Ein Traum geht in Erfüllung

Bernauer Straße 1973
Bernauer Straße 1973

Grenzerfahrungen. Wenn man im Saarland direkt nach dem zweiten Weltkrieg aufgewachsen ist, hat man so seine Grenzerfahrungen. So kann ich mich z.B. daran erinnern, dass meine Mutter 1952 mit mir ihre Freundin in Zweibrücken besuchte. Zweibrücken, ehemals amerikanisch besetzte Zone, lag nur 20 km von der Grenze zum Saarland entfernt. Es ging darum, drüben „im Reich“, für weniger Geld und bei grösserer Auswahl einen Kindermantel zu erstehen und diesen dann „am Kind getragen“ ins französisch besetzte Saarland zu schmuggeln. Mir war strengstens eingebleut worden, dass ich keine vorlauten Bemerkungen an der Grenze machen durfte. Das Verbotene habe ich damals als Sechsjährige irgendwie gespürt. Die Grenzposten waren nicht weiter besorgniserregend, wir wurden freundlich begrüßt, an das Grenzerlebnis selbst habe ich deshalb keine Erinnerungen mehr. [Bild: Bernauer Straße 1973 Von Karl-Ludwig Lange CC BY-SA 3.0]

Um so krasser dann das Grenzerlebnis bei meinem ersten Besuch in Berlin-West. Wir waren als sportliche Jugendliche von der Bundesrepublik zu einer Berlinfahrt eingeladen. Die Zugreise ging über insgesamt 4 Grenzen: BRD/DDR und DDR/Westberlin auf der Hinfahrt und dasselbe umgekehrt auf der Rückfahrt. Bei unserem Zughalt am ersten Grenzübergang, in Bebra, war ich darüber entsetzt, daß die einheimischen Bahnhofsbesucher durch ein zusätzliches Gleis von unserem Zuggleis getrennt waren: es bestand ja die Gefahr mit uns Zugreisenden ins Gespräch zu kommen, Reden oder Zuwinken waren nicht erlaubt. Die Fahrt durch die DDR selbst zeigte keine grossen Unterschiede zu dem, was ich vom Saarland kannte: Es war alles ähnlich verkommen, verwahrlost und verschmutzt durch die Kohle- und Stahlindustrie. Der Mauerbau war ja auch erst zwei Jahre vorher erfolgt, und der Wiederaufbau im Westen hatte gerade erst angefangen.

Bei der zweiten Grenze DDR/Westberlin mussten wir den Zug verlassen und wurden wie die Tiere durch ein Gatter gescheucht, von den Grenzsoldaten grimmig angeschaut und angefaucht. Nie wieder habe ich so eine Angst erlebt. In Westberlin selbst haben wir dann glücklicherweise wunderbare Tage verbracht, im Zeltlager im Volkspark Rehberge übernachtet und das Grossstadtleben genossen. Zu unserem Aufenthalt in West-Berlin gehörte allerdings auch ein „politischer“ Teil, nämlich ein Besuch in Ostberlin. Vor unserem Grenzübergang nach Ostberlin wurden wir intensv „geschult“, wie wir uns zu verhalten hatten und dass wir mit niemanden ins Gespräch kommen durften. Zu meinem großen Bedauern, denn ich hätte sooo gerne gewusst, wie die Menschen in Ostberlin empfinden, wie sie leben, was sie denken. Noch ein unangenehmes Erlebnis ist mir in Erinnerung: Als Reiseproviant hatte mir meine Mutter Orangen mitgegeben, die ich im Netz verstaut hatte, leider gut sichtbar. Nun fiel mir auf, dass die Leute mir so seltsam nachschauten, wie wenn ich etwas verbrochen hätte. Des Rätsels Lösung: Orangen waren damals in der DDR nicht zu bekommen.

Erfahrungen mit der DDR. Dieser Besuch in Berlin hat mich so geprägt, dass ich mich schon schon während meiner Schulzeit mit Politik, Geschichte und besonders auch Berlin beschäftigt habe. Weiteren direkten Kontakt zur DDR hatte ich in der Folge nicht, da ich keine Verwandten in der DDR hatte. Die Entwicklung habe  ich aber über Fernsehen/Presse mitverfolgt. Ein besonderes Erlebnis war für mich ein Privat-Flug über Ostberlin und Westberlin im Jahr 1980, das mir ein amerikanisches Ehepaar ermöglichte. So konnte ich die Ausdehnung der Grenzen und Sperranlagen von oben  überblicken. 

