie-Unternehmen als auch Stadtwerke und die Öko-Strom-Branche kritisierten die Laufzeitverlängerungen für Kernkraftwerke. Albert Filbert, Chef des Darmstädter Versorgers HSE, sagte laut Berliner Zeitung: "Unsere Investitionen in Kraftwerke sind im Glauben auf politische Verlässlichkeit geschehen. Die Laufzeitverlängerung ist für Stadtwerke und kommunale Versorger eine sehr nachteilige Entscheidung." Filbert, der der 8KU vorsteht, einer Vereinigung acht großer Stadtwerke, sieht einen Milliardenschaden auf die kommunalen Versorger zukommen. Die Auslastung des Kraftwerksparks der Unternehmen sinke durch die längeren Laufzeiten deutlich. "Den Schaden für kommunale Versorger durch die zwölfjährige Laufzeitverlängerung schätzen wir auf 4,5 Milliarden Euro", sagte Filbert

Städtetag fordert Ausgleich

Der Deutsche Städtetag fordert Ausgleichszahlungen. Längere Laufzeiten für Atomkraftwerke dürften die Investitionen in umweltfreundliche Energieerzeugung nicht gefährden, sagte Städtetags-Präsidentin Petra Roth der Passauer Neuen Presse. Deshalb bräuchten die Stadtwerke eine Kompensation

Strom aus Braunkohle im Nachteil

Sachsens Energieerzeugung aus Braunkohle werde klar benachteiligt, sagte Wirtschaftsminister Sven Morlok (FDP) der Chemnitzer Freien Presse

Wettbewerb bleibt auf der Strecke

Auch der Bundesverband Neuer Energieanbieter, in dem sich kleine, private Konkurrenten zu den vier großen Versorgern organisieren, ist enttäuscht. Der Wettbewerb auf dem Erzeugermarkt bliebe weiterhin auf der Strecke, hieß es

Höheres Störfallrisiko

Nach Meinung des Reaktor-Experten werde die Laufzeitverlängerung das Störfallrisiko für die Atomkraftwerke erhöhen. Sicherheits-Nachrüstungen könnten die älteren der 17 Reaktoren nicht auf den Stand der neueren Anlagen bringen, sagte der Geschäftsführer des Öko-Instituts der Online-Ausgabe der Frankfurter Rundschau.

wp (Quellen: Süddeutsche Zeitung, Berliner Zeitung, Deutschlandfunk, Spiegel, Landesreg.Schleswig-Holstein)

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