Bundestagsdebatten sollten modernisiert werden

Bundestagspräsident Dr. Norbert Lammert sieht die Notwendigkeit, die Parlamentsdebatten zu modernisieren, damit sie an Lebendigkeit und Spontanität gewinnen. Das hat aus einem Mailwechsel hervor, der nach einem Informationsbesuch der Gruppe ViLE-Lübeck beim Bundestag entstand.

Der Gruppenleiter von ViLE-Lübeck hatte an den Bundestagspräsidenten folgende Anfrage gesandt:

Die Anfrage

Sehr geehrter Herr Präsident,
kürzlich habe ich mit der Lübecker Gruppe des gemeinnützigen Vereins ViLE e.V. (Virtuelles und reales Kompetenz- und Lernnetzwerk älterer Erwachsener) an einem Informationsbesuch zum Deutschen Bundestag teilgenommen. Was ich erlebte, hat mich nachdenklich gestimmt.

Von den 620 Abgeordneten sahen wir höchstens 5 Prozent in der Plenarsitzung, obwohl an diesem Tag die Bundesjustizministerin zu einem so wichtigen Thema, wie der Pressefreiheit, sprach.

Die fehlenden Abgeordneten hielten sich offensichtlich in ihren Büros im Paul-Löbe-Haus auf. Was taten sie dort? Für die Vorbereitung gibt es doch ausreichend sitzungsfreie Tage und jeder Abgeordneter hat einen Stab von Mitarbeitern, der ihm behilflich ist.

Als im Plenum eine Abstimmung anstand, wurden die Bundestagsabgeordneten mit einem unangenehmen akustischen Signal in den Reichstag gerufen. Das geschah an diesem Tag dreimal. Sie gaben offensichtlich ihre Stimmen ab, ohne den neuesten Stand der Debatten zu kennen. Wer bei der Stimmabgabe fehlt, muss 100 Euro Strafe zahlen.

Überrascht hat mich, dass im Zeitalter der digitalisierten Welt die Redenbeiträge nicht aufgezeichnet, sondern per Hand mitgeschrieben wurden. Dabei wurden auch die kleinsten Zwischenrufe namentlich notiert, um sie der Nachwelt zu erhalten. Ist das überhaupt noch zeitgemäß?

Mein Eindruck: Eine Reform und eine Modernisierung der Parlamentsarbeit des Bundestages wären dringend erforderlich.
Über eine Stellungnahme zu meinen Bemerkungen würde ich mich freuen. Wir möchten sie auch auf den Internetseiten unseres Vereins www.vile-netzwerk.de veröffentlichen.

Mit freundlichem Gruß,
Horst Westphal

Die Antwort

Sehr geehrter Herr Westphal,
der Präsident des Deutschen Bundestages dankt Ihnen für Ihre E-Mail vom 2. Mai 2012. Leider kann Herr Prof. Dr. Norbert Lammert wegen der Vielzahl der ihn erreichenden Zuschriften nicht alle Schreiben persönlich beantworten. Er hofft auf Ihr Verständnis und hat mich gebeten, dies zu übernehmen.

Gestatten Sie mir zunächst zu der aus Ihrer Sicht mangelnden Präsenz der Abgeordneten im Plenum folgende Anmerkungen: Verbreitet herrscht die Vorstellung, der Plenarsaal sei der ausschließliche „Arbeitsplatz“ der Abgeordneten. Tatsächlich findet jedoch der überwiegende Teil der parlamentarischen Arbeit in den Fachausschüssen des Bundestages und in den Arbeitskreisen der Fraktionen statt. In einem mehrstufigen parlamentarischen Beratungsprozess werden hier Initiativen angestoßen, Probleme erörtert, Alternativen geprüft, Gesetzentwürfe diskutiert und Änderungen erarbeitet. Dieses lässt sich gut an der Anzahl der Sitzungen ablesen: In der letzten Wahlperiode fanden 233 Plenarsitzungen statt, jedoch 2728 Ausschusssitzungen. Wird eine Sache zur abschließenden Beratung und zur Abstimmung auf die Tagesordnung des Plenums gesetzt, ist der zeitintensivste Teil der parlamentarischen Arbeit erledigt.