Besonders in Erinnerung ist mir ein kurzer beruflicher Aufenthalt in Ostberlin, kurz nach der Wende. Es ging um das Thema Strahlenexposition. Die Tagung fand in einem damals noch militärischem und vormals im Besitz der Russen befindlichen Gebäude statt. Die Räume ohne Heizung, mit verrotteten Türen und Fenstern, ein elender Anblick. Dazu dann der spezifische Geruch der Heizungsanlagen. Unsere Gastgeber waren sehr stolz, dass sie sich in diesen „heiligen Hallen“ aufhalten durften, die ihnen bisher verschlossen waren. Wir Gäste aus Westdeutschland konnten dennoch kein einziges normales Gespräch mit den Gastgebern führen, wir hätten gar nicht gewusst, was gesagt werden darf und man wollte es auch vermeiden, den Gastgebern  „zu nahe zu treten“. Denn es war vermutlich noch „die alte Garde“ aktiv., Alle hatten offensichtlich noch nicht so richtig begriffen, was sich alles  geändert hatte.

Die Wende. Im Jahr 1989 dann das Wunder, denn wir glaubten nicht, dass wir das jemals erleben würden. Wir durften Zeuge sein einer unglaublichen Abfolge von Ereignissen, die sich letztendlich der Kontrolle aller Beteiligten entzog. Zunächst wurde in Ungarn die Grenzen zur DDR durchlässig , wir verfolgten es gespannt in den Nachrichten: Am Donnerstag, dem 09. November, verfolgte ich dann im Fernsehen um 18:57  das „Gestammel“ von Schabowski: Visa werden zur Ausreise erteilt und dann - nach Nachfrage - diese Ausreise ist ab sofort möglich. Ich konnte es nicht glauben, und den Leuten an der Grenze ging es ähnlich! Es dauerte dann doch mehr als eine Stunde, bis sich das alles herumgesprochen hatte, und  die Ausreiselawine in Gang kam. Für mich war diese friedliche Grenzöffnung das größte Ereignis meines Lebens. Niemals hätte ich gedacht, dass diese Grenze irgendwann mal aufgehoben werden könnte. Auch heute noch kenne ich kein Bespiel für einen ähnlichen friedlich verlaufenden Vorgang. Mir liefen die Tränen, die ganze Nacht verfolgte ich, wie die Leute mit Sack und Pack davon eilten und wie sie sich in den Armen lagen und vor Freude schrieen und tanzten.

Eindrücke, Erlebnisse: Noch heute ist der Mauerfall für mich das tiefgreifendste Ereignis in meinem Leben. Seitdem nutze ich jede Gelegenheit, wieder einmal Berlin einen Besuch abzustatten. Etliche Ausflüge in die ehemalige DDR habe ich auch gemacht, hatte aber nie Gelegenheit, so richtig „warm zu werden“ mit den Bewohnern. In unserer Mitte leben inzwischen viele ehemaligen Ostdeutsche. Ich selbst frage mich nicht mehr, ob jemand von „drüben“ ist, es interessiert mich nicht mehr und man muss es auch nicht mehr wissen. Das erinnert mich ein wenig an die Situation in meiner Kindheit, die auch längst vergangen ist: Wo automatisch gefragt wurde, bist Du evangelisch oder katholisch? 

Hoffnungen: Es ist richtig, dass die Lebensweise des Westens der DDR „übergestülpt“ worden ist. Es ist auch weniger einfach für die „Nehmenden“ wie für die „Gebenden“. Mir selbst mache ich den Vorwurf, dass ich nach der Wende nicht oft genug rüber gefahren bin und mich wirklich mit allem auseinander gesetzt habe. Meine Hoffnung ist, dass insbesondere die jungen Leute die Differenzen überwinden. Wir Saarländer haben es auch geschafft, dass die Franzosen nicht mehr unsere Feinde sind, und das glücklicherweise relativ früh nach dem zweiten Weltkrieg.

Meine Wünsche: dass man nicht so viel gegenrechnen soll, wo wir benachteiligt sind bzw. wo die Ostdeutschen zu kurz gekommen sind. Das beste ist Gespräch, Austausch, Kommunikation, Toleranz, gemeinsame Projekte, Zeitzeugendokumente nutzen. Nie werde ich vergessen, was wir anderen Völkern angetan haben mit unserem Nationalsozialismus und der Auslösung des zweiten Weltkriegs. In meiner Jugend glaubte ich und glaube es noch, dass unser Unrecht eigentlich nie wieder „gut“ gemacht werden kann und wir für die Ewigkeit gebrandmarkt sind. Uns würde immer noch Bescheidenheit und Toleranz gut anstehen.

Meine Befürchtungen: ich begreife es nicht, wieso sich wieder Rechtspopulismus und Nationalismus ausbreitet, auch innerhalb Europas. Wie dem Einhalt gebieten? Indem die Menschen ordentliche Lebensbedingungen haben und Zugang zur Bildung unabhängig vom finanziellen und gesellschaftlichen Status.

Barbara Heinze, Juli 2019

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