Die Wiedervereinigung und wie ich sie erlebte

Ganz klar hatten wir mitbekommen wie sich die politische Situation in den letzten Wochen und Monaten in der DDR entwickelte. Durch die anhaltenden Demonstrationen war die neue Regierung unter Egon Krenz gezwungen eine Entscheidung zu treffen um die Situation wieder in den Griff zu bekommen. Es war geplant die Bürger der DDR auf eine kontrollierte Grenzöffnung und einer damit verbundenen Reisefreiheit vorzubereiten. Am 9. November 1989 gab Günter Schabowski auf einer Pressekonferenz den Beschluss des Politikbüros zur Reisefreiheit für die DDR-Bürger bekannt. Auf die Rückfrage eines Journalisten, ab wann dieser Beschluss gelte, antwortete Schabowski nach einem Blick auf seine Papiere“ nach meinem Wissen sofort“.

Meine Frau und ich hatten diese Pressekonferenz gesehen, als Bundesbürger die Bedeutung und vor allem die Wirkung der letzten vier Worte von Schabowski auf die Bürger der DDR, jedoch nicht erfasst. So haben wir Grenzöffnung am 9. November 1989 im wahrsten Sinne des Wortes verschlafen. Erst als wir die Frühnachrichten im Fernsehen gesehen hatten und unsere Tochter, die seit 1981 in West-Berlin lebt, anrief, wurde uns klar, was sich in dieser Nacht ereignet hatte. Im TV sahen wir die Menschenmassen, die durch die geöffneten Grenzstellen nach Westen strömten. Die Freude dieser Menschen war durchaus verständlich, die allgemeine Euphorie wirkte, auf mich jedenfalls, etwas befremdend. Im Fernsehen war ein von Menschenmassen geflutetes West Berlin zu sehen. Auch an anderen Grenzübergängen unternahmen tausende DDR-Bürger einen ersten Ausflug in die BRD.
Täglich wurden weitere Übergänge geöffnet und der Verkehr flutete über die Grenze, zum Teil in Landkreise wo bisher kaum Verkehr herrschte.
Berufsbedingt war ich täglich mit dem PKW unterwegs und bereiste unter anderem den niedersächsischen Grenzbereich zur DDR. Hier hatte sich speziell im Wendland die Verkehrssituation über Nacht dramatisch verändert. In dieser, im Prinzip „verkehrsberuhigten“ Zone, herrschte nun reger Fahrzeugverkehr und es hing der“ Duft“ des Zweitaktgemischs der vielen Trabis dick in der Luft. Grenznahe Städte wie Lüneburg, Helmstedt, Lüchow oder Dannenberg waren verstopft, ein Parkplatz nicht zu bekommen. Diese Situation sollte sich in den nächsten Monaten kaum ändern.

Ostern 1990 stand ein weiterer Besuch bei unserer Tochter in Berlin an. Eine Fahrt durch die DDR ohne Grenzkontrollen mit stur dreinblickenden Grenzern und langen Wertezeiten, einfach toll. Nun waren spontane Besuche im Ostteil der Stadt Berlin möglich. Davon machten wir mehrfach gebrauch. Gegenüber West-Berlin wirken selbst die Bereiche Alexanderplatz, Friedrichstraße, oder der Gendarmenmarkt trist und wenig attraktiv. Das Warenangebot dürftig. Das Angebot in Gaststätten, wo vorhanden, war schmal aber gut und preiswert. Wie wir anlässlich eines ersten Besuchs in Potsdam feststellten, sah es dort auch nicht besser aus. In der Einkaufsstraße/Fußgängerzone war alles recht lieblos aufgemacht und mehrere Geschäfte hatten wegen „Inventur“ geschlossen. Gaststätten hatten vielfach nur an drei Tagen die Woche und nur von 11:00 bis 14:00 und 18:00 -21:00 Uhr geöffnet. Dies sollte sich jedoch recht bald ändern. Sehr bald sollte ich Gelegenheit bekommen mich intensiv mit der DDR zu beschäftigen.

Das Unternehmen bei dem ich seit vielen Jahren, im Außendienst, tätig war, übernahm bereits Mitte 1990 eine Produktionsstätte in der Nähe von Frankfurt/Oder. Produktion und Produkte waren soweit in Ordnung, nur eine Verkaufsabteilung gab es nicht. Die Ware wurde nach Vorgabe der Planungskommission an die Abnehmer verteilt. Nun musste dringend eine Verkaufsabteilung aufgebaut werden. Zusätzlich zu meinem bisherigen Aufgaben- , Reisegebiet sollte ich den Verkaufsaußendienst für diesen neuen Produktionsstandort mit aufbauen.
Sehr interessant entwickelt sich die Zusammenarbeit mit den vorhandenen, zum Teil langjährigen Mitarbeitern. In einem solchen, planwirtschaftlich geführten Betrieb gibt es im Prinzip keine Kostenrechnung, kein Controlling. Investitionen, Rohstoffe, Personal werden von einer staatlichen Planungskommission zugeteilt, die benötigten Finanzen zur Verfügung gestellt. Ebenso werden Planzahlen für die Produktion, die Verteilung der produzierten Ware an die Verarbeiter vorgegeben und entsprechend abgerechnet.

