Überraschung in Hamburg

Im Spätherbst 1989 reiste ich mit einer Hamburger Frauengruppe nach Leningrad. Am letzten Tag, dem 9. November abends in der Bar und dann beim Frühstück kursierte das Gerücht, die Mauer sei gefallen. Trotzdem frühstückten die ost - und westdeutschen Reisegruppen getrennt, wie an den Tagen zuvor. Man warf sich verstohlene Blicke zu. Sonst nichts. Keiner fragte. Wir konnten es nicht glauben. Erst nach der Landung in Hamburg, am 10. November, konnte ich es sehen und riechen: Die Stadt war voller Trabbis!

Wir hatten zwar Verwandte in Weimar und schickten Päckchen dorthin, trotzdem war Deutschland für mich als Kind und Jugendliche die BRD. Dass wir bei Kriegsende aus der Gegend um Neustrelitz (Mecklenburg-Vorpommern) geflohen waren, und ich erst mit 4 Jahren nach Hessen kam, spielte in meinem Bewusstsein keine Rolle. Die DDR war ein Land dessen Bewohner den Kommunismus gewählt hatten. Es war mir so fremd wie andere Ostblockländer auch. Das Streben nach Wiedervereinigung empfand ich als einen frommen Wunsch der Politiker, ohne dass ich einen Willen zu deren Realisierung verspürte. Auch in der Familie war es kein großes Thema, trotz des Aufstandes am 17.6. 1953

Erst allmählich wurde mir klar, dass viele Menschen unfreiwillig unter dem kommunistischen Regime lebten und auf eine freiheitlichere Regierungsform und Reisemöglichkeiten hofften. Im April1986 besuchte ich erstmals meine Verwandten in Weimar anlässlich einer Jugendweihe, just in den Tagen als der Reaktor von Tschernobyl in die Luft flog.

Glasnost und Perestroika unter Gorbatschow brachten bald darauf einiges in Bewegung, und die Massenflucht der Ostdeutschen in die westlichen Botschaften erweckte Hoffnung auf Veränderung. Schließlich führten die Demonstrationen und die friedliche Revolution zum Ende der DDR.

Leningrad heißt längst wieder St. Petersburg, und die Wiedervereinigung liegt mittlerweile 30 Jahre zurück. Noch immer spüre ich das Glück von damals, wenn ich heute die Bilder vom Mauerfall anschaue. Es war wie ein Wunder! 

Ein Bewusstsein für die Geografie Ostdeutschlands, seine historische Bedeutung und die Schönheit der Städte und Landschaften dort entwickelte ich erst richtig nach der Wiedervereinigung. Inzwischen habe ich Ostdeutschland viele Male besucht und kann die Tragik der Teilung Deutschlands nach dem Krieg viel besser verstehen.  

Ich bin mit großer Dankbarkeit erfüllt, dass diese Entwicklung möglich wurde und gebe die Hoffnung nicht auf, dass es tatsächlich zu einer Gleichheit der Lebensverhältnisse kommt, und sich die Menschen in Ost und West mit gegenseitigem Respekt und Achtung begegnen und alte Ressentiments aus den Köpfen verschwinden.

Erla Spatz-Zöllner

15.6.19

 

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