Nur diese Arbeitsaufteilung ermöglicht eine effektive gesetzgeberische Tätigkeit. Die Plenardebatten geben der Öffentlichkeit die Möglichkeit, den Widerstreit der unterschiedlichen Positionen zu einem Thema nachzuvollziehen. Die Themen, die der Bundestag zu behandeln hat, umfassen eine große inhaltliche Bandbreite.

Die Arbeit im Bundestag und in den Fraktionen ist daher arbeitsteilig organisiert – anders könnte sie auch nicht bewältigt werden. Die einem bestimmten Ausschuss angehörenden Abgeordneten sind in der Regel Spezialisten in ihrem Fach. Sie haben sich in „ihre“ Sachgebiete eingearbeitet und sind mit den entsprechenden Fragen und Problemen vertraut. Ihre Expertise prägt maßgeblich die Positionierung ihrer Fraktion zu einer Sache. Ein Abgeordneter verlässt sich daher auf einem Gebiet, auf dem er kein „Fachmann“ ist, auf das Votum seiner zuständigen Fraktionskollegen.

An den Plenardebatten nehmen vornehmlich die für einen bestimmten Beratungsgegenstand zuständigen Fachpolitiker teil. Daher wechseln mit den Themen und Tagesordnungspunkten auch die Abgeordneten im Plenarsaal.
Das Plenum ist eben nicht der einzige und ausschließliche „Arbeitsplatz“ der Bundestagsabgeordneten. Die nicht im Plenarsaal anwesenden Parlamentarier erledigen in dieser Zeit weitere Aufgaben und Pflichten, die mit ihrem Mandat verbunden sind: Gesprächstermine mit Sachverständigen, Verbandsvertretern und Journalisten, der Besuch von Fachveranstaltungen, Mitarbeit in Parteigremien, die Betreuung von Besuchergruppen aus dem Wahlkreis, Gespräche mit Bürgern und nicht zuletzt die Beantwortung von zahlreichen Bürgeranfragen. Für weitergehende Informationen zu diesem Thema verweise ich Sie gerne auf die Broschüre „Blickpunkt Bundestag“ (siehe S. 10f.).

Ihre Überlegungen, wie Plenardebatten und Redebeiträge verbessert werden könnten, wurden hier mit Interesse gelesen. Der Bundestagspräsident sieht durchaus Bedarf, die Parlamentsdebatten zu modernisieren, vor allem damit sie an Lebendigkeit und Spontanität gewinnen. Für verbesserungswürdig hält er insbesondere die Regierungsbefragung nach Kabinettssitzungen und die Fragestunde. Außerdem würde er sich wünschen, dass im Plenum seltener ohne sorgfältig vorbereitete Manuskripte gesprochen würde und man am besten vom Platz aus debattierte, statt vom Pult aus Reden zu halten. Ihren Vorschlag, die Redebeiträge nicht zu stenographieren, sondern ausschließlich aufzuzeichnen, teilt der Präsident allerdings nicht. Ein stenografisches Protokoll ist stets umfassender, als es technische Aufzeichnungen sein können. So können beispielsweise Zwischenrufe eindeutig identifiziert werden. Es gibt keine Software, die in der Lage ist, all das aufzuzeichnen, was 620 Parlamentarier im Plenum gerade sagen oder tun.

Weiterhin wird auf diese Weise gewährleistet, dass auch diejenigen Zugang zu den Debatten erlangen, die keinen Fernseher oder Computer haben. Schließlich kann die Technik auch ausfallen oder fehlerhaft sein, sodass unter Umständen keinerlei Aufzeichnungen vorhanden wären. Die Stenografen selbst sind also nicht ersetzbar.
Sehr geehrter Herr Westphal, ich würde mich freuen, wenn diese Ausführungen für Sie hilfreich waren und verbleibe mit freundlichen Grüßen
im Auftrag
Gertrud Höfner

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