Nach der Übernahme des Betriebes musste die neue Geschäftsleitung diesen Standort betriebswirtschaftlich neu ausrichten, was zwangsläufig dazu führte, dass nur ein Teil der Belegschaft übernommen werden konnte. Selbst unter dem übernommen Personal herrschte noch lange eine gewisse Verunsicherung. Zum Aufbau der neuen Organisation waren ständig zwei Innendienstmitarbeiter aus einem der westdeutschen Standorte abgestellt, die das übernommene Personal in die neuen Strukturen einarbeitete. Ich selbst war jeden Monat eine Woche dort tätig.
Zum Erstaunen Aller gab es Kommunikationsschwierigkeiten, da für die gleiche Aufgabe unterschiedlich Begriffe oder Bedeutungen verwendet wurden. Weiter mussten wir feststellen, dass es in puncto Arbeitstempo zum Teil sehr unterschiedliche Vorstellungen gab. In den DDR-Betrieben gab es keine Hektik, man nahm sich Zeit. Nun brachten wir „Wessis“ ein ganz anderes Tempo in den Betrieb – so wie das in den vorhandenen Betriebstätten lief. Das führte zu weiterer Verunsicherung, man fühlte sich überfordert und ausgenutzt. Es war zunächst für sie nicht vorstellbar, dass dies das normale Arbeitstempo sein sollte. Kurzentschlossen wurde eine Mitarbeiterin für eine Woche in den „ruhigsten“ der drei westdeutschen Standorte beordert um sich über die dortige Arbeitsweise zu informieren. Ihre Aufgabe: Sich täglich zu einem anderen Mitarbeiter mit an den Schreibtisch setzen, um so einen Einblick in Organisation, Arbeitsablauf und Arbeitsweise zu bekommen. Wieder zurück war der Kommentar zu den Kolleginnen und Kollegen: „Sagt bloß nix mehr. Hofft, dass es hier nie so verrückt wird wie in D“.
Ein Teil Schwierigkeiten lag auch bei uns Westdeutschen. Uns wurde nun erst bewusst, mit welchem Tempo wir leben und arbeiten. Auf alle Fälle um einiges schneller als man es in der DDR gewohnt war. Wir überrollten unsere neuen Kolleginnen und Kollegen förmlich, was uns erst langsam bewusst wurde. Und es gab große Unterschiede in der Mentalität. Unser Selbstbewusstsein, unsere Selbstsicherheit und Entscheidungsfreude überforderte und verunsicherte die vorhandene Belegschaft.
Wir waren es gewohnt Verantwortung zu übernehmen und schnelle Entscheidungen zu treffen. Dies war der DDR-Bürger nicht gewohnt. Nun wurde es aber plötzlich von Ihm verlangt. Zunächst ein großes Problem. Bisher hatten sich Regierung bzw. die Partei um alles gekümmert, Eigenverantwortung war nicht gefragt. Doch diese Institutionen gab es plötzlich nicht mehr, man war orientierungslos. Zum Funktionieren erzogen sollten jetzt eigene Entscheidungen getroffen und Verantwortung übernommen werden. In allen Lebensbereichen war man nun für sich selbst, sein Tun und Handeln, der Organisationen des eigenen Lebens, selbst verantwortlich. Es stimmte das meiste aus dem bisherigen Leben nicht mehr. Die Verunsicherung war daher sehr groß.
1996 habe ich mich aus diesem Betrieb wieder verabschiedet. Meine Aufgabe war erfüllt, der Vertrieb lief bestens. Für den Außendienst waren neue Mitarbeiter aus den neuen Bundesländern eingearbeitet und erfolgreich tätig. Von sehr kompetenten Kolleginnen und Kollegen konnte ich mich verabschieden. Der Betrieb steht nach wie vor gut da.

Für mich war es eine spannende Zeit, den ich habe die Entwicklung in den neuen Bundesländern hautnah miterlebt. Viele interessante Männer und vor allem tüchtige, Frauen habe ich in diesen sechs Jahren kennengelernt. Diese Zeit hat auch mich geprägt. Ich möchte sie nicht missen.

hf.-16.06.2019

 